ADB:Stieglitz, Heinrich Wilhelm August
Johann St. (s. u.), wurde in Arolsen am 22. Febr. 1801 geboren. Sein Vater Jakob, ein vermögender jüdischer Kaufmann, schickte den 1814 getauften Sohn 1817 auf das Gothaer Gymnasium. Im Frühling 1820 bezog er die Göttinger Universität, wo er zunächst ohne Rücksicht auf ein Brotstudium in den verschiedensten Gebieten des Wissens umherschweifte. Aber väterliche Vermögensverluste drängten ihn endlich, ein festes Lebensziel zu erfassen. Bouterwek wies als bestes Heilmittel gegen die schon damals ins Unbestimmte greifenden Gelüste des Jünglings auf das Studium der Alten hin. Aber ein an sich ebenso unbedeutendes wie ungefährliches Abschiedslied bei einem Commers der Studentenschaft veranlaßte, daß St. 1822 von Göttingen relegirt wurde. Mit den in jenem Liede ausgesprochenen politischen Gedanken jedoch war es ihm keineswegs ernst, er sagt: „Ich habe wieder fortgeschäftert in dem, was mir zunächst oblag, immer überzeugt, daß, wie unser Leben nun einmal gestaltet ist, alle Entwicklungen nur langsam und allmählich gedeihen können, und daß ohne Gunst der Ereignisse kein Wollen stark genug, zum Ziele zu führen.“ In Leipzig, wohin er sich von Göttingen aus gewendet hatte, hörte St. bei Gottfried Hermann und Spohn. Ende des Jahres 1822 wurde er in die Willhöft-Sickmann’sche Familie eingeführt, wo die damals sechzehnjährige Charlotte Willhöft durch Macht des Gemüths und äußeren Reiz ihn gefangen nahm. Er knüpfte mit ihr ein Verhältniß an, das im Leben beider schicksalschwere Wendungen herbeiführte. Als Dichter war auch St. von der Strömung der Zeit erfüllt, die für Griechenland so eifrig Partei nahm; mit einem Freunde, Ernst Große, gab St. 1823 seine ersten „Gedichte zum Besten der Griechen“ heraus. Dadurch [178] litterarisch bekannt, durfte er in demselben Jahr auf einer Reise Jean Paul, Uhland und in Weimar Goethe begrüßen, der ihn einen hübschen Jungen nannte. Bedeutende Förderung seiner Studien und eine Erweiterung seines Gesichtskreises fand St. in Berlin, das er von 1824 an zum ständigen Aufenthalt wählte. Boeckh, Hegel und Raumer wurden seine Lehrer. 1826 promovirte er mit einer Abhandlung über die Fragmente eines römischen Dramatikers. An der königlichen Bibliothek und an einem Berliner Gymnasium wurde St. angestellt und konnte 1828 Charlotte Willhöft heimführen. So heiß auch beide die Vereinigung ersehnt, sie schufen sich mit ihrer Verheirathung eine nimmer versiegende Leidensquelle. Selbstquälerische Gedanken während der Ehe verdüsterten St. von neuem und stärker als früher; er gab sein Gymnasialamt auf, aber dichterische Thaten, auf welche er selbst so stark hoffte, daß er sein kleines Talent weit überschätzte, rangen sich nicht aus seiner Seele los. In den Jahren 1831–33 gab er die „Bilder des Orients“ heraus, an denen er lange gearbeitet hatte; die Sammlung enthält neben episch-lyrischen Gedichten eine Tragödie Selim III., an der auch Charlotte Antheil, schaffend wie ermunternd, nahm. Die vorgesetzte Aufgabe, die Völker von Indien bis Japan poetisch-divinatorisch zu schildern, blieb freilich ungelöst und bald waren aus dem Gedächtniß der Zeitgenossen diese Werke einer erkünstelten Dichtergluth verschwunden. Die „Stimmen der Zeit“ 1833 fanden bessere Aufnahme, so oft auch das Rednerische ins Prosaische fällt; politische Leidenschaft redet in diesen Stimmen der Zeit nirgends ein kühnes Wort. Der Zwiespalt zwischen Wollen und Können, eine weichliche Nachgiebigkeit gegen quälende Gedanken und heftige, sich wiederholende Blutkrisen verdunkelten sein Leben. Dazu kam, daß sich St. von dem Custosamte trennte, das er an der Bibliothek inne hatte: die mechanische Beschäftigung hatte den haltlosen Mann bisher immer noch gebunden. Völlig vergeblich unternahm er mit Charlotte Reisen nach Rußland 1833, nach Kissingen 1834. Allzu eng war leider seine Frau in das Leben des eitlen unkräftigen Mannes verstrickt. St. selbst spricht von einem zeitweisen Zustand völliger Umnachtung. Auch der Tod seiner Frau (29. Decbr. 1834, s. u.) beflügelte seine Phantasie oder stärkte seinen Charakter in keiner Weise. Gegenüber den erschütterten Zeitgenossen, die fast ausnahmslos an einen reinen Opfertod der Frau für ihren geliebten Gatten glaubten, konnte sich St. nur durch ein neues Leben und Dichten rechtfertigen. Er war es nicht imstande; ja er ermattet eigentlich nach der verhängnißvollen Kathastrophe noch mehr und mit keinem seiner Werke vermag er fortan über seine früheren Schöpfungen innerlich hinauszuschreiten. Das „Dionysosfest, eine lyrische Tragödie“, das 1836 erschien, war bereits früher entworfen und wurde nachmals nur umgedichtet. Es litt St. nach dem Tod seiner Frau nicht mehr lange in Berlin, er unternahm Reisen und betrachtete fortan ein unruhiges Wanderleben als Heilung aller kleineren und größeren Unglücksfälle. 1836–38 lebte er in München. Die „Bergesgrüße“ waren die Frucht seiner Wanderungen im Hochland. 1838 erschien der „Gruß an Berlin, ein Zukunftstraum“. Die litterarischen Zustände Berlins sind darin versificirt, die Grenzen eines localen Gelegenheitsgedichtes werden jedoch nicht überschritten. St. hatte inzwischen Deutschland verlassen, Italien nahm ihn gänzlich gefangen, besonders entzückte ihn Venedig, wo er seinen ständigen Wohnsitz aufschlug. Er dachte an epische Pläne, an einen Sebastiano Ziani; aber mit dem Alter immer weniger künstlerische Kraft und Klarheit fühlend, entwand und verwandelte sich ihm dieser Stoff wiederholt. 1839 besuchte St. Dalmatien. („Ein Besuch auf Montenegro“, 1841.) Mit Dr. Kolb bereiste er Neapel, Rom und Florenz, immer wieder ins geliebte Venedig zurückkehrend. 1846 erneuerte er den Besuch von Rom. („Erinnerungen [179] an Rom“, 1848.) Die maaßlose Melancholie, die ihre furchtbaren Schatten einst in Charlottens Seele geworfen hatte, schwand inzwischen dem thatlosen Mann, der seine Schwäche auch darin bewies, daß er einen großen Schmerz nicht bis an sein Ende innerlich wahrhaft festzuhalten wußte. St. erlebte noch die Blokade von Venedig 1848. Mitten in der politischen Aufregung starb er an der Cholera in Venedig am 23. August 1849; erst ein Jahr später erfolgte seine Beisetzung an der Seite Charlottens. Er hinterließ eine Selbstbiographie, die bis zum J. 1845 reicht, außerdem „Erinnerungen“ und ein lyrisches Epos „Venedigs Auf- und Niedergang.“ St. ist ein Formtalent, das nicht müde wird, über wenige Gedanken geschmeidige Verse in Menge auszugießen, ein leerer Dichter, der, im innersten kalt, durch künstliche Steigerung den Schein der Leidenschaft zu erzeugen sucht. Hinter glänzendem Firniß findet man weder Gedanken noch Gefühle. Am gefälligsten sind seine Reisebilder. Er war ein Lyriker und ohne jedwedes Talent zur schärferen Novellistik; das Drama vollends lag außerhalb seiner Begabung.
Stieglitz: Heinrich Wilhelm August St., ein Neffe vonCharlotte St. geb. Willhöft, seine unglückliche Gattin, wurde in Hamburg am 18. Juni 1806 als jüngste Tochter ihres Vaters, eines Kaufmanns, geboren. Noch im Kindesalter kam sie nach Leipzig, als der Vater den Wohnsitz dahin verlegte. Bis zur Confirmation besuchte sie die höhere Bürgerschule. Charlottens Hang zur Einsamkeit beförderte ihr frühzeitig und reichquellendes Innenleben, und die Selbstbestimmung ihres Wesens entfaltete sich für ein Kind überraschend, als sie an die Spitze eines Ausschusses von Mitschülerinnen trat, der die Entlassung eines schwärmerisch verehrten Religionslehrers, Professor Lindner’s, durch Eingabe eines Bittgesuches verhindern wollte. Lindner’s Anschauungen waren nicht ohne Einfluß auf das religiös durchdrungene Kind: ein dunkles Sehnen nach dem Jenseits, ein überreicher Drang aufopfernd durch ihr Leben oder ihren Tod Anderen Heil zu bringen, rührt aus Lindner’s religiösen Vorträgen her. Religionsschwärmerei jedoch ist aus den mystischen Anwandlungen Charlottens niemals geworden. Ihr schönstes Talent, mit dem sie später auch die finstern Stunden ihres Gatten erhellte, war die Gabe des Gesanges. 1822 lernte sie Heinrich St. in Leipzig kennen, wo dieser studirte. Die innigen Beziehungen, in die sie zu ihm trat, bilden fortan den Hauptinhalt ihres Lebens und den letzten Erklärungsgrund ihrer Handlungen. Bereits als Braut dachte Charlotte daran, sich für den Geliebten zu opfern, als diesen Freudigkeit und Spannkraft zu verlassen schienen. Nach fünfjähriger Brautschaft, während welcher der umfangreiche Briefwechsel mit dem Geliebten entstand (herausgegeben von Louis Curtze, Brockhaus 1859) erfolgte 1828 die Vermählung. Exaltirte Hoffnungen und Unkenntniß ihrer innersten Naturen brachten beide in die Ehe mit. Unerfreuliche Kleinigkeiten zerrütteten bald das überschwänglich erhoffte Glück. Gleich die ersten Jahre waren dunkel, mehr freilich durch des Gatten als durch Charlottens Schuld. Die Ehe blieb kinderlos, aber die Frau schien es nicht mit Schmerz zu empfinden. Sie litt unter der Seelenzerrüttung ihres Mannes um so mehr; ihr fiel für den in sich zusammenbrechenden Hypochonder die ganze Sorge zu. Tragisches und Burleskes mischt sich in den Vorgängen der sechsjährigen Ehe. Ohne innerlich gesundet zu sein, kehrten die Gatten September 1833 von einer längeren Reise ins Ausland zurück. Bei Charlotte stand es bereits fest, sich zu opfern um Heinrich durch eine ungeheure That zu erschüttern. Zwar begrüßte sie noch freudig jeden scheinbaren und zeitweiligen Aufschwung ihres Gatten, aber immer rascher verfinsterte sich ihr Gemüth, als St. 1834 die Stellung an der Berliner Bibliothek unterbrach. Charlotte sah nun ununterbrochen die Oscillationen ihres Mannes zwischen Titanentrotz und Apathie. Sie hoffte den Weg zu der Quelle, die für ihn und sie gemeinsam [180] alles heilen sollte, in ihrem Tod gefunden zu haben. Auf einer Reise nach Kissingen Herbst 1834 stellte sie dem Gatten seine geistige Wiedergeburt in Aussicht. Zurückgekehrt nach Berlin, wollte sie sich auf der Anatomie den Sitz des Herzens zeigen lassen. In den letzten Decembertagen führte Charlotte ihre That mit bewunderungswürdiger Ruhe und Klarheit aus. Während Heinrich am 29. December 1834 in einem Concert war und eben mit fröhlichen Gedanken nach Hause kam, erstach sie sich mit dem Dolche, den sie ihm einst als Braut gegeben hatte. Die That machte in den politisch stillen Tagen ungeheures Aufsehen. Charlottens Gemüth war miterkrankt in dem seelischen Zersetzungsproceß des Gatten; ihre Liebe hatte sich endlich sophistisch verzerrt. Mit kirchlichen Ehren wurde Charlotte am 1. Jan. 1835 bestattet, ein Schüler Schleiermacher’s, Prediger Jonas, sprach würdige Worte. Wenn Charlotte um ihres thatlosen Mannes willen gestorben ist, so starb sie umsonst; doch das schmerzliche Geschenk seiner Unsterblichkeit empfing Heinrich St. aus den Händen der unglücklichen Frau.
- Kirchenbuch zu Arolsen (auch Heinrich’s Eltern ließen sich 1819 noch taufen). – H. Stieglitz, Selbstbiographie, herausg. von L. Curtze, Gotha 1865. – L. Curtze, Briefe von Heinr. Stieglitz an Charlotte, Leipz. 1859. – Theodor Mundt, Charlotte Stieglitz, ein Denkmal. Berlin 1835. – Karl Rosenkranz, Neue Studien, 2. Bd., Leipz. 1875.