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Artikel „Sixtinus, Nicolaus“ von Georg Winter in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 438–441, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sixtinus,_Nicolaus&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 17:46 Uhr UTC)
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Sixtinus: Nicolaus S., hessischer Staatsmann, ist als Sohn des Rechtsgelehrten Regner S. (s. u.) am 15. Juli 1585 in Marburg geboren. Nachdem er seine akademischen Studien an mehreren deutschen Universitäten beendigt hatte, unternahm er eine längere Reise nach Frankreich, England und den Niederlanden, um die Rechtsgebräuche und Einrichtungen dieser Länder aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Nach seiner Rückkehr ließ er sich in Kassel als Advocat nieder und entfaltete [439] hier namentlich eine umfassende juristische und verwaltende Thätigkeit als Rechtsvertreter des großen adligen Stifts Kauffungen. Nach einiger Zeit aber beschloß er, sich ganz dem unmittelbaren Staatsdienste zu widmen und hat dann als Berather der Landgrafen Moritz, Wilhelm V. u. VI. und der Landgräfinnen Amalie Elisabeth und Hedwig Sophie eine sehr hervorragende Rolle in der Geschichte des hessen-kasselschen Landes gespielt. Im J. 1614 wurde er als Rath bei der kasseler Regierung angestellt und dann bald gleich seinem Bruder Wilhelm Burchard (s. u.) namentlich oft im diplomatischen Dienst verwendet. Im J. 1622 erhielt er die Stellung eines Vicehofmeisters und Aufsehers der hessischen Prinzen am Collegium Mauritianum. Politisch trat er unter dem Landgrafen Moritz nicht so sehr hervor, wie sein älterer Bruder. Dagegen eröffnete sich ihm ein bedeutend erweitertes Feld der politischen Thätigkeit, als nach der Abdankung des Landgrafen Moritz dessen Sohn Wilhelm V. die Regierung übernahm. Er trat in demselben Jahre der Abdankung (1627) in den Geheimen Rath des Landgrafen ein und entfaltete dort alsbald eine sehr bemerkenswerthe Wirksamkeit. Die Schwierigkeiten, unter denen der neue Landgraf die Regierung antrat, waren außerordentlich groß. Das Land hatte unter den Wirren der ersten Jahre des 30jährigen Krieges sehr zu leiden gehabt, obwohl Landgraf Moritz nicht unmittelbar an den Kämpfen der beiden Religionsparteien theilgenommen hatte. Und zugleich war durch den Streit mit Hessen-Darmstadt um die Erbschaft des 1604 verstorbenen Landgrafen Ludwig von Hessen-Marburg, der sich immer mehr und mehr zu Ungunsten der kasseler Linie entschieden hatte, ein großer Theil des bisherigen Besitzstandes der letzteren ernstlich in Frage gestellt. Die erste Regierungshandlung Wilhelm’s V. mußte es sein, daß er den Streit mit der verwandten Darmstädter Linie durch einen am 24. September 1627 abgeschlossenen Vergleich beizulegen suchte, in welchem er im großen und ganzen auf die Marburger Erbschaft verzichtete. Aber dadurch wurden die Schwierigkeiten keineswegs gehoben. Landgraf Moritz, der auch nach seiner Abdankung die Rechte als Oberhaupt des Hauses nicht aufgeben wollte, erhob Einspruch gegen den Vertrag, die Stände der durch die fortwährenden Durchmärsche kaiserlicher und ligistischer Truppen aufs äußerste erschöpften Lande wurden immer schwieriger in der Bewilligung der unentbehrlichen Geldmittel; dazu kam, daß auch die Abtei Hersfeld, welche bereits vorübergehend in hessischer Administration gewesen war, durch den Kurfürsten von Mainz für Erzherzog Leopold als designirten Abt in Besitz genommen wurde. Der Kaiser war erbittert, weil Landgraf Moritz, ohne direct am Kriege theilzunehmen, doch dem Herzoge Christian von Braunschweig durch Lieferung von Lebensmitteln und Gestattung von Werbungen mannigfachen Vorschub geleistet hatte, und unterstützte daher in jeder Weise die darmstädtische Linie in ihren Ansprüchen gegen Hessen-Kassel. Allen diesen Schwierigkeiten fühlte sich der neue Landgraf, der namentlich über den Unverstand und Mangel an Opfermuth bei den Ständen erbittert war, nicht gewachsen und dachte auch seinerseits gleich seinem Vater daran, sich der Regierung zu entäußern. Da waren es seine geheimen Räthe, unter ihnen Nicolaus S., welche in einem eingehenden Gutachten diesem Vorhaben des Landgrafen entgegentraten. Sie suchten die Stände zu entschuldigen: es habe denselben nicht am guten Willen, sondern nur am Vermögen, etwas zu leisten, gefehlt. Die fürstliche Ehre erfordere jetzt nicht Abdankung, sondern eine standhafte und unerschrockene Behauptung; der Staatshaushalt müsse durch sparsame Haushaltung am Hofe, eigene Aufsicht über das Kammerwesen, Ausscheidung der Civilliste aus sämmtlichen Einkünften und feste Bestimmung aller übrigen Landeseinkünfte in Ordnung gebracht werden. In der That ließ sich Wilhelm V. durch diese Vorstellungen bewegen auszuharren, und es ist bekannt, mit welchem [440] Muthe und mit welcher Standhaftigkeit er sich dann in den weiteren Verwickelungen des großen Krieges eine selbständige Stellung neben Schweden, dem er als einer der ersten und treuesten Verbündeten zur Seite trat, zu erringen wußte. Er fand in dieser Beziehung bei seinen geheimen Räthen opferwillige und nachdrückliche Unterstützung, doch läßt sich der besondere Antheil, welchen S. an den vielfachen Verhandlungen der folgenden Jahre gehabt hat, nicht im einzelnen feststellen. Wir wissen nur, daß er mannigfaltig zu diplomatischen Missionen benutzt wurde und u. a. im Verein mit dem Kanzler Reinhard Scheffer und dem Hofmarschall Hans Heinrich v. Günterod im J. 1635 einen Vergleich zwischen dem Landgrafen Wilhelm und dem Kurfürsten Ferdinand von Köln wegen Abführung des hessischen Kriegsvolkes aus den Kölnischen Landen abgeschlossen hat (abgedruckt in Lünig’s Reichsarchiv. Pars Spec. Contin. I. 3. Forts. S. 105). Wie groß das Vertrauen war, welches Landgraf Wilhelm V. in S. setzte, geht u. a. daraus hervor, daß er ihn in seinem Testamente zu einem der fünf Regenten ernannte, die er für den Fall seines frühzeitigen Todes der Vormünderin über seinen unmündigen Sohn, seiner Gemahlin Amalie Elisabeth, an die Seite stellte. In der That trat dieser vom Landgrafen vorgesehene Fall sehr bald ein. Wilhelm V. starb am 21. September 1637 im 36. Lebensjahre, kurz nachdem ihn der Kaiser wegen seiner erneuten Verbindung mit Schweden seines Landes entsetzt hatte. Sein ältester Sohn (Wilhelm VI.) war erst acht Jahre alt; den Bestimmungen des, allerdings weder vom Kaiser noch von Hessen-Darmstadt anerkannten Testamentes gemäß übernahm die hochherzige und umsichtige Landgräfin Amalie Elisabeth, die Reinhard Scheffer und Nicolaus S. zu ihren vornehmsten Berathern erkor, die Vormundschaft, die sie mit einer für eine Frau doppelt bewundernswerthen Energie und Umsicht unter den schwierigsten Verhältnissen fortführte. Denn nicht nur erhielt der Kaiser die Absetzung Wilhelm’s V. und damit die Ungiltigkeit der Nachfolge seines Sohnes und der eingesetzten Vormundschaft aufrecht, sondern er ernannte zum Administrator der kasseler Lande denselben eifersüchtigen und feindseligen Vetter, den Landgrafen von Hessen-Darmstadt, der schon bisher in der Schwächung der kasseler Linie zu Gunsten seiner eigenen das Hauptziel seiner Politik gesehen hatte. Und zugleich erschien der kaiserliche General Götz in Niederhessen mit der Drohung, die Execution in dem unglücklichen Lande zu vollziehen. Auf die Versuche, diese Schwierigkeiten durch Verhandlungen zu heben, an denen Nicolaus S. neben Reinhard Scheffer u. a. hervorragenden Antheil hatte, wirkten jetzt schon, wie später bei den allgemeinen Friedensverhandlungen, die wechselnden kriegerischen Ereignisse bestimmend ein. Schließlich aber gelang es doch der Landgräfin und ihren umsichtigen Berathern, im westfälischen Frieden nicht nur die Existenz des hessen-kasselschen Gebietes zu sichern, sondern sogar durch die Wiedergewinnung eines großen Theils der Marburger Erbschaft, durch den Erwerb von Hersfeld u. a. m. eine nicht unerhebliche Vergrößerung des Landes zu erringen. Mit hoher Befriedigung über die unter den schwierigsten Verhältnissen errungenen Resultate konnte alsdann Amalie Elisabeth 1650 die Regierung ihrem nunmehr volljährigen Sohne Wilhelm VI. übertragen. Auch unter ihm behielt S. die hervorragende Vertrauensstellung, die er nun schon unter drei hessischen Regenten eingenommen hatte. Er wurde im J. 1651 zum Rentkammerpräsidenten ernannt und damit an die Spitze der Finanz- und Wirthschaftspolitik Hessens gestellt. In dieser Stellung hat er sich um die wirthschaftliche Stärkung und Hebung des durch die namenlosen Leiden der Kriegsjahre tief daniedergeworfenen Landes die hervorragendsten Verdienste erworben. Diese letzte Periode seines reichbewegten Lebens ist offenbar die erfolgreichste und fruchtbarste gewesen. Das Land hatte am Ende des Krieges eine Kammerschuld von 1 Million Gulden, [441] welche allein zur jährlichen Verzinsung 50 000 Gulden erforderte. S., der seit 1651 alle staatswirthschaftlichen Reformen leitete, schlug vor, diese Schuld durch eine Tranksteuer allmählich zu tilgen. Außerdem drang er nachdrücklich auf eine starke Beschränkung des Hofstaats und der fürstlichen Hofhaltung; er machte dafür geltend, daß ein Geldanlehen bei dem tiefgesunkenen Landescredit völlig unmöglich, ein Abzug an den laufenden Besoldungen und regelmäßigen fürstlichen Ausgaben zur Justiz, zu milden Stiftungen u. s. w. höchst bedenklich sei. Er legte dann dem Landgrafen einen ohngefähren Etat der fürstlichen Ausgaben vor, der bis auf bessere Zeiten die jährliche Summe von 200 000 Gulden nicht überschreiten sollte (gedruckt bei Rommel, Geschichte von Hessen IX, 120–122). Hierauf schritt er zur Wiederherstellung und Verbesserung aller fürstlichen Regalien, der Bergwerke, Eisenhütten, Salinen u. s. w. und erreichte es dann in der That, daß nach einigen Jahren das arg zerrüttete Finanzwesen des hessischen Staates wieder in leidliche Ordnung kam. In dieser einflußreichen Stellung ist er bis zu seinem am 11. Februar 1669 erfolgten Tode verblieben. Aus seinem persönlichen Leben möge schließlich noch erwähnt werden, daß er im J. 1659 unter dem Namen des „Verschwiegenen“ als Mitglied in die „Fruchtbringende Gesellschaft“ aufgenommen wurde.

Vgl. Joh. Heinr. Stöckenius, Leichpredigt auf Nicolaus Sixtinus. Cassel 1669, 4°. – Ferner Rommel’s Geschichte von Hessen, Bd. 6–9, passim (s. Register). – Zahlreiche Acten im Marburger Staatsarchiv. – Strieder-Justi, Grundlage etc. XV, 27, 28.