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Artikel „Simler, Johann Wilhelm“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 352–353, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Simler,_Johann_Wilhelm&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 19:25 Uhr UTC)
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Simler: Johann Wilhelm S., schweizerischer Dichter des 17. Jahrh., geboren am 6. September 1605 zu Zürich als Sohn des Professor Rudolf S., studirte in Genf, wo er 1627 de perseverantia sanctorum disputirte, in Paris und Sedan, wurde 1629 zurückgekehrt Pfarrer in Uetikon, 1631 erster Pfarrer in Herliberg; da er das Predigen nicht vertrug, übernahm er 1638 das Amt eines Zuchtherrn und Inspectors der oberkeitlichen Alumnen im alten Hof zu Zürich und behielt die Leitung dieser theologischen Vorschule 32 Jahre lang bei, obgleich seine Stellung pecuniär wenig befriedigend war. Erst 1670 nöthigten ihn Alter und Podagra, sein Amt niederzulegen; er starb bald darauf am 14. März 1672.

S. spielt in der Litteraturgeschichte der Schweiz keine geringfügige Rolle. Er war der erste Schweizer Dichter, der sich zu den von Opitz und der fruchtbringenden Gesellschaft vertretenen metrischen und stilistischen Grundsätzen bekannte; der Localpatriotismus stellte ihn jenen kühnlich zur Seite; daß er in Deutschland wenig bekannt wurde, ergab sich nothwendig aus seiner ausgeprägt schweizerischen Mundart, die den tonangebenden nord- und mitteldeutschen Kreisen genügte, um ihn zum Barbaren zu stempeln. Nicht von vornherein glückte es S., sich auf Opitzens Bahnen sicher zu bewegen: die erste Ausgabe seiner „Teutscher Getichten“, die von 1648 bis 1688 viermal „ausgefertigt“ wurden, zeigt noch viele grobe Verstöße gegen die Wortbetonung, Verstöße, die zwar in den spätern Auflagen nicht gebessert, aber doch in später verfaßten Dichtungen vermieden wurden. S. ist formell nicht unbegabt: Sonette und Stanzen schrecken ihn nicht; den daktylischen Rhythmus handhabt er sogar gern und mit entschiedenem Geschick; seine Lieblingsform sind verwunderlicherweise kurze Vierzeiler aus Alexandrinern und kürzern Maßen (Reimstellung a b b a oder a a b b), für deren nothwendig epigrammatische Zuspitzung ihm das Talent völlig abging. Seine Dichtungen waren bis auf die „Ueberschriften“ für Gesang bestimmt; der Züricher Kirchen- und Schuldiener Andr. Schwilge u. A. steuerten Compositionen bei, die in die Ausgaben seiner Gedichte mit aufgenommen wurden.

Im Gegensatz zu seinen deutschen Vorbildern bevorzugt S. grundsätzlich und mit Bewußtsein die geistliche Poesie, neben der er wesentlich die Lehrdichtung gelten läßt; auch die übliche poetische Anwendung der heidnischen Mythologie verwirft der fromme Christ. Nun aber liegt seiner nüchternen Behaglichkeit hymnischer Schwung völlig fern. So bleibt er in Plattheit stecken; die 150 Vierzeiler, in die er den Inhalt der Psalmen zusammendrängt und denen er später gar 150 kurze Zweizeiler desselben Themas folgen läßt, sind unerträglich geist- und poesielos; sein gereimter Katechismus, sein langes Lied auf das Leiden Christi, all seine Bitt- und Festgesänge halten sich zwar von Geschmacklosigkeiten ziemlich frei, sind aber auf eine so niedrige poetische Tonart gestimmt, daß Erbauung und Gemüthserhebung uns dabei unmöglich scheint: ein geistliches Morgenlied in Daktylen macht eine rühmliche Ausnahme lediglich durch den volltönenden Natureingang, der S. gelingt. Denn poetische Naturauffassung, etwa in der Art, wie sie später Brockes nur viel detaillirter kund gibt, ist Simler’s glücklichste Gabe, und sie klingt in vielen Liedern auf die Jahreszeiten aus. Er findet selbst, daß Frühlingswelt und Poetengeister gut zusammen passen; der Schwalben Zwitzergeschwätze, die Terzen des Guckguck, den kunstvoll vierstimmigen Vogelsang (ein Thema übrigens, das schon dem Meistersang nicht fremd war), [353] die Fülle der Blumen und Kräuter schildert er mit behaglicher Freude und findet dabei auch einen wohlthuenden religiösen Grundaccord, den er leidet zuweilen durch moralische Nutzanwendungen häßlich verstimmt. Die Schätze des Sommers und Herbstes werden materieller gepriesen: man fühlt sich entfernt an Simler’s Landsmann Hadlaub erinnert. Der Winter, dem von allen Vögeln nur der Rabe und die melancholische Turteltaube treu bleiben, ist ihm „des Jahres Bauch“. Für die besondern Eindrücke der Alpen hat S. kein Auge; es heißt wohl einmal in einem Klagelied, das in Rist’s Art den verlorenen Frieden bejammert: „O Frid, o Frid, es rüffet dir das hochgebirg mit schall“, aber das ist nicht charakteristisch. Gelegentliche Naturbilder sind auch das Beste an seinen zahlreichen Hochzeitsgesängen, die sich mit Vorliebe auf albernen Etymologien (z. B. Rudolf von ῥόδον) oder noch alberneren Anagrammen aufbauen; daß die galanten erotischen Späße, die sonst in Hochzeitsliedern des 17. Jahrhunderts unvermeidlich sind, bei dem tugendhaft philiströsen S. fehlen, ist selbstverständlich, aber doch nur ein negativer Vorzug.

Die schwerfällig platte Stilart die Simler’s geistliche Poesie kennzeichnet und die oft ans 16. Jahrhundert gemahnt, tritt noch schärfer, wenn auch minder störend in Simler’s didaktischer Dichtung zu Tage. Seine „Tischzucht“, noch mehr seine „Beschreibung des ungesunden Gesundheittrinkens“ unterscheidet sich von den zahllosen ähnlichen Producten des Reformationsjahrhunderts lediglich durch den Mangel gröblicher Unflätigkeit und durch die langweiligen Alexandriner. Auch seine kurzen Klagen über Podagra, Flöhe und Baderfliegen, seine Haussprüche, seine zahlreichen Lieder, Segenswünsche und Spruchverse auf warme Bäder und Badhäuser, deren Heilkraft er am eigenen Leibe erprobt hatte, seine Ehelehre, sein Regentenspiegel passen mehr in eine frühere bürgerliche Zeit als in die modisch höfische Renaissancelyrik jener Tage; zumal die hausbacknen, höchstens durch ein unschuldiges Wortspiel gezierten „Ueberschriften“ schmecken tausendmal mehr nach Ringwaldt und Eyring als nach Logau. Das ist aber gerade für Simler’s, des Schweizers, litterarische Stellung bezeichnend: äußerlich schließt er sich der modernen eleganten Richtung an, so sehr es ihm irgend gelingt; innerlich wurzelt er und mit ihm seine ganze Heimat noch tief in einem Boden, den die Poeten Deutschlands nicht unbedingt zum Gewinn unserer Dichtung längst verlassen hatten.

Bächtold, Geschichte der deutschen Litteratur in der Schweiz S. 452 ff. Anm. S. 142 f.