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Artikel „Sillem, Garlieb“ von Wilhelm Sillem in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 324–328, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sillem,_Garlieb&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 19:25 Uhr UTC)
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Sillem: Garlieb (Garlev Syllm), Licentiat der Rechte und Bürgermeister, in Hamburg am 15. Juni 1676 geboren, † am 26. December 1732, ist der hervorragendste unter den vielen Männern seines wahrscheinlich aus dem Kedinger Lande stammenden Geschlechtes, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts dem Rath und den bürgerlichen Collegien Hamburgs angehört haben. Sein Vater war Hieronymus S., seit 1690 Senator und durch seine Heirath mit Margaretha Langenbeck, Tochter des Senators Garlev L. (Bruder des braunschweig-lüneburgischen Kanzlers Heinrich L., s. A. D. B. XVII, 662), ein Schwager des Bürgermeisters Meurer, des energischen Kämpfers für die Autorität des Raths in den erbitterten Parteikämpfen (s. A. D. B. XXI, 532f.), in welchen Rath und Bürgerschaft einander feindlich gegenüberstanden und in welche Sillem’s Familie mehr als andere verwickelt war. Als Garlieb S. zehn Jahre alt war, am 4. October 1686, endeten die beiden Führer der Volkspartei Schnitger und Jastram ihr Leben auf dem Schaffot. Schnitger’s Frau war die Schwester von Hieronymus S.; eine andere Schwester desselben heirathete 1688 den Bürgermeister Lemmermann, einen [325] der rücksichtslosesten Gegner Schnitger’s. Jakob S., Garlieb’s Vetter, saß 1686 noch im Rath, während der Licentiat der Rechte Nikolaus S. als Mitschuldiger Schnitger’s mit zehnjähriger Verbannung und hoher Geldbuße gestraft wurde. Auch Garlieb’s Vater hatte die Ungunst der Parteileidenschaft zu erfahren, als er in seiner Eigenschaft als Prätor auf Befehl des Raths einen Bürger wegen eines Münzvergehens hatte verhaften lassen. Von der Bürgerschaft wurde der Rathsherr 1696 abgesetzt, die Schritte des Senats zu seiner Wiedereinsetzung waren vergeblich. Erst im Jahr 1709 wurde S. rehabilitirt durch die kaiserliche Commission unter Graf Damian Hugo Schönborn, welche 1708 erschienen war, die städtischen Verwickelungen zu lösen. Aus diesen Erfahrungen erklärt es sich wohl, daß Garlieb S. im Jahr 1696, im Begriff nach zweijährigem Besuch des Akademischen Gymnasiums die Universität zu beziehen, nicht, gleich so vielen andern Gymnasiasten, seine akademische Reife durch eine lateininische Abhandlung über einen Classiker documentirte, sondern eine „Pflichtmäßige Antwort“ (Hamburg 1696. 4°) herausgab, in welcher er seine Eltern nicht ohne gelehrte Citate gegen „die imputirten gottlosen Calumnien des von Hamburg verfesteten und mit der Schandglocke nachgeläuteten vormaligen Gerichtsvoigtes August Wygandt“ vertheidigte. Da letzterer in seiner gedruckten Schmähschrift die Senatorin Hieronymus S. der Vergiftung eines Frohnknechtes beschuldigt hatte, u. dgl. mehr, so darf es nicht Wunder nehmen, daß der Sohn in der erregten Zeit mit einer solchen Vertheidigungsschrift die Vaterstadt verließ, um in Frankfurt und Halle Jura zu studiren. Nach der üblichen Reise durch Deutschland, Frankreich und die Niederlande in die Heimat 1704 zurückgekehrt, wurde er Advocat und 1708 von der Universität Franeker zum Licentiaten der Rechte ernannt. Als die Bürgerschaft sich mit der Bestimmung der genannten kaiserlichen Commission einverstanden erklärt hatte, daß zu den drei bisherigen Syndicis ein vierter zu ernennen sei, wurde S. am 8. September 1710, zwei Monate vor seines Vaters Tode, vom Rathe dazu erwählt. Namens des Senats hatte nun S. besonders an den Verhandlungen mit der kaiserlichen Commission und den bürgerlichen Collegien behufs Abänderung der städtischen Verfassung Theil zu nehmen. Er gewann das Vertrauen beider Theile und ihm wurde auch 1711 und 1712 der Vorsitz in der Sanitätscommission übertragen, die beim Ausbruche der Pest neu ernannt, sich sehr bewährt hatte. Im Jahr 1717 wurde S. Bürgermeister, seit 1723 präsidirender Bürgermeister. Die Wogen der bürgerlichen Zwistigkeiten hatten sich nach dem Hauptreceß von 1712, der die Verfassung festgestellt hatte, gelegt, aber das Mißtrauen gegen die Calvinisten und besonders gegen die Römisch-Katholischen war wieder erwacht, als der kaiserliche Gesandte Graf Fuchs im Jahr 1719 die erst 1693 im Gesandtschaftshause errichtete katholische Capelle erneuern ließ. Die drei an der Capelle angestellten Geistlichen aus dem Jesuitenorden hatten nämlich Anstalten getroffen, den Hausgottesdienst im Gesandtschaftshause zu einem öffentlichen umzugestalten. An einem Sonntage war vom Pöbel die Capelle spoliirt, endlich zerstört und das allerdings recht baufällige Gesandtschaftshaus auch niedergerissen worden, ohne daß der Rath zu rechter Zeit eingeschritten wäre. Kaiser Karl VI. verlangte, daß außer der Geldentschädigung die Stadt durch eine feierliche Deputation in Wien in actu publico kniefällig Abbitte leisten solle. Erst nach fünfthalb Monaten willigte die Bürgerschaft ein, die Deputation abzusenden, bestehend aus einem Syndikus und einem Rathsherrn. Da aber Karl VI. die Anwesenheit des präsidirenden Bürgermeisters gefordert hatte, so genügte jene Deputation nicht und es wurde eine zweite gesandt, in welcher S. den erkrankten Vorsitzenden des Rathes vertrat. Mit ihm begaben sich der Rathsherr Brockes, als Dichter des „Irdischen Vergnügens in Gott“ in der Litteraturgeschichte bekannt (s. A. [326] D. B. III, 345) und zwei Oberalte nach Wien. Im Mai 1721 traf die Deputation daselbst ein; im Juni erlangte sie eine Audienz beim Prinzen Eugen, der sie wohlwollend empfing und u. A. den Wunsch äußerte, Hamburg möchte den ihm persönlich bekannten General v. Schmettau als Stadtcommandanten annehmen. Die Stimmung am kaiserlichen Hofe war nicht zu Hamburgs Ungunsten, das sich im äußersten Norden in gefährdeter Lage befand. Dänemark hatte nämlich nicht aufgehört, seine angeblichen Hoheitsrechte auf Hamburg geltend zu machen. Daher lag dem Kaiser daran, Hamburg nicht in die Arme Dänemarks zu treiben. Dies betonte auch der Reichsvicekanzler, der einflußreiche Graf Friedrich Karl Schönborn, welcher, nachdem er in der Audienz alle Uebergriffe, die der Pöbel verübt und der Rath nicht abgewehrt, aufgezählt, und der Deputation vorgehalten, daß der Kaiser aus „Oesterreicbischer Clemence und politischen rationes Gnade vor Recht ergehen lasse wolle“, hervorhob, „der Kaiser lasse sagen, die Stadt möchte mehr auf Ihro Kaiserliche Majestät als auf übrige Puissancen sehen und versichert sein, daß Ihro Kaiserlicher Majestät Arm lang und stark genug wäre, die Stadt wider alle ungerechte Vergewaltigung zu schützen“. Dies war freilich eine gnädige Versicherung, allein der kaiserliche Schutz hatte doch der Stadt nicht genügt gegen die neuerlichen Plackereien Dänemarks, des schwedischen Generals Steenbock und des Fürsten Mentschikoff. Am 27. Juni nahmen Prinz Eugen und Graf Schönborn, vom Kaiser dazu verordnet, die Deputation der Hamburger Abgesandten im untern Gartenhaus des erstern, im heutigen Belvedere an, so daß nun die Deputirten zum Handkuß beim Kaiser vorgelassen werden konnten. Ehe sich dieser letzte Act vollzog, hatte die Deputation noch eine Audienz beim Grafen Windischgrätz, der als „Justitiarius“ ihnen kund gab, „die Stadt hätte verdient, von Grund aus vertilgt zu werden“. So günstig nun auch im übrigen die Verhandlungen verliefen, so trat doch auch eine neue Widerwärtigkeit für Hamburg ein: Prinz Eugen hatte nämlich aus Regensburg erfahren, „daß jetzt eines gewissen Edzardus’ (Sebastian Edzardus, s. A. D. B. V, 652) in Hamburg Schmähschriften nun zugleich Reformirte und Evangelisch-Lutherische in Hamburg erbitterten“. Deswegen sei aus Regensburg ein hartes Schreiben an den Rath abgegangen. Eugen sprach, wie S. an den Rath schreibt, seine höchste Verwunderung aus, daß die Stadt Hamburg sich immer neue Verdrießlichkeiten unnöthiger Weise zuzöge. Am 3. Juli waren indeß die Deputirten auf 4 Uhr Nachmittags zur Majestät in der Favoriten (dem kaiserlichen Lustschloß) befohlen. Zuvor hatte Brockes ein „bewegliches Carmen“ verfaßt, das mit dem Wunsche schloß, das nächste Jahr möge dem Kaiser einen Thronerben schenken. Dies Gedicht war am Tage vor der Audienz dem Kaiser unter den Teller gelegt und offenbar wohlwollend aufgenommen worden. Nachdem S., als Wortführer der Deputation, die kaiserliche Gnade angefleht und die Reue der Stadt ausgesprochen hatte, „setzten wir uns“, wie er dem Rath berichtet, „sämmtlich auf die Kniee. Ihro Majestät aber unterbrachen die Antwort mit dem Befehle, daß wir aufstehen sollten. Und als solches geschehen, haben Ihro Kaiserliche Majestät wider dero Gewohnheit sehr deutlich und vernehmlich uns dero Antwort dahin erteilt: daß, da Rath und Bürgerschaft so ernstlich Reue bezeuget, – so wolle Kaiserliche Majestät seine Gnade der Stadt wiederschenken.“

Am nächsten Tage bemerkte Graf Schönborn den Abgesandten, daß zuvor der Kaiser die Absicht gehabt hätte, anders zu sprechen; dem Prinzen Eugen wäre wohl diese Aenderung des strengen Sinnes des Kaisers zuzuschreiben. Und wir werden auch nicht fehl gehen, wenn wir dessen freundlicher Befürwortung mehr Gewicht beilegen als der Dichter Brockes seinem beweglichen Carmen zuzuschreiben sich schmeichelte. Uebrigens waren die Deputirten bedacht gewesen, [327] auch noch mit andern kleinen Kunstgriffen die hohen Herren Minister günstig zu stimmen. Bereits am 31. Mai hatte S. den Rath um eine Sendung neuer Heringe und kanarischen Sects ersucht mit dem Beifügen, daß sie nur an „solchen Oertern“, wo es zu der Stadt Bestem gereichen würde, diese Präsente benutzen würden. Am 16. Juli meldet er dann, daß die Herren Minister und selbst beide Majestäten von der Hamburger Deputation Heringe erhalten hätten und als S. und Brockes bei Hofe gewesen, hätten die Majestäten huldvoll erzählt, daß sie die ersten neuen Heringe von der Stadt Hamburg empfangen hätten.

Die kaiserliche Huld war nun zwar wiedergewonnen, es galt aber noch die Entschädigungsumme, die Hamburg für das zerstörte Gesandtschaftsgebäude nebst Capelle zahlen mußte und die Termine, in welchen es geschehen sollte, festzustellen. Die Deputirten waren in der mißlichen Lage, sowohl den kaiserlichen Ministern als dem Hamburger Rath und Bürgerschaft genügen zu sollen. Die Buße war zwar von 200 000 Thalern auf soviel Gulden und hernach auf 150 000 fl. nebst einigen Entschädigungen herabgesetzt worden. Allein zu einer geringeren Entschädigung wollten sich die kaiserlichen Minister nicht verstehen und hielten der Deputation besonders vor, daß ja die Stadt Hamburg dem Könige von Dänemark und dem Zaren unweigerlich die hohen Forderungen sogleich bewilligt hätte. (An Dänemark im Jahr 1712 240 000 Thaler, an Mentschikoff im folgenden Jahre 200 000 Thaler.) Mit Recht war es auch den Ministern befremdlich, daß die Deputirten nicht einige Vollmacht mit sich führten zur Regulirung der Zahlungstermine, da man doch vorhergewußt, daß wenigstens 150 000 fl. zu bezahlen seien. Jene verlangten demnach Obligationen für diesen Betrag von Wiener Kaufleuten. Am 23. August antwortete der Hamburger Rath, daß er sich mit den Sechzigern besprochen, welche sub ratificatione civium mit dem Rath beschlossen hätten, die geforderte Summe zu zahlen; dabei bemerkt aber der Rath an seine Abgesandten, die Minister in Wien möchten aber doch die Obligation der Hamburger Kammer (Finanz-Deputation) annehmen und nicht die der Wiener Kaufleute verlangen, was dem guten Credit der Stadt höchst schimpflich sei.

Der Rath verfehlte nicht, seine Verwunderung auszusprechen, daß die Deputirten die bei dem actu deprecationis verlesene Schrift zurückgehalten hätten, wenigstens hätten sie dieselbe nachträglich übersenden können. Hierauf antwortete S., daß alles auf den Reichsvicekanzler ankäme, derselbe habe ihnen erwidert, die Deprecation sei mit dem Gesetz, des Kaisers Resolution mit dem Evangelium zu vergleichen, beides sollte der Deputation bei ihrem Abschiede übergeben werden. Zu seiner Rechtfertigung führt S. am 13. August noch an, die Minister und fremden Gesandten würden bezeugen können, „daß Deputation geschwinder und glücklicher reüssirt als es sich hier (in Wien) Jemand vorgestellt“.

In dem fernern Briefwechsel empfiehlt der Rath dahinzuwirken, daß dem bestehenden Legationsrechte und dem Westfälischen Frieden gemäß in der kaiserlichen Resolution den Gesandtschaftspredigern nicht eine öffentliche freie Religiousübung eingeräumt würde, vielmehr denselben, über deren Ausschreitungen sich der Rath schon so oft beklagt hätte, bedeutet würde, jenen Rechten gemäß in ihren Schranken zu bleiben. Bekanntlich erklärte dann auch der Kaiser, daß es nicht sein Wille sei, aus dem katholischen Gesandtschaftsgottesdienst ein öffentliches Religionsexercitium zu machen.

Am 27. October kehrte die Deputation zurück. Noch vielfach war S. in bürgerlichen Angelegenheiten thätig, er hatte z. B. am 2. September 1723 vor der Bürgerschaft die Haltung des Raths in Sachen des vielbesprochenen Schaumburger Hofes zu vertreten, der, im Hamburger Stadtgebiet gelegen, lange Zeit [328] die Veranlassung zu Streitigkeiten mit Dänemark abgegeben hatte. Aufgewachsen unter den Eindrücken der bürgerlichen Parteikämpfe, verstand S. wohl die verschiedenen Ansprüche vom Rath und von der Bürgerschaft mit einander zu vereinigen.

Ein langes Leben war ihm nicht beschieden. Am zweiten Weihnachtstage 1732 starb er. Er hatte selbst in seinem „letzten Schwahnen-Gesang“ die Trauergesänge gedichtet, welche bei seiner Leichenfeier in der Petrikirche gesungen werden sollten. Da es Sitte war, daß ein Professor des Akademischen Gymnasiums eine Biographie der dahingeschiedenen Rathsmitglieder in einem oft recht überschwänglichen lateinischen Programm lieferte, so hatte S. u. A. verfügt: „dem Herrn Verfasser des Programms will ich auf die Seele gebunden haben, sich aller Schmeicheleien und Lobeserhebungen darinnen zu enthalten. Es sind dieselben nichts nütze und mir bei meinem Leben sehr ärgerlich jederzeit gewesen“. Wie sein „Letzter Schwahnen-Gesang“ beweist, scheint er ein Freund der Dichtkunst gewesen zu sein. Gleicherweise fand er Geschmack an Gemälden, denn dieselben, 95 an der Zahl, von einheimischen und fremden Meistern stammend, wurden nach seinem Tode für 8000 Mark verkauft.

Buek, Notizen über Hamburger Bürgermeister 173–184. – Hamburg. Schriftsteller-Lexikon VII, 185. – Hamburger Stadtarchiv, welchem die Angaben entnommen sind, die von den bisherigen Berichten abweichen.