ADB:Siemens
*): Die Brüder S. Das Geschlecht der Erfinderbrüder Siemens läßt sich in der alten Kaiserstadt Goslar am Harz bis zum Jahre 1523 zurück urkundlich verfolgen. Zunächst sind seine Vertreter angesehene Handwerker, Rathsherren oder Stadthauptleute, seit Beginn des 18. Jahrhunderts vorzugsweise Landwirthe. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts trat unter ihnen hier und da ein Erfindertypus zu Tage, der sich in persönlichen Liebhabereien, in gelegentlichen Speculationen und Experimenten auf dem Gebiete der Naturwissenschaft und Mechanik äußerte. (Vgl. Stephan Kekule von Stradonitz: „Ueber das Erfindergeschlecht Siemens“ i. d. „Grenzboten“, 67. Jahrg. S. 278 ff.) Der große Erfinder Werner Siemens und seine Brüder waren die Söhne des Landwirthes Christian Ferdinand Siemens, Pächter des Obergutes Lenthe bei Hannover und später der Domäne Menzendorf im Fürstenthum Ratzeburg. Die Lage der Landwirthschaft war zu seiner Zeit sehr ungünstig; überdies war Siemens kränklich. Er starb 1840 unter Hinterlassung eines nur geringen Vermögens. Aus seiner Ehe mit Eleonore Deichmann, Tochter des Amtsraths Deichmann in Poggenhagen bei Hannover, gingen vierzehn Kinder, nämlich elf Söhne und drei Töchter hervor, wovon drei Söhne und eine Tochter bereits in der Kindheit starben. Wenn nun in der Geschichte von den Brüdern Siemens die Rede ist, so hat man dabei vorzugsweise an Werner, Wilhelm, Friedrich und Karl zu denken, von denen Werner in seinen „Lebenserinnerungen“ sagt, daß sie ein gemeinschaftliches Leben und Streben am meisten verband.
SiemensErnst Werner S., geboren am 13. December 1816 zu Lenthe, † am 6. December 1892 zu Berlin, war das vierte Kind, der dritte Sohn seiner Eltern. Den ersten Unterricht empfing er von seiner Großmutter und später von seinem Vater, der ihn dann mit elf Jahren in die Bürgerschule des seinem Gute Menzendorf benachbarten Städtchens Schönberg schickte. Von Ostern 1828 an genoß er den Unterricht eines ausgezeichneten Hauslehrers, um endlich im J. 1831 in der Obertertia des Katharinen-Gymnasiums zu Lübeck aufgenommen zu werden. Hier wurde Werner bald in Anbetracht seiner weit vorgeschrittenen, lediglich auf eigenem Studium beruhenden Kenntnisse in der Mathematik in eine höhere Parallelclasse versetzt. Lernbegierig war er selbst da, wo ihm außer der schulgerechten festen Grundlage die Neigung fehlte: in den alten Sprachen mit ihren grammatischen Regeln, bei denen es für ihn „nichts zu denken und nichts zu erkennen gab“. Da seine Absicht, Bauwissenschaften, damals das einzige wissenschaftlich-technische Fach, zu studiren, wegen der Kosten des Studiums unausgeführt bleiben mußte, entschloß sich Werner auf [204] den Rath eines Lehrers, in das preußische Ingenieurcorps einzutreten. Der Vater war damit durchaus einverstanden. „So wie es jetzt in Deutschland ist, kann es unmöglich bleiben“, sagte er auf des Sohnes Vorschlag. „Es wird eine Zeit kommen, wo alles drunter und drüber geht. Der einzige feste Punkt in Deutschland ist der Staat Friedrich’s des Großen und die preußische Armee, und in solchen Jahren ist es immer besser Hammer zu sein als Ambos.“ Anders dachten die Bauern von Menzendorf. Werner erzählt in seinen „Lebenserinnerungen“, wie sie eine Deputation zu seinem Vater geschickt, er möchte ihn, der doch „so een gauder Junge“ sei, nicht nach dem Hungerlande Preußen schicken; und wie ihn selbst ein leises Grauen beschlichen habe, als er nach schwerem Abschied von der Heimath, sein Ränzel auf dem Rücken, wenige Thaler in der Tasche, Ostern 1834 auf geradliniger, staubiger Landstraße durch eine baumlose Sandgegend nach Preußen hineingewandert sei – einer unbekannten Zukunft entgegen.
Die Aussichten beim Ingenieurcorps in Berlin erwiesen sich wegen Ueberfüllung als ungünstig, dagegen gelang es ihm bei der Artillerie in Magdeburg seine Zulassung zum Aufnahmeexamen zu erwirken. Er bestand dasselbe Ende October 1834, wobei er sich wiederum in der Mathematik den andern jungen Leuten entschieden überlegen zeigte, und nach einem halben Jahre konnte er eingestellt werden. Bei der ersten Schießübung kam ihm dann nach seiner Aussage zuerst die sichere Erkenntniß seiner technischen Begabung, „da ihm alles selbstverständlich schien, was den meisten schwer wurde zu begreifen“. Er empfand es daher als ein besonderes Glück, als er im Herbst 1835 zur vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule nach Berlin einberufen wurde.
In der That schloß dies Commando für Werner eine höchst bedeutsame Zeit ein. Unter der Leitung hervorragender Lehrer, wie Ohm, Magnus und Erdmann konnte er naturwissenschaftliche sowie technische Studien betreiben und sich insbesondere seinen Lieblingsfächern Mathematik, Physik und Chemie zuwenden, auch brachte ihm das kameradschaftliche Leben dieser drei Schuljahre eine innige opferfreudige Freundschaft zu einem Brigadekameraden William Meyer, die erst im späten Alter durch den Tod gelöst werden sollte. Die drei vorgeschriebenen Examina bestand Werner ohne Schwierigkeit, nachdem er sich das nöthige Gedächtnißmaterial mit eisernem Fleiße eingepaukt hatte, und als Secondlieutenant kehrte er im Sommer 1838 zu seinem Truppentheile nach Magdeburg zurück.
Eine schwere Zeit für ihn folgte. Im ersten Jahre nach dem Officierexamen mußte er in der Kaserne wohnen und sich ganz dem strengen Militärdienste widmen. Am 8. Juli 1839 starb seine geliebte Mutter und kaum ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1840, auch sein durch Krankheit und schwere materielle Sorgen niedergebeugter Vater. Werner mußte bald einsehen, daß er auf eigene Erwerbsquellen sinnen müsse, um seiner Verpflichtung als Familienältester nachkommen zu können. Hinzu kam noch etwas anderes. 1839 hatte Werner seine wissenschaftlich-technischen Studien mit verstärktem Eifer wieder aufgenommen und in den folgenden Jahren war er bereits mit Erfindungsgedanken beschäftigt. Die Muße hierzu hatte er in der kleinen Garnison Wittenberg, wohin er im Herbst 1840 versetzt war, in reichem Maße; insbesondere beschäftigte er sich hier mit Versuchen zur Verbesserung der eben erfundenen galvanischen Vergoldung und Versilberung. Wegen Secundirens bei einem Duelle zu fünf Jahren Festungshaft verurtheilt, setzte er seine Experimente mit schließlichem Erfolge auf der Citadelle von Magdeburg fort, indem er seine Zelle zu einem kleinen Laboratorium umwandelte. Er erhielt sein erstes Patent, wurde dann aber durch plötzliche Begnadigung [205] der erzwungenen Muße zum Experimentiren allzuschnell entrissen. Man versetzte ihn – wohl in der Meinung, daß er für den praktischen Dienst weniger geeignet sei – zur sogenannten Lustfeuerwerkerei in Spandau, wo er für seine Thätigkeit viel Ehre und Anerkennung erntete, und von dort aus 1842 nach Berlin zur Dienstleistung bei der Artilleriewerkstatt. Hierdurch war sein höchster Wunsch erfüllt, Zeit und Gelegenheit zu weiteren naturwissenschaftlichen Studien und zur Vermehrung seiner technischen Kenntnisse zu erhalten; Aber auch hierzu fehlten die Mittel!
Werner war auf jede Weise bemüht, dieses wirthschaftlichen Bedürfnisses, das sich oft bis zur wirklichen Noth steigerte, Herr zu werden. Er stellte die geliebte wissenschaftliche Forschung hintenan und wandte in der freien Zeit sein Augenmerk technischen Arbeiten zu, die materielle Resultate versprachen. Somit sehen wir Werner in den Jahren bis 1846 unermüdlich die verschiedensten Erfindungsspeculationen betreiben, zuerst allein, dann in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm, der 1843 nach England ging und eine Erfindung Werner’s glücklich verwerthete, hiernach aber selbst in wachsende Bedrängniß gerieth. Die Ausdehnung seiner erfolgreichen elektrolytischen Versuche führten Werner zur Vernickelung, auch erfand er in jener Zeit den Differenzregulator für Dampfmaschinen und das sogenannte anastatische Druckverfahren, d. h. die Anwendung des damals bekannt gewordenen Zinkdruckes auf eine rotirende Schnellpresse. Aus der Idee einer „Tret-Fliege-Maschine“, über die er eifrig mit Wilhelm correspondirte, wurde nichts, dagegen gab seine Theorie der damals bekannt gewordenen Stirling’schen „Luftmaschine“ Wilhelm die Anregung zur vieljährigen Beschäftigung mit dem Regenerativsystem und dadurch mittelbar seinem Bruder Friedrich den Antrieb zu der großartigen Erfindung des Regenerativofens. In engster Anlehnung an diese Speculationen entstanden im Sommer 1845 Werner’s erste litterarische Arbeiten, welche bereits das in ihm tief begründete Bestreben wiederspiegeln, den damals herrschenden gewaltigen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Technik überwinden zu helfen; er schrieb unter anderem die Abhandlungen in Dingler’s Polytechnischem Journale „Ueber die Anwendung der erhitzten Luft als Triebkraft“ und in Poggendorff’s Annalen „Ueber die Anwendung des elektrischen Funkens zur Geschwindigkeitsmessung.“
Inzwischen war aber die finanzielle Noth Werner’s aufs höchste gestiegen: das kleine Vermögen, welches sich die Brüder durch Verwerthung der Galvanostegie erworben hatten – und mehr –, war bei den anderen Erfindungsspeculationen und dem Bemühen um ihre materielle Ausnützung aufgebraucht worden! Durch einen höchst unvortheilhaften Verkauf seines Antheiles an einer in Berlin eingerichteten galvanoplastischen Anstalt mußte Werner sich die nothwendigsten Mittel verschaffen. So erfuhr er am eigenen Leibe, welche Gefahren ein unsystematisches Grübeln nach Erfindungen barg, und seine Bestrebungen nahmen bereits eine ernstere und kritischere Richtung.
Er war von neuem energisch bemüht, sich eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung zu verschaffen. Soweit es ihm der strenge, einförmige Soldatendienst gestattete, hörte er Vorlesungen an der Berliner Universität und pflegte anregenden Verkehr mit ausgezeichneten jungen Naturforschern, wie Du Bois-Reymond, Helmholtz u. A. Seine Vorliebe für wissenschaftliche Arbeiten nahm infolgedessen noch zu, insbesondere waren es physikalische Studien, denen er mit Eifer und Erfolg oblag; auf der anderen Seite wurde er sich jedoch des angeborenen Triebes immer mehr bewußt, wissenschaftliche Kenntnisse nicht schlummern zu lassen, sondern möglichst technisch zu verwerthen.
Da hörte er Ende Juni 1846 zufällig von der bevorstehenden Einführung [206] Wheatstone’scher elektrischer Zeigertelegraphen an Stelle der seither benutzten optischen. Er wurde zu einer Umgestaltung des ganzen Systems angeregt und schuf einen elektrischen Zeigertelegraphen mit Selbstunterbrechung, bei dessen Ausführung er den geschickten Mechaniker J. G. Halske kennen lernte und für seine Sache zu begeistern wußte. Werner’s Apparat blieb zwar nicht in allen seinen Theilen für die Einrichtung der Telegraphie von dauerndem Werthe, aber er löste doch einige für die Elektrotechnik höchst bedeutsame Aufgaben. Jedenfalls war diese Erfindung für Werner’s eigenes Leben entscheidend. Er erkannte die große Bedeutung der elektrischen Telegraphie und die Aussichten, die sich ihm hier bei der nöthigen Concentration eröffneten; demgemäß trat sein Interesse an den anderen Erfindungsspeculationen mehr und mehr zurück.
Einen Augenblick scheint es, als sollten ihn die in verstärktem Maße wiederkehrenden finanziellen Sorgen niederdrücken, dann aber ringt sich das Genie in ihm zu voller Klarheit und selbstbewußter Größe durch. Er weist die Möglichkeit, sich vermöge der gewonnenen einflußreichen Stellung in der preußischen Telegraphencommission zum Leiter der künftigen Staatstelegraphen und damit zu einer verdienstvollen, sorgenfreien Existenz aufzuschwingen, ohne Reue in dem Gedanken an eine volle persönliche, durch eigene Arbeit gewährleistete Unabhängigkeit von sich, alle sanguinischen Hoffnungen schüttelt er ab und entsagt Ende 1846 seinem Bruder Wilhelm gegenüber den gemeinsamen Erfindungsspeculationen.
Am 2. Januar 1847 gibt er den Mechanikern Boettcher und Halske die Ausführung seiner Telegraphen in Bestellung und am folgenden Tage schreibt er im Vertrauen auf die große Zukunft der Elektrotechnik und bereits in dem Gedanken, den Militärdienst, die letzte Fessel, demnächst abzuschütteln, an Wilhelm: „Ich will alle meine Kräfte dem einen Ziele der elektrischen Telegraphie und was daran hängt und dazu nützt, widmen!“ Das kommende Frühjahr bringt ihm bereits einige Bestellungen und weitere Anerkennung, aber die Geldsorgen kann er sich nun kaum mehr vom Leibe halten. Dabei wird er mit Schießübungen und Bagatellendienst ehrlich gequält, und als vorläufige Beantwortung seines sechsmonatlichen Urlaubsgesuches droht ihm zum 1. October 1847 die Versetzung nach Wittenberg, die er jedoch durch rechtzeitige Erwirkung eines besonderen Commandos zur Telegraphencommission des Generalstabes zu vermeiden weiß.
Damals, im Herbst 1847, veranlaßte er den Mechaniker Halske, mit ihm eine Telegraphenbauanstalt zu begründen, in die er sich den persönlichen Eintritt nach seiner militärischen Verabschiedung vorbehielt. Halske wurde Leiter der Werkstatt, Werner der im stillen arbeitende eigentliche Unternehmer. Gegenstände der Fabrikation waren die eigenen Erfindungen, und zwar außer den Zeiger- und Drucktelegraphen noch Guttaperchaleitungen. Diese hatte Werner bereits 1846 erfunden und durch eine selbsterdachte Presse, welche die nahtlose Herstellung der Leitungen ermöglichte, vervollkommnet; gerade diese Erfindung ist als einer der Haupterfolge Werner’s zu bezeichnen, da sie die wichtige Frage der Isolation von elektrischen Leitungen in bis heute nicht übertroffener Weise löste. An Anerkennung und Erfolgen fehlte es dem jungen Unternehmen nicht und der feuereifrige Werner erkennt mit steigendem Siegesbewußtsein in der Elektricität den „spiritus familiaris“, der ihn und die Brüder zunächst einmal der materiellen Sorgen entheben soll.
Auf die Vorzeichen des herannahenden politischen Sturmes hatte er wenig geachtet, zumal ihm als Soldaten die Theilnahme an politischen Bewegungen versagt war. Tradition und Zeitgeist hatten ihn aber doch zu sehr beeinflußt, [207] als daß er den auflodernden Wunsch der Volksseele nach freien, würdigen Institutionen nicht im stillen getheilt hätte. Nach Ausbruch des Krieges mit Dänemark erwirkt er sich als Officier eine besondere technische Mission, er legt im Kieler Hafen mit Hülfe seiner Guttaperchaleitungen die ersten unterseeischen Minen der Welt und erwirbt sich hiernach durch Vertheidigung der Festung Friedrichsort, sowie durch Anlage der Eckernförder Strandbatterien, welche am 5. April 1849 die dänischen Kriegsschiffe „Christian VIII.“ und „Gefion“ in Brand schossen und zur Uebergabe zwangen, militärischen Ruhm. Daß dann sein kriegerischer Eifer, der sich mit großem politischen Scharfblick paarte, bald nachließ, wurde im wesentlichen durch den unglücklichen Gang der nationalen Bewegung bedingt. Die warme patriotische Empfindung ist Werner nie abhanden gekommen und hat sich in seinem späteren Leben noch reichlich bethätigt.
Schon im Kriegslager hatte Werner wieder die Sehnsucht nach Wiederaufnahme seiner wissenschaftlich-technischen Thätigkeit ergriffen. Nach seiner Rückkehr im August 1848 erhielt er vom preußischen Staate den Auftrag, nach seinen früher vorgeschlagenen Methoden schleunigst die politisch nothwendige Telegraphenlinie von Berlin nach Frankfurt zu bauen, und nun brach für ihn, der zum technischen Leiter des Baues bestellt wurde, eine Zeit voll Anstrengungen und neuer Sorgen, aber auch voll interessanter werthvoller Erfahrungen an.
Er entdeckte die Ladungserscheinungen an isolirten unterirdischen oder unterseeischen Leitern und stellte das Ladungsgesetz für offene und geschlossene Leitungen auf. Er ersann Methoden und Apparate, um die Leitungen vor der Verlegung auf ihre Isolation zu prüfen und fehlerhafte Stellen aufzufinden. Auch erkannte er die Nothwendigkeit, telegraphische Leitungen mit Blitzschutzvorrichtungen auszurüsten. Eine ganze Fülle interessanter wissenschaftlicher und technischer Aufgaben tauchten vor ihm auf, zu deren Lösung er sich berufen fühlte, und um sich diesen Arbeiten uneingeschränkt widmen zu können, führte er im Juni 1849 seinen längst gefaßten Entschluß aus, seinen Abschied aus dem Militärdienste zu nehmen.
Die nächsten Jahre zeitigten sehr wesentliche Verbesserungen auf dem Gebiete der Telegraphie. Insbesondere vervollkommnete Werner das Morse’sche System durch Einrichtung selbstthätiger Uebertragung auf Zwischenstationen, wodurch die Ueberwindung größerer Entfernungen ermöglicht wurde. Im April 1850 stellte Werner seine bis dahin gesammelten Erfahrungen über telegraphische Leitungen und Apparate in einer größeren Abhandlung zusammen, die er unter dem Titel „Memoire sur la télégraphie électrique“ der Pariser Akademie der Wissenschaften vorlegte; sie wurde der Einreihung unter die „savants étrangers“ für würdig erachtet. Eine weitere Anerkennung wurde Werner dadurch zu Theil, daß die durch seine Erfindungen wachgerufenen Leistungen der Firma Siemens & Halske auf der in London 1851 veranstalteten ersten Weltausstellung die höchste Auszeichnung errangen.
Inzwischen waren an den auf Betreiben der Staatsverwaltung schon in erheblicher Anzahl gelegten unterirdischen Leitungen von Tag zu Tag wachsende Störungen aufgetreten. Schon 1849 war Werner sein Dienstverhältniß zu der damals noch durchaus bürokratisch gehandhabten preußischen Telegraphenverwaltung, die kurzsichtig für die sich auf die Qualität der Leitungen beziehenden Vorstellungen Werner’s auf schleunigste und billigste Herstellung drängte, unerträglich geworden, und er hatte sein Amt als technischer Leiter der Anlagen niedergelegt. Jetzt fühlte er sich veranlaßt, sich über die Mängel der preußischen Telegraphenlinien in einer Broschüre zu verbreiten, in der er [208] Verbesserungsvorschläge machte, aber auch die ihm von allen Seiten aufgebürdete Schuld an der traurigen Sachlage energisch zurückwies. Die Telegraphenverwaltung brach infolge dessen die Verbindung mit der Firma Siemens & Halske auf viele Jahre hinaus ab.
Aber Werner hatte diese Krisis kommen sehen; schon lange vorher war er unablässig bemüht gewesen, neue geschäftliche Verbindungen anzuknüpfen. So kam es, daß die Entziehung der staatlichen Bestellungen dank der angestrengten Thätigkeit Werner’s den ersten Anstoß gab für die bald großen Umfang gewinnenden Unternehmungen, insbesondere im Auslande. Zunächst war für den großen Aufschwung des Geschäftes eine Verbindung mit Rußland maßgebend, die Werner persönlich 1852/53 in drei höchst beschwerlichen und abenteuerlichen Reisen anbahnte, und die sein Bruder Karl erfolgreich ausbaute. Unter unsäglichen Schwierigkeiten wurde in den Jahren 1852 bis 1855 der Bau einer Reihe von russischen Telegraphenlinien – zunächst noch unter reger persönlicher Mitwirkung Werner’s – vollendet; vor allem war es die eilige Herstellung einer Telegraphenlinie nach der Krim während des Krieges von 1855, die den kühnen und gewandten Unternehmern verdiente Anerkennung brachte.
Werner’s Optimismus, der seinem freudigen Schaffen in jenen schweren, auch von Krankheit begleiteten Jahren zu Grunde lag, drückt sich deutlich darin aus, daß er im December 1851, mitten in der geschilderten schweren Krisis, durch den Kauf und Ausbau eines Hauses das Berliner Geschäft wesentlich vergrößerte und am 1. October 1852 einer alten Neigung gemäß eine Verwandte, Mathilde Drumann, Tochter des Professors Drumann in Königsberg, als Gattin heimführte.
Werner fand sogar Zeit zu neuen technischen und wissenschaftlichen Arbeiten, zu denen er meistens aus seinen Unternehmungen die Anregung empfing. Nach der Erfindung eines selbstthätigen Schnellschreiber-Telegraphensystems für die russischen Linien und der Construction des zur Ueberwachung dieser Linien dienenden Controllgalvanoscops ist die im J. 1854 von Werner gefundene Methode des Gegensprechens mit elektromagnetischen Apparaten zu nennen. Auch eine Maschine zur Erzeugung hochgespannten Gleichstromes, die sog. Tellermaschine, eine Vorläuferin der Pacinotti’schen, ist in dieser Zeit entstanden; ferner ein Apparat zur bequemen Erzeugung großer Mengen von Ozon. Besonders reich an wichtigen Erfindungen war das Jahr 1856. Damals ersann Werner den heute in zahllosen Exemplaren über die Erde verbreiteten und den verschiedenartigsten Zwecken dienstbar gemachten Inductor mit sog. Doppel-T-Anker; auch fällt in dieses Jahr die Erfindung des Inductions-Schreibtelegraphen, den Werner dann drei Jahre später durch Anwendung von Batterieströmen an Stelle von inducirten Wechselströmen wesentlich verbesserte.
Die Jahre 1857–59 waren in der Hauptsache ausgefüllt durch Betheiligung an der Legung mehrerer englischer mit Eisen armirter Tiefseekabel im Mittelmeer, zwischen Sardinien sowie Spanien und der afrikanischen Nordküste, sowie von Suez durch das Rothe Meer nach Indien. Es waren ereignißreiche Lehrjahre für die Brüder Siemens. Werner, der sich schon Ende der 40er Jahre mit dem Problem unterseeischer Telegraphenverbindungen theoretisch beschäftigt hatte, fand Gelegenheit, die Verhältnisse bei Verlegung und beim Betrieb derartiger Kabel eingehend zu studiren. Er ersann ein Verfahren für den mechanischen Theil der Legung, sowie eine Methode zur fortwährenden Controlle des elektrischen Zustandes der Kabel während der Legung, die beide, auf Grund höchst mühevoll gewonnener Erfahrungen vervollkommnet, [209] noch heute in der von Werner im Jahre 1874 der Berliner Akademie der Wissenschaften vorgelegten Form als mustergültig angesehen werden. Werner’s „scientific humbug“ – so nannten es anfangs die englischen Praktiker – kam in England damals zu Ehren, auch setzte sich sein wirthschaftliches Princip, nicht die Billigkeit, sondern in erster Linie die Güte anzustreben, gerade bei den großen Kabelunternehmungen gegenüber der englischen Anschauung aufs wirksamste durch.
Der den Brüdern gemeinsame Drang, sich um jeden Preis durchzusetzen, hatte ihnen bereits im Frühjahr 1858 den Gedanken an eigene Kabelunternehmungen nahegelegt, und Werner glaubte schließlich den in erster Linie von Wilhelm’s Unternehmungsgeiste getragenen Projecten nicht entgegentreten zu dürfen. Eine im J. 1864 drei Mal mißglückte und für Werner sowie für Wilhelm mit höchster Lebensgefahr verbundene Kabellegung zwischen Kartagena und Oran kostete dem Londoner Zweiggeschäft etwa die Hälfte seines Capitals und brachte außerdem ein schmerzliches technisches Fiasko. Es wurde damit für das wachsende Unternehmen eine neue Krisis heraufbeschworen, zumal die großen russischen Geschäfte aufgehört hatten und überhaupt das eigentliche Telegraphengeschäft recht eintönig geworden war.
Werner hatte schon früh die Brüder auf die drohenden Wolken am Himmel aufmerksam gemacht, hatte vor Stillstand gewarnt und zur Einheit gemahnt. Trotzdem unter den russischen Reisen und den englischen Kabelexpeditionen seine Gesundheit arg gelitten hatte und ihn die schwere Erkrankung seiner Gattin aufs höchste niederdrückte, trotzdem seine Persönlichkeit bei alledem – vielleicht wie noch niemals vorher – an der geschäftlichen Depression theilnahm, hatte er unablässig mancherlei Pläne zur Abhülfe der Geschäftsstockung erwogen, und jene Periode der Erfindungsspeculationen, mit denen er seine geschäftliche Laufbahn zwanzig Jahre vorher begonnen hatte, war wieder aufgelebt. Aber nur die von ihm seit 1861 auf seines Bruders Karl Anregung geförderte Alkoholometeridee führte zu einer später lohnenden Fabrikation; ebenso der bereits 1863 von Werner dem preußischen Telegraphendirector auf Grund eingehender theoretischer Voruntersuchungen mitgetheilte Gedanke, eine pneumatische Depeschenbeförderung einzurichten. Einstweilen fruchteten diese Ideen nur wenig; auch die von Werner unermüdlich und mit Erfolg betriebenen Verbesserungen auf dem Gebiete der Telegraphie konnten die Entwicklung nicht aufhalten.
Die Krisis trat ein: der den gefahrvollen, großen Unternehmungen abholde Halske verlangte die Auflösung des englischen Hauses. Aber so leicht gab Werner seine Sache nicht verloren, auch wollte er den Bruder nicht im Stich lassen: er führte sein eigenes Capital, soweit es nicht schon anderweitig festlag, dem Londoner Geschäft zu und setzte es damit ebenfalls dem Risico der dortigen schwierigen Unternehmungen aus. Das Geschäft wurde 1865 von der Hauptfirma losgelöst und ohne Halske unter der Firma „Siemens Brothers.“ fortgeführt; im J. 1868 gelang es Werner zwischen den nunmehr selbständigen drei Firmen in Berlin, Petersburg und London Verträge zu Stande zu bringen, welche die von ihm stets angestrebte geschäftliche Einheit gewährleisteten. Voraussetzung für diese kraftvolle Ausgestaltung war freilich bereits, daß der von Werner seit langer Zeit ersehnte „moralische Aufschwung“ inzwischen eingetreten war; er wurde durch die politischen Ereignisse des Jahres 1866 herbeigeführt.
Als unter der Regentschaft des Prinzen von Preußen sich wieder freiere politische Anschauungen hervorwagten, war auch Werner’s politisches Interesse [210] wieder rege geworden, und seiner liberalen Ueberzeugung entsprechend hatte er sich dem unter Bennigsen’s Führung gebildeten Nationalverein angeschlossen, an dessen Bestrebungen er sich lebhaft betheiligte. Im Frühjahr 1863 hatte es Werner dann nach wiederholter Ablehnung für seine Pflicht gehalten, die ohne seinen Antrag auf ihn gelenkte Wahl zum preußischen Abgeordneten für den Bezirk Solingen-Remscheid anzunehmen. Seiner Aufgabe als Volksvertreter kam Werner – wenn auch schweren Herzens wegen der damit verbundenen großen Abhaltungen von seinen wissenschaftlichen und geschäftlichen Arbeiten – im vollsten Maße nach; vor allem in der Militärfrage strebte er im unerschütterlichen Glauben an den Beruf des preußischen Staates eine besondere Lösung an und veröffentlichte auch eine anonyme Broschüre. Auf dringendes Anrathen seines Arztes wollte er sich nach Auflösung des Abgeordnetenhauses wenigstens in politischen Dingen Ruhe gönnen, er mußte sich aber doch schließlich zur Annahme der Wiederwahl bereit erklären. Als dann im Frühjahr 1866 die schleswig-holsteinische Frage entstand, trat Werner’s Liberalismus hinter der nationalen Gesinnung völlig zurück, und nach dem Kriege bot er seinen ganzen Einfluß auf, um seine Partei zur unumschränkten Bewilligung der Indemnität zu bewegen. Kaum hatte er dies jedoch erreicht, so trat er aus der politischen Arena zurück, um die ganze Kraft wieder seinen eigentlichen großen Aufgaben zuwenden zu können. Aber – anders als im J. 1848 – schied Werner jetzt im vollen Vertrauen auf den Gang der deutschen Politik und aufathmend schüttelte er mit den politischen Sorgen auch die wirthschaftlichen von sich ab.
Zwar war Werner’s Haus durch den am 1. Juli 1865 erfolgten Tod seiner geliebten Frau verödet, und auch geschäftlich war er in jener Zeit der größten Schwierigkeiten mehr wie je auf seine eigene Kraft angewiesen. Sein Bruder Wilhelm erkrankte damals, und Karl mußte nach dem Kaukasus übersiedeln, wo er mit Werner im J. 1864 ein Kupferbergwerk gekauft hatte, dessen rationeller Ausbau den Brüdern viel Sorgen machte. Halske löste sich immer mehr von dem wachsenden Geschäfte, um dann 1868 ganz auszuscheiden. Dazu kam die Erkrankung sowie schließlich der Tod seines Jugendfreundes und zweiten Mitarbeiters William Meyer.
Aber Werner hatte durch den moralischen Aufschwung von 1866 genug Kraft gewonnen, um allen Schicksalsschlägen Trotz zu bieten. Schon im Jahre 1865 hatte er auf seiner ersten kaukasischen Reise die Voraussetzungen einer telegraphischen Speciallinie für den directen Verkehr von England nach Indien durch Preußen, Rußland und Persien geprüft. Die Vorbereitungen zu dieser indo-europäischen Telegraphenlinie von über 10 000 km Länge wurden im Herbst 1866 in die Hand genommen, sie leiteten ein bedeutendes Unternehmen sowie eine weitere Vergrößerung der Firma ein und gaben Werner, wenn auch der wirthschaftliche Erfolg der Linie noch auf sich warten ließ, die Genugthuung, zeigen zu können, was die Telegraphie zu leisten im Stande war. Neben dieser Unternehmung, welche den Angelpunkt der Geschäftsthätigkeit bildete, kam es im November 1866 auch in London zur eigenen Kabelfabrikation und in Berlin zur Ausdehnung der Rohrpostanlagen.
Vor allem gehört aber dem Jahre 1866 diejenige That Werner’s an, welche den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Starkstromtechnik bildet: die Entdeckung des dynamo-elektrischen Principes. Etwa der 20. September 1866 ist als der Tag anzusehen, an dem Werner zum ersten Mal eine Dynamomaschine geschaltet und mit ihr experimentirt hat. Jedenfalls hat er im December dieses Jahres die Erfindung seinen wissenschaftlichen Freunden vorgeführt, und am 17. Januar 1867 wurde vor der Berliner Akademie seine [211] Abhandlung „Ueber die Umwandlung von Arbeitskraft in elektrischen Strom ohne Anwendung permanenter Magnete“ verlesen, in welcher er das Princip der Dynamomaschine entwickelte, auch bereits seine außerordentliche Tragweite betonte. Die Priorität dieser größten seiner Erfindungen ist heute unzweifelhaft. Endlich fällt in das Jahr 1866 Werner’s Idee einer elektrischen Hochbahn, und auch seine Versuche zur Erzeugung von elektrischem Licht nehmen einen günstigeren Verlauf, waren doch die Mittel dazu jetzt gegeben.
Doch noch einmal schien es, als solle die große Entwicklung von Werner’s Persönlichkeit zum Stillstand kommen. Seine durch die anstrengenden Arbeiten und Reisen zerrüttete Gesundheit versagte zeitweise den Dienst. Zahlreiche Krankheits- und Todesfälle im nächsten Kreise sowie die zunehmende geschäftliche Vereinsamung drückten ihn schwer. Oft glaubte er die beständig wachsende Zahl seiner weitverzweigten Unternehmungen nicht mehr meistern zu können, und düstere seelische Stimmungen suchten ihn heim. Doch jetzt bedurfte er keines äußeren Anstoßes mehr: die Aufbietung seiner eigenen Willenskraft genügte, um ihn noch im J. 1868 wieder über die Situation zu erheben; selbst seine Gesundheit schien sich trotz erneuter starker Zumuthungen, die vor allem mit einer zweiten Reise nach dem Kaukasus im Herbst 1868 verbunden waren, seinem Willen unterzuordnen.
Am 13. Juli 1869 heirathete Werner eine entfernte Verwandte Antonie Siemens, Tochter des Professors Karl Siemens in Hohenheim bei Stuttgart, und die liebenswürdigen Eigenschaften seiner zweiten Frau brachten wieder warmen Sonnenschein in sein etwas verdüstertes arbeitsvolles Leben. Auch fand Werner neue tüchtige Mitarbeiter, denen er mit vollem Vertrauen die Ausführung seiner nach wie vor leitenden technischen und wirthschaftlichen Gedanken überlassen konnte, so daß er Ende 1869 eine weitere Vergrößerung der Fabrik vorzunehmen vermochte, ohne seinen besonderen Aufgaben dadurch weiterhin entfremdet zu werden.
Der Ausbruch des Krieges von 1870/71 löste in Werner starke Aeußerungen der Vaterlandsliebe aus, und die schließliche nationale Einigung bedeutete für ihn die Erfüllung eines lang getragenen sehnsüchtigen Wunsches.
Von technischen Errungenschaften Werner’s seit dem Jahre 1867 ist außer der Construction eines neuen automatischen Telegraphensystems für die indo-europäische Linie der Erfindung der selbstthätigen elektrischen Schiffssteuerung sowie zahlreicher Meßapparate und Meßmethoden (vgl. u. a. „Siemens’sche Einheit“, das heutige „Ohm“) zu gedenken, die der Förderung elektrotechnischer Erkenntniß die wesentlichsten Dienste geleistet haben. Im Jahre 1873 ersann Werner das für die spätere Anwendung des elektrischen Lichtes höchst bedeutsame Princip der Differentialregulirung elektrischer Lampen, dessen constructive Durchführung einem seiner neuen Mitarbeiter, dem bekannten v. Hefner-Alteneck, zu danken ist, und unter wiederum regem Antheil seiner Mitarbeiter kam es zu den ersten Anwendungen der elektrischen Kraftübertragung. Im J. 1879 wurde auf der Berliner Gewerbeausstellung von Siemens & Halske die erste elektrische Bahn vorgeführt und 1880 in Mannheim der erste elektrisch betriebene Aufzug ausgestellt; auch ließ Werner 1879 die ersten Hochbahnentwürfe ausarbeiten, für deren Ausführung in Berlin er selbst durch Vorträge das allgemeine Interesse zu wecken suchte.
In das Jahr 1874 fiel ein Ereigniß, welches Werner’s Schaffenskraft in hohem Maße anregte: die Akademie der Wissenschaften in Berlin würdigte seine erfolgreiche wissenschaftliche und technische Thätigkeit, indem sie ihn zu ihrem ordentlichen Mitgliede wählte. Seitdem fand Werner mehr Zeit und Veranlassung zu rein wissenschaftlichen Arbeiten. Wir finden ihn mit Untersuchungen [212] über den geologischen Bau der Erde beschäftigt; wir sehen ihn mit seinem Bruder Wilhelm die Ursachen und die Gründe der Erhaltung der Sonnenwärme erforschen, mit seinen Brüdern Friedrich und Wilhelm neue Heizprobleme durchdenkend und in die schwierigsten meteorologischen Fragen vertieft. Im ganzen ist es aber nach wie vor schwierig, die rein wissenschaftlichen Untersuchungen und Ideen Werner’s von seinen technischen Arbeiten zu sondern; insbesondere gilt das von zahlreichen, höchst werthvollen rein physikalischen Arbeiten.
In den 80er Jahren hatte Werner auch wieder häufig Gelegenheit, sein reges Interesse an öffentlichen Angelegenheiten zu zeigen. Er rief den Patentschutzverein ins Leben und setzte es als Mitglied des Aeltestencollegiums der Berliner Kaufmannschaft durch, daß ein im wesentlichen von ihm ausgearbeiteter Entwurf eines Patentgesetzes zum Gesetz erhoben wurde, welches die unerträgliche Schutzlosigkeit der Erfindungen in Deutschland beseitigte. Im J. 1880 wurde auf seine und Stephan’s Anregung in Berlin ein „Elektrotechnischer Verein“ gegründet, dessen Mitglieder heute weit über Deutschlands Grenzen verbreitet sind. Ebenso war Werner die Veranlassung zur Errichtung von Lehrstühlen für die Elektrotechnik an den technischen Hochschulen. Er nahm regen Antheil an den Pariser internationalen Congressen zur Einführung eines absoluten Maßsystems elektrischer Größen und betheiligte sich an der Gründung der deutschen meteorologischen Gesellschaft in Hamburg. Als Vorsitzender oder als Ehrenmitglied zahlreicher wissenschaftlicher und technischer Gesellschaften und Vereine entfaltete er eine bedeutsame Thätigkeit, und durch eine hochherzige Schenkung gab er den Anstoß zur Errichtung der physikalisch-technischen Reichsanstalt in Charlottenburg, die zu einer großartigen deutschen Heimstätte für die wissenschaftliche Forschung geworden ist.
An reicher äußerer Anerkennung von Werner’s Leistungen und Bestrebungen hat es nicht gefehlt. Doch nur sehr wenige dieser Ehrenerweisungen berührten das Wesen des Mannes, der von sich sagen durfte, sein stetes Bestreben sei es mehr zu sein als zu scheinen. Erwähnt mag noch sein, daß ihm 1885 der Orden pour le mérite für Kunst und Wissenschaft verliehen wurde, nachdem er 1880 zum Geheimen Regierungsrath ernannt worden war; von der Berliner Universität war er bereits 1860 zum Doctor phil., von der Heidelberger Universität zum Dr. med. honoris causa promovirt, und 1888 erhob ihn Kaiser Friedrich III. ohne die übliche Vorfrage in den erblichen Adelstand.
Bei allen Ehren und reichem Besitzthum blieb Werner bestrebt, seine Tausende von Untergebenen und Arbeitern durch wohlwollende Behandlung und sorgende Einrichtungen für eine vorbildliche Arbeitsgemeinschaft zu erziehen. Es war das eines seiner vornehmsten Geschäftsprincipien, dem er nicht zum wenigsten die großen Erfolge seiner Unternehmungen zu danken hatte.
Inmitten seines gewaltigen Wirkungskreises hatte Werner, der noch immer durch sein frisches, lebhaftes Temperament auffiel, den Anbruch seines Lebensabends kaum gespürt. Mit Beginn des Jahres 1890 trat er jedoch von der Geschäftsleitung der Firma Siemens & Halske zurück, die er nun seinem Bruder Karl und seinen ältesten Söhnen Arnold und Wilhelm überließ. Noch zwei Jahre lang durfte Werner von seinem Vorbehalt, auf die Geschäftsleitung Einfluß üben zu können, Gebrauch machen: am 6. December 1892 erlag er einer Lungenentzündung. –
Werner Siemens war ein universeller Geist. Von Haus aus mit einer besonderen Vorliebe und Begabung für die Naturwissenschaften ausgestattet, war er auf diesem Gebiete ungemein productiv thätig, zumal seinen Fähigkeiten [213] ein ausgesprochenes Erfindertalent zu Hülfe kam. Jede wissenschaftliche Frage führte ihn dazu, ihre Beziehungen zur Technik zu überlegen, jede technische Neuerung, zu deren genialer Gestaltung er meist aus seinen eigenen Unternehmungen die Anregung schöpfte, stellte ihn vor neue wissenschaftliche Fragen. Diese glückliche Personalunion von Gelehrtem und Techniker, von Erfinder und Unternehmer wurde durch Werner’s außerordentliche Charaktereigenschaften bedingt: durch freudigen Schaffensdrang und selbstvertrauende Thatkraft, durch unermüdlichen Fleiß und methodische Gründlichkeit, durch einen sicheren, weiten Blick und schnelle Entschlossenheit, durch gerade, vornehme Gesinnung und freundliche, schlichte, stets hülfsbereite Lebensart; seine starke Willenskraft hielt den Optimismus und die grübelnde Phantasie, die für einen großen Geschäftsmann allzu große Gutmüthigkeit und leichte Erregbarkeit im Zaum und äußerte sich gerade in kritischen Zeiten im zähen Festhalten am selbstgesteckten Ziele. In Werner v. Siemens ist eine starke deutsche Persönlichkeit und einer der bedeutendsten Vorkämpfer deutscher Cultur über die Erde gegangen. –
„Wissenschaftliche und Technische Arbeiten“, 2 Bde., 2. Auflage, Berlin 1889 und 1891; „Lebenserinnerungen“, ebd. 1901.
- R. Ehrenberg, Die Unternehmungen der Brüder Siemens, 1. Band. Jena 1906. – Derselbe, Entstehung und Bedeutung großer Vermögen, „Deutsche Rundschau“, Jahrg. 1902, S. 63 ff., 250 ff., Berlin. – Derselbe, Studien in dem von ihm herausgegebenen „Thünen-Archiv“, Jahrg. 1906, S. 34 ff., 279 ff., Jahrg. 1907, S. 18 ff., 176 ff. Jena. – Du Bois-Reymond, Begrüßungsrede, und A. Kundt, Gedächtnißrede betr. Werner v. Siemens aus den Abhandlungen der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom Jahre 1874 und 1893.
Karl Wilhelm S., geboren am 4. April 1823 zu Lenthe, † am 19. November 1883 in London, war das achte Kind, der sechste Sohn seiner Eltern. Den ersten Unterricht erhielt er in Gemeinschaft mit seinen älteren Brüdern durch Hauslehrer. Dann besuchte er, nachdem ihn der Vater für den Kaufmannsstand bestimmt hatte, kurze Zeit eine Handelsschule in Lübeck und von seinem fünfzehnten Jahre ab die höhere Gewerbe- und Handelsschule in Magdeburg.
Noch nicht achtzehn Jahre alt ging Wilhelm zu naturwissenschaftlichen Universitätsstudien nach Göttingen, wo er sich für den Ingenieurberuf entschied und damit – seine Eltern waren inzwischen verstorben – dem Einflusse Werner’s folgte, der seine besonderen geistigen Fähigkeiten richtig erkannt und immer ernste Zweifel gehegt hatte, ob ihm die kaufmännische Laufbahn auf die Dauer zusagen würde. Durch praktische Thätigkeit in der gräflich Stolbergischen Maschinenbauanstalt zu Magdeburg und mehr noch durch Gedankenaustausch mit seinem Bruder Werner angeregt, fing Wilhelm bereits 1842 an, selbständig zu arbeiten. Werner’s Erfindung des Differenzregulators für Dampfmaschinen bildete die Lösung eines Problems, welches Wilhelm damals schon sehr beschäftigte, welches er aber erst etwa zehn Jahre später praktisch ausbilden sowie wesentlich vervollkommnen sollte. Besonderen Antheil nahm er an Werner’s galvanoplastischen Arbeiten, und mit Freuden erklärte er sich bereit, als der Bruder ihm den Vorschlag machte, er solle Urlaub nehmen und versuchen, die Galvanostegie in Hamburg und womöglich in England geschäftlich zu verwerthen.
Anfang Februar 1843 trat Wilhelm seine Reise an, nur mit den dürftigsten Geldmitteln versehen, und Mitte März traf er ohne besondere Kenntnisse [214] der englischen Sprache und ohne eine Ahnung vom englischen Geschäftsleben in London ein. Erst neunzehn Jahre alt, ging er im unerschütterlichen Vertrauen auf schließlichen Erfolg zu Werke, und in erstaunlich kurzer Zeit gelangte er mit Geschick und Beharrlichkeit zum Ziele: Elkington in Birmingham, der seit einiger Zeit die galvanische Versilberung und Vergoldung fabrikmäßig betrieb, kaufte Werner’s englisches Patent für 1500 Pfd. Sterl., eine für die damaligen Verhältnisse der Brüder colossale Summe. Aber noch war Wilhelm zu jung, als daß ihn ein solcher immerhin überwiegend auf Glück beruhender Erfolg nicht zu übertriebenen Erwartungen verleitet hätte, welche bittere Enttäuschungen im Gefolge hatten.
Anfang Februar 1844 trieb es ihn zur Verwerthung weiterer Erfindungen Werner’s von neuem nach London, das nunmehr sein dauernder Wohnort werden sollte. Wirklich erregten die Erfindungen viel Aufsehen; es gelang Wilhelm im Frühjahr 1845 eine günstige Beurtheilung derselben von Professor Faraday zu erwirken und sie damit zur Kenntniß der ersten Fachkreise zu bringen, was für seine spätere Laufbahn sehr nützlich werden sollte. Aber Geld brachten sie nicht, vielmehr führten die Versuche, sie durch Verbesserungen wirthschaftlich ergiebig zu machen im Verein mit neuen Erfindungsspeculationen, an die sich die Brüder gemeinsam und einzeln heranwagten, zur völligen Einbuße des auf der ersten englischen Reise erworbenen kleinen Vermögens. Ende 1846 erkannte Werner unter den drückendsten Geldsorgen die Nothwendigkeit, die planlosen Erfindungsgedanken aufzugeben und die geschäftliche Verbindung mit dem Bruder einstweilen zu lösen. Wilhelm dagegen setzte die Erfindungsspeculationen fort, ohne zunächst Erfolge zu erzielen. Im Gegentheil, seine finanzielle Lage wurde immer schwieriger, und nur mit Werner’s Hülfe sollte es ihm gelingen, langsam vorwärts zu kommen.
Seit dem Beginn des Jahres 1847 war er als Civilingenieur für renommirte Maschinenbauanstalten in Manchester thätig, und hier waren es besonders schwere Probleme der Thermodynamik, die er zu lösen suchte. Schon 1845 hatte er mit Werner über die Stirling’sche Heißluftmaschine correspondirt, und das in ihr noch unvollkommen zum Ausdruck gelangte „Regenerativprincip“ bildete fortan für lange Zeit den Hauptgegenstand seiner Arbeiten, namentlich in der Anwendung auf Dampfmaschinen. Es würde zu weit führen, seinen außerordentlich vielseitigen Bemühungen in dieser Beziehung nachzugehen. Genug, sein „Regenerativ-Condensator“. brachte ihm 1850 von der hochangesehenen Society of Arts die goldene Medaille, seine mit überhitztem Dampf arbeitende, vollständige „Regenerativ-Maschine“ auf der Pariser Weltausstellung 1855 einen ersten Preis, und auch eine dritte Erfindung, der „Regenerativ-Verdampfer“, erregte allgemeines Interesse; im J. 1853 hielt er seinen Vortrag im Institut der Civilingenieure über „die Umwandlung von Wärme in mechanische Arbeit“, wofür ihm der Telfort-Preis und die Medaille zuerkannt wurde.
Unter diesen Umständen fanden sich auch bedeutende englische Geschäftsleute, die sich an der Ausgestaltung und Verwerthung der Erfindungen Wilhelm’s trotz mancher Mißerfolge immer wieder mit Arbeit und Capital betheiligten, namentlich trat er in ein näheres Verhältniß zur Firma Fox & Henderson, was ihn veranlaßte, Anfang 1849 seinen Wohnsitz nach Birmingham zu verlegen. Im J. 1855 kam es sogar in Paris unter Betheiligung von Siemens & Halske zur Gründung einer eigenen Actiengesellschaft für Wilhelm’s Maschine, die sich jedoch 1857 unter großen Verlusten für die Actionäre wieder auflösen mußte. Ein dauernder wirthschaftlicher Erfolg war Wilhelm’s thermodynamischen Erfindungen, an denen er länger als zehn Jahre mit erstaunlicher [215] Ausdauer, Scharfsinn und großen Geldopfern arbeitete, nicht beschieden: so geistvoll seine Constructionen ausgedacht, so richtig ihre theoretische Begründung war, sie scheiterten immer wieder an der praktischen Schwierigkeit der Ausführung. Dennoch sollte das von Wilhelm so gründlich bearbeitete Gebiet der Wärmeökonomie nächst dem der Elektricität das wichtigste werden, dessen großartige Cultur den Brüdern Siemens zu danken ist. Wilhelm’s langjähriger Assistent, sein Bruder Friedrich, kam 1856 auf den seit Stirling in Vergessenheit gerathenen Gedanken, das Regenerativprincip auf Feuerungen anzuwenden, und damit wurde die Bahn beschritten, die zu einem auch wirthschaftlich sehr bedeutsamen Erfolge führte.
Mit Werner war Wilhelm inzwischen in engster Verbindung geblieben, obschon die Brüder den gemeinsamen Erfindungsspeculationen im Interesse größerer Bewegungsfreiheit entsagt hatten. Werner hatte sich seit seinen ersten telegraphischen Versuchen im J. 1846 Wilhelm’s wachsende geschäftliche Erfahrung und sein zunehmendes Ansehen in England oft zu Nutze gemacht, anfangs namentlich für Erkundigungen technischen Inhaltes, bald aber auch im unmittelbaren geschäftlichen Interesse. Im J. 1849 hatten dann Wilhelm’s Versuche begonnen, den Fabrikaten von Siemens & Halske ein englisches Absatzgebiet zu verschaffen, und am 16. März 1850 schlossen Werner und Wilhelm einen Vertrag, wodurch letzterem die Agentur von Siemens & Halske für England übertragen wurde. In der folgenden Zeit war Wilhelm denn auch neben seinen übrigen Arbeiten auf das eifrigste im Interesse der Berliner Firma bemüht: er knüpfte weitgehende Verbindungen an, suchte durch Veröffentlichungen in Zeitschriften und durch persönliche Berichte in den maßgebenden wissenschaftlich-technischen Vereinen Englands Stimmung zu machen und nutzte mit größter Geschicklichkeit jede sich darbietende geschäftliche Gelegenheit. Er dachte bereits an eigene Kabelunternehmungen, und es war schon die Rede von Begründung einer Guttaperchafabrik sowie einer Telegraphenbauanstalt in England. Aber nennenswerthe geschäftliche Erfolge blieben gerade in diesem für Siemens & Halske kritischen Zeitraum aus.
Da glückte es ihm, eine Aufgabe, an der auch Werner längere Zeit mit unvollständigem Erfolge gearbeitet hatte, in praktischer Weise zu lösen: das Problem der Erfindung eines brauchbaren Wassermessers. Erst durch den seit 1853 infolge eines starken Bedürfnisses rasch steigenden Absatz an Wassermessern gewann Wilhelm nach und nach festen Boden in England und trat auch mit der Werkstatt von Siemens & Halske in regelmäßige Verbindung.
1853 gelang es Wilhelm, auch mit der englischen Kabelfabrik R. S. Newall & Co. eine Geschäftsverbindung anzuknüpfen, welche trotz mancher Mißhelligkeiten Siemens und Halske gerade in dem Augenblicke, wo das Telegraphengeschäft auf dem Lande und besonders die russischen Unternehmungen stockten, in die Seekabelgeschäfte einführte. Für die im J. 1857 von der Firma Newall & Co. ins Werk gesetzten Kabelunternehmungen im mittelländischen Meere lieferten Siemens & Halske die Apparate; auch bewog Wilhelm seinen Bruder Werner zur persönlichen Vornahme der elektrischen Prüfungen bei und nach der Legung. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen veranlaßten Werner zur Aufstellung seiner bedeutsamen Kabellegungstheorie sowie zur Verbesserung seiner Methode der Kabeluntersuchung und schufen damit die Grundlage für die eigenen großen Kabelunternehmungen der späteren Zeit. Es waren hohe Erwartungen, die sich am 1. October 1858 an die Umwandlung der englischen Agentur in ein selbständiges Zweiggeschäft unter Wilhelm’s Leitung und an die gleichzeitige Einrichtung einer kleinen Reparatur- und Instrumentenwerkstatt in London knüpften. –
[216] Schon Anfang des Jahres 1848 hatte Wilhelm die Absicht gehabt, sich in England naturalisiren zu lassen, doch damals zog er mit den Brüdern in den schleswig-holsteinschen Krieg, und der Gedanke trat in den Hintergrund. Am 19. März 1859 führte er seine Absicht aus, und am 23. Juli desselben Jahres verheirathete er sich mit Miß Anne Gordon, der Schwester eines ihm nahestehenden Professors der Ingenieurwissenschaften, aus angesehener schottischer Familie. Durch die Naturalisation sowie durch seine Vermählung wurde es ihm wesentlich erleichtert, im englischen Gesellschaftsleben festen Fuß zu fassen, und auch seine geschäftliche Stellung wurde dadurch bedeutend gekräftigt.
Inzwischen hatte Friedrich, wie schon angedeutet, den ersten Regenerativofen construirt. Wilhelm hatte nicht nur die Bedeutung der Erfindung sogleich erkannt, sondern er baute sehr bald noch größere Hoffnungen auf sie als Friedrich; er hoffte, daß er mit der Verwendung der Regenerativfeuerung in der Eisenindustrie dem Bessemerproceß erfolgreich Concurrenz machen könne. Hierfür bedurfte es aber noch mancher Constructionsänderungen, und die Brüder begannen bald nach verschiedenen Richtungen zu experimentiren. Die Versuche, die auf Wilhelm’s Kosten vorgenommen wurden, verschlangen große Summen, ohne irgend einen wirthschaftlichen Erfolg zu zeitigen. Dabei kam es zwischen den beiden Brüdern zu Meinungsverschiedenheiten und Verstimmungen, die in starken individuellen Gegensätzen wurzelten und daher immer wieder zum Ausbruch gelangten. Auf Werner’s Vermittlung endlich überließ Friedrich 1857 dem Bruder die Ausbeutung seines Patentes in England und setzte mit Hülfe von Siemens & Halske seine Versuche in Deutschland und Oesterreich fort. Indeß bestimmten seine Erfolge Wilhelm, dessen Arbeiten zunächst durch den Ausbruch der großen Handelskrisis sehr behindert wurden, aber auch nachher zu keinem nennenswerthen Abschluß gelangten, ihn zu veranlassen, im Mai 1859 wieder nach England zu kommen, um in Sheffield Stahlschmelzöfen zu bauen. Abermals folgte ein Jahr schwerer Erfahrungen und neuer Verstimmungen. Friedrich verließ England zum zweiten Male und wandte sich nunmehr mit Glück der Glasindustrie zu. Durch die greifbaren Erfolge wurde Wilhelm von neuem angeregt, er übernahm die Leitung der neuen Unternehmungen und verbesserte die Glasöfen sehr bedeutend, namentlich durch Construction von Gasgeneratoren mit geneigter Ebene, wonach es ermöglicht wurde, backende Steinkohlen in continuirlichem Betrieb zu vergasen. Daraufhin gelang es ihm dann sehr schnell, bedeutende Geschäfte zu Stande zu bringen, und durch diese Erfolge ermuthigt, nahm er 1862 seine Bemühungen, die Oefen in der Stahlfabrikation anzuwenden, wieder auf.
In seinem alten Bestreben, das Regenerativsystem irgendwie mit dem Bessemerproceß zu verknüpfen, verlor er den bereits theoretisch zu Tage geförderten Grundgedanken des offenen Herdprocesses wieder aus den Augen. Zwar bauten seine Ingenieure nach seinen auf den Erfahrungen in Sheffield beruhenden Angaben 1862 in Sireuil (Frankreich) den Brüdern Emile und Pierre Martin einen Regenerativ-Schweißofen, der eingerichtet war, in einen Schmelzofen umgewandelt zu werden, sobald sich die Arbeiter mit der Feuerung vertraut gemacht hatten; aber Wilhelm selbst that so nahe am Ziele nichts, um den Herdproceß lebensfähig zu gestalten. Die Brüder Martin waren es, welche in beharrlicher Arbeit als erste die Stahlbereitung auf offenem Herde durchführten. Von ihrem Erfolge, der auf einer glücklichen Combination des Siemens’schen Regenerativprincipes mit dem alten Stahlbereitungsverfahren von J. U. Heath beruhte, erhielt Wilhelm erst nach langer [217] Zeit Kenntniß; er erkannte sehr wohl die Bedeutung des neuen Verfahrens, ließ sich jedoch charakteristischer Weise auch dadurch noch nicht in seinen Versuchen irgendwie beirren. Vielmehr ertheilte er in einem Vertrage vom 3. November 1866 Emile Martin das Recht, seine Oefen anzuwenden und brannte im stillen darauf, die unerwartete Concurrenz zu übertrumpfen. Auf der Pariser Weltausstellung im folgenden Jahre erhielt Wilhelm für seine Versuche um das Flammenofen-Stahlschmelzen den großen Preis – während Martin die goldene Medaille zu Theil wurde –, doch sah er immer noch in dem „Siemens-Martin-Proceß“ eine unzulängliche Lösung des Problems.
Ihm schwebte jetzt als größeres Ziel das Frischen des Roheisens durch Erze im Flammenofen vor. Diesem „directen Proceß“, den er mit Stolz „Siemens-Proceß“ nannte, um ihn von dem Schrottproceß Martin’s recht scharf zu unterscheiden, widmete er seitdem den besten Theil seiner Kraft und sein Vermögen. Als Versuchsanstalt gründete er zunächst 1867 in Birmingham ein eigenes Stahlwerk „The Siemens Sample Steel Works“, in dem er Ende des Jahres seinen ersten eigenen Stahlschmelzofen für offenen Herdbetrieb errichtete. Auf Anrathen Werner’s ging er im nächsten Jahre mit Martin eine engere geschäftliche Verbindung ein, welche die Concurrenz rechtlich beschränkte. Darnach hielt Wilhelm den Augenblick für gekommen, seinem sehnlichsten Wunsche folgend, ein eigenes großes Stahlwerk zur Ausbeutung seiner Erfindungen, besonders des Stahlerzprocesses, zu errichten. Er wählte die Südküste von Wales, verband sich mit dem Zinkfabrikanten Dillwyn in Swansea, und rief 1868 die „Landore Siemens Steel Company“ ins Leben. Bereits 1864 wurden die Landore-Werke in Betrieb genommen. Anfangs sah man eine glänzende Entwicklung, aber auf die Dauer ließen die Versuche zur Vervollkommnung des Verfahrens keine große geschäftliche Entwicklung aufkommen. Das hohe Ziel, das sich Wilhelm gesteckt hatte, den Stahlerzproceß zu dem besten und billigsten Stahlbereitungsverfahren zu machen, sollte auch mit den Landore-Werken nicht erreicht werden, doch wurden dieselben die wichtige Vorschule für die weitere großartige Entwicklung des Siemens-Martin-Processes.
Während Wilhelm mit der Bearbeitung der mannichfachen chemischen, mechanischen und metallurgischen Probleme, welche seine thermodynamischen Unternehmungen im Gefolge hatten, vollauf beschäftigt schien, führte er das Telegraphengeschäft mit beharrlicher Ausdauer fort. Die Erfindung eines elektrischen Widerstandsthermometers und Pyrometers zum Messen von Ofentemperaturen im J. 1860 bringt es zum Ausdruck, wie er die verschiedenen Gebiete seiner Thätigkeit mit einander zu verbinden wußte. Er bemühte sich, nach Lösung des an sich schließlich unerquicklichen Abhängigkeitsverhältnisses zu den englischen Kabelunternehmern, von 1860 ab im Verein mit Werner eigene Kabelgeschäfte zu Stande zu bringen und setzte zu diesem Zwecke die Experimente des Bruders mit neuen Kabelconstructionen und Apparaten zur Kabelabwicklung in der Londoner Werkstatt fort. Aber abgesehen von dem Bau einer Landlinie von Kapstadt nach Delagoa-Bai im Herbst 1862 bis zum Frühjahr 1863 kam es erst 1864 auf sein zähes, kühnes Betreiben hin zu der infolge mangelhaften Functionirens des von ihm construirten Apparates zur Kabelabwicklung drei Mal mißglückten Kabellegung zwischen Kartagena und Oran, die ihm sowohl wie Werner fast das Leben kostete und das Londoner Geschäft etwa der Hälfte seines Kapitals beraubte. Diese technische und wirthschaftliche Niederlage war die Veranlassung zu einer weitgehenden geschäftlichen Krisis, deren Ursache in älteren unausgeglichenen Gegensätzen innerhalb der Leitung der Gesammtfirma zu suchen war. Nur durch Werner’s selbstloses Eingreifen wurde weiteres Unglück vermieden: er übernahm persönlich alle [218] Rechte und Verpflichtungen der Firma Siemens & Halske am Londoner Geschäft und führte dasselbe vom 1. Januar 1865 ab mit Wilhelm unter der Firma „Siemens-Brothers“ weiter.
Ungebeugt durch, das Unglück des letzten Jahres schrieb Wilhelm am Jahresschluß an Werner: „… die Zweifel sind gehoben, und die neue Bahn ist gebrochen. Daher Vertrauen in Gott und tapfer vorwärts!“ In der That trat jetzt in dem englischen Geschäft eine entscheidende Wendung zum Besseren ein. Wilhelm gelang es, bedeutende Lieferungsverträge zu Stande zu bringen und trotz gewaltiger Concurrenz das Kabelgeschäft derart zu entwickeln, daß sich sein Unternehmungsgeist trotz größter politischer und wirthschaftlicher Schwierigkeiten sehr bald des Planes einer neuen Ueberlandverbindung mit Indien bemächtigte. Auch bei der überaus schwierigen Durchführung dieses großen für die Entwicklung der Firma auf Jahre hinaus maßgebenden Unternehmens blieb er der Unternehmungslustige, der vor allem Werner’s gelegentliche Bedenken zu zerstreuen wußte. Er führte die entsprechenden Verhandlungen mit der englischen Regierung und der Concurrenz, wobei seine genaue Kenntniß der englischen Verhältnisse, sein gewandtes, zuversichtliches Auftreten von großer Bedeutung war, und bei der glatten Legung der Strecke durchs schwarze Meer im Sommer 1869 war er persönlich zugegen, begleitet von seiner Gattin, der vertrauten Genossin seiner Forschungen und Entwürfe, seiner Enttäuschungen und seiner Erfolge.
Die indo-europäische Linie verschaffte der Firma, den großen englischen Capitalmächten und den mit diesen verbündeten Kabelgesellschaften zum Trotz, eine führende Stellung. Unter Inanspruchnahme des continentalen Capitales gelang es daher Wilhelm wenige Jahre später, im Verein mit seinem Bruder Karl, welcher nach der 1868 erfolgten Begründung der Gesammtfirma zu seiner Unterstützung in dem wachsenden Telegraphengeschäfte 1869 nach London übergesiedelt war, eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, welche der Firma die Anfertigung und Legung eines directen Kabels zwischen Irland und den Vereinigten Staaten in Auftrag gab. Für dieses Unternehmen, dessen Leitung Karl und Werner persönlich übernahmen, ließ Wilhelm 1874 einen eigenen großen Dampfer „Faraday“ erbauen. Die geniale Construction desselben bedingte den Erfolg auch der weiteren sechs transatlantischen Kabelunternehmungen, deren Zustandekommen überhaupt in erster Linie Wilhelm’s Persönlichkeit zu danken ist.
Etwa von seinem fünfzigsten Lebensjahre an war Wilhelm in der Lage, seiner Neigung gemäß mehr die wissenschaftliche Seite seiner Berufsthätigkeit zu betonen. Namentlich bethätigte er sich unermüdlich in den zahlreichen wissenschaftlichen Vereinen, denen er angehörte, und trug auf diese Weise viel dazu bei, die englische Technik auf das Niveau der fortgeschrittenen Naturwissenschaft zu heben. Er suchte sich um das Gemeinwohl verdient zu machen, indem er Vorschläge zur Beseitigung des Rauches in großen Städten und zur Benutzung des Gases für Heizzwecke machte. Er belebte die Metallurgie durch seine Ideen und stellte geistvolle Untersuchungen über Sonnenphysik an. Seine bedeutendsten Thaten auf dem Gebiete der Elektricität sind die Erfindung der Nebenschlußmaschine und des elektrischen Ofens, sowie seine Untersuchungen über Verwerthung von Wasserkraft und über Elektrocultur.
Er starb am 19. November 1883 in seinem sechzigsten Lebensjahre an einem wenig beachteten Herzleiden. Doch wenn auch der Tod bei vielen seiner Arbeiten eine anscheinend glückliche Versuchsreihe plötzlich und unerwartet durchschnitt, schon bei Lebzeiten war Wilhelm einer der gefeiertsten Männer Englands. Von den hervorragendsten wissenschaftlichen und technischen Gesellschaften [219] wurde er wiederholt zum Präsidenten gewählt. Der höchsten Ehren, welche diese Vereine auszutheilen vermögen, wurde er theilhaftig; 1870 promovirte ihn die Universität zu Oxford, 1879 diejenige zu Glasgow zu ihrem Ehrendoctor und am 20. April 1883 wurde ihm als Sir William Siemens die Ritterwürde verliehen. Sein Tod wurde in ganz England als ein nationaler Verlust betrauert; unter großem Gepränge beging man in der Westminster-Abtei die Trauerfeier, und ein Jahr nach seinem Tode fand daselbst vor einer glänzenden Versammlung die feierliche Einweihung eines zu seinem Gedächtniß gestifteten Kirchenfensters statt.
Kaum je dagewesen waren solche Ehrungen für einen Fremden, der ohne alle Beziehungen und ohne Mittel den britischen Boden betrat, selbst wenn man erwägt, daß Wilhelm, ohne den Zusammenhang mit seinem Vaterlande jemals zu vergessen, ungewöhnlich schnell nicht nur in seinen Sitten, sondern auch in seinen Bestrebungen Engländer geworden war. Bei ihm überwog – im Gegensatz zu Werner – der geschäftliche Unternehmer und der eng mit diesem verbundene Ingenieur, beides Eigenschaften, die in England einen ausgezeichneten Nährboden fanden; seine großen wissenschaftlichen Neigungen beruhten auf einer mehr receptiven Begabung. Mit ungewöhnlichem Scharfblick und großem Verständniß für die brennenden Tagesfragen erfaßte er den Kern sowie die Bedeutung technischer Probleme, zu deren Lösung er sogleich sein mit Leichtigkeit erworbenes Wissen zu verwerthen wußte; indeß trugen seine zahlreichen, vielfach ohne rechte Selbstkritik vertretenen Erfindungen zu sehr die Spuren wissenschaftlicher Arbeit, sie waren stets überaus geistvoll, aber meist zu complicirt. Rastlos und mit größter Zähigkeit betrieb er seine oft waghalsigen und nicht immer von Glück begleiteten Unternehmungen. Den zeitraubenden Pflichten des Gesellschafts- und Vereinslebens unterzog er sich weniger in dem Bedürfniß nach Anerkennung oder gar nach Zerstreuung, als vielmehr in dem unablässigen Bestreben, sich die Unterstützung maßgebender Persönlichkeiten zur Ausführung seiner hochfliegenden Pläne zu sichern und durch Austausch der Gedanken zu lernen, wobei ihm sein früh ausgeprägtes weltmännisches Wesen und seine Eigenschaft als ausgezeichneter Redner in hohem Maße förderlich waren. Seine eigenartige, sanguinische Natur, sein beharrlicher, leicht verletzter Ehrgeiz machten seinen Brüdern den Umgang mit ihm zu Zeiten nicht leicht, dennoch wurden sie ihm stets gerecht, und ihr gemeinsames Lebenswerk ist nicht zum wenigsten Wilhelm’s stark repräsentativer Persönlichkeit, seinen hervorragenden Fähigkeiten als Ingenieur und Unternehmer zu danken. –
Eine Zusammenstellung der sehr zahlreichen litterarischen Arbeiten von Wilhelm S. befindet sich in den Mittheilungen des „Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes“ unter dem 7. Januar 1884.
- William Pole, Life of Sir William Siemens, englische und deutsche Ausgabe. Berlin 1888 und 1890. – R. Ehrenberg, Die Unternehmungen der Brüder Siemens, 1. Band. Jena 1906. – Derselbe, Entstehung und Bedeutung großer Vermögen, „Deutsche Rundschau“, Jahrg. 1902, S. 63 ff., 250 ff. Berlin. – Derselbe, Studien in dem von ihm herausgeg. „Thünen-Archiv“, Jahrg. 1906, S. 34 ff., 279 ff., Jahrg. 1907, S. 18 ff. Jena. – Werner von Siemens, Lebenserinnerungen. Berlin 1901.
Friedrich August S., geboren am 8. December 1826 zu Menzendorf, † am 26. Mai 1904 *) zu Dresden, war das neunte Kind, der siebente Sohn [220] seiner Eltern. Von ungewöhnlich zarter Körperconstitution, empfing er den ersten Unterricht von seiner im elterlichen Hause lebenden Großmutter und wurde erst mit elf Jahren aufs Gymnasium nach Lübeck geschickt. Er mußte den Schulbesuch oft und lange krankheitshalber unterbrechen und kam weder geistig noch körperlich recht vorwärts.
Der in dem Drange nach Freiheit selbstgewählte Seemannsberuf kräftigte ihn zwar seit seinem fünfzehnten Jahre außerordentlich, gewann ihm aber auf die Dauer keine rechte Befriedigung ab. Im Frühjahr 1845 kam Friedrich auf Einladung Werner’s nach Berlin, um sich durch Privatunterricht, sowie durch Besuch einer Seemannsschule zum Eintritt als Cadett auf dem ersten preußischen Kriegsschiff vorzubereiten; aber sein bald lebhaft erwachtes Interesse für die Erfindungen und technischen Leistungen Werner’s, dazu der Unterricht, den ihm der Bruder in Statik und Mechanik ertheilte, führten ihn auf einen anderen Weg. Er bezeichnete es nach Werner’s Etablirung mit Halske Ende 1847 als „sein ideales Ziel, Halske’s Nebenbuhler zu werden, nämlich Telegraphen zu bauen und sich wissenschaftlich wie praktisch hauptsächlich hierfür auszubilden“.
Da kam das Jahr 1848. Friedrich ging mit den Brüdern nach Schleswig-Holstein, unterstützte Werner bei Anlage seiner Minen im Kieler Hafen und ging dann mit dem Freicorps nach Jütland, ohne jedoch Gelegenheit zu besonderen Thaten zu finden.
Unter diesen Umständen siedelte er bereits im Juni 1848 im Einverständniß mit seinen Brüdern nach England über, um dort unter Wilhelm’s Leitung Werner’s Telegraphenapparate einzuführen. Seine bis zum Frühjahr 1849 fortgesetzten Bemühungen blieben indessen erfolglos, obwohl er Werner’s Erfindung noch verbesserte.
Friedrich blieb jedoch in England und ließ sich von der Firma Fox & Henderson bei Birmingham als Assistent seines Bruders Wilhelm bei dessen Versuchen zur Ausgestaltung des Regenerativprincipes verpflichten. In dieser Eigenschaft stellte er in den folgenden Jahren in England sowie in Deutschland Wilhelm’s Apparate auf, wobei seine eigentliche Veranlagung mehr und mehr in die Erscheinung trat. Er hatte bald die Ueberzeugung gewonnen, daß Wilhelm’s Maschinen wesentlich zu vereinfachen seien, und, nachdem ihm einige Erfindungen von „perpetua mobilia“ mit Mühe ausgeredet waren, construirte er unter anderem einen mechanischen Kälteapparat, sowie eine calorische Maschine, über die sich Werner sehr günstig aussprach. Mit Wilhelm kam Friedrich weniger gut aus; dieser klagte, Friedrich baue und experimentire, ohne die Sache vorher construirt und zu Papier gebracht zu haben. Die beiden Brüder waren auch zu verschiedenartige nervöse Menschen. Dabei hatte Wilhelm zweifellos die größere Vorbildung und war zu jener Zeit auch an kaufmännischem Geiste der bedeutendere, während Friedrich dem Bruder unstreitig als Erfinder überlegen war; keiner konnte mit seiner Meinung hintenan halten, und so wurde den beiden die gemeinsame Arbeit immer unerträglicher.
Da kam Friedrich im November 1856, als Wilhelm gerade von England abwesend war, der Gedanke, einen Schmelzofen nach dem Regenerativsystem zu erbauen, und dieser Gedanke wurde zu einer That von weltgeschichtlicher Bedeutung, welche auch Friedrich’s Zukunft endgültig bestimmte. Die bei den bisherigen Ofenconstructionen trotz aller Bemühungen der Technik immer noch [221] nutzlos entweichende Wärme wurde in dem Regenerativofen viel vollkommener ausgenutzt, und dadurch wurden außerordentlich billig sehr hohe Hitzgrade erzeugt. Zwar hat sich der Siemensofen erst nach langen Kämpfen und Verbesserungen in der Industrie Eingang verschafft, dann aber ist sein Nutzen wahrhaft unermeßlich geworden.
Wilhelm, der die große Bedeutung der Erfindung sogleich erkannte, nahm nach seiner Rückkehr am 2. December 1856 auf den Namen des Bruders in England das erste Patent auf eine „Verbesserung an Oefen“. Im folgenden Jahre waren Wilhelm und Friedrich mit dem nothwendigen Ausbau der Erfindung beschäftigt, entfernten sich dabei aber immer mehr von einander, zumal die durch Wilhelm veranlaßten Versuche mit Stahlschmelzöfen in Sheffield unter großen Kosten scheiterten. Schon hatte Friedrich einen alten Plan, nach Amerika auszuwandern, wieder aufgenommen, da lud ihn Werner ein, nach Berlin zu kommen, um dort mit ihm seine Versuche fortzusetzen.
Er kehrte demzufolge Ende 1857 nach Deutschland zurück, um sich zunächst mit Verbesserung der Ofenbaumaterialien zu beschäftigen. Dann gelang es ihm im Verein mit Werner, der an dem schließlichen Erfolge der Erfindung keinen Augenblick zweifelte, den Regenerativofen durch Einführung von Gasbetrieb auf eine wesentlich höhere Stufe der wirthschaftlichen Verwerthbarkeit zu heben. Der Versuch, in Preußen ein Patent zu erlangen, mißlang freilich, weil angeblich schon die deutschen Ordensritter einen solchen Ofen gehabt hätten; dagegen wurde 1858 das Patent für Sachsen ertheilt, wo sich ein anderer Bruder, Hans (geboren am 3. December 1818), dem Ofenbau widmen sollte. Auch in Oesterreich baute Friedrich seine Gasöfen mit gutem Erfolge, und als seine Unternehmungen hier durch Ausbruch des italienischen Krieges unterbrochen wurden, siedelte er im Mai 1859 wiederum nach England über, um nach seinem System für Wilhelm in Sheffield einen Stahlschmelzofen zu bauen. Es sollte die Brauchbarkeit der Gasfeuerung bei Steinkohlenbetrieb erprobt werden, denn bislang hatten die Gasöfen nur bei Torf-, Braunkohlen- und Holzbetrieb greifbare Erfolge gezeitigt. Die zahlreichen, für Wilhelm sehr kostspieligen Versuche mißlangen, die frühere Verstimmung zwischen den Brüdern kehrte in verstärktem Maße wieder, und Ende Februar 1860 verzweifelte Friedrich selbst an dem Erfolge des Stahlschmelzens mit Steinkohlen. Die schweren Erfahrungen des letzten Jahres hatten ihm die von Werner schon 1858 vertretene Ueberzeugung gebracht; daß für die Regenerativöfen die Glasfabrikation einstweilen die besten Aussichten bot, und damit wurde die Bahn frei, die zum eigentlichen wirthschaftlichen Erfolge führen sollte.
Die von Friedrich nunmehr in Rotherham erbauten Glasschmelzöfen hatten gleich einen ausgezeichneten Erfolg, der Wilhelm das größte Interesse abgewann, und demgemäß das brüderliche Verhältniß wieder herstellte; es folgte abermals eine Zeit gemeinsamer Arbeit. Wilhelm verstand es, die englische Glasindustrie für die Oefen zu interessiren, nachdem er dieselben persönlich durch Construction von Gasgeneratoren mit geneigter Ebene für Steinkohlenbetrieb tauglich gemacht hatte. Auf diese und andere Verbesserungen nahmen die Brüder am 22. Januar 1861 ein gemeinsames englisches Patent, dem bald solche in anderen Ländern folgten. Diese Patente sind insofern von besonderer Bedeutung, weil in ihnen bereits der Gedanke des offenen Herdprocesses festgelegt ist; alle späteren Fortschritte beziehen sich nur auf seine Ausgestaltung.
Immerhin ließ der entscheidende Erfolg auch jetzt noch auf sich warten. Der technische Fortschritt war noch keineswegs unbestritten, auch fehlte auf dem Festlande die geeignete geschäftliche Vertretung. In der von seinen [222] Brüdern getheilten Ueberzeugung, daß nur bei eigenem Betriebe sich die Construction gewinnbringend verwerthen ließe, stattete Werner Anfang 1862 Hans mit dem erforderlichen Capital aus, eine Glashütte bei Dresden käuflich zu erwerben. Die Hütte lieferte allerdings einstweilen nicht die erhofften Erträge; das war Friedrich’s persönlichem Wirken vorbehalten. Dieser hatte inzwischen durch seine Experimente, die fortgesetzt Aenderungen des Gasofens bedingten, neue Mißhelligkeiten zwischen sich und Wilhelm heraufbeschworen; dieselben führten eine endgültige Auseinandersetzung zwischen den Brüdern herbei. Friedrich übernahm Deutschland, Oesterreich und den übrigen Osten Europas als Geschäftsgebiet auf eigene Rechnung und siedelte Anfang des Jahres 1864, kurz nach seiner Vermählung mit Elise Witthauer aus Lübeck, nach Berlin über, wo er mit Werner’s Hülfe ein Ofenbaugeschäft gründete. Aber trotz der eifrigsten Bemühungen Friedrich’s wurden auch in Deutschland durchschlagende Erfolge noch nicht erzielt, und einige Fabrikanten ließen ihre Oefen sogar wieder abreißen.
Da starb am 28. März 1867 Hans S., und Friedrich übernahm dessen Glasfabrik bei Dresden, die bisher nur mit Verlusten gearbeitet hatte. Zwar verfügte er noch immer nicht über eigenes Capital, vielmehr mußte er in dieser Beziehung zunächst wieder hauptsächlich Werner’s Hülfe in Anspruch nehmen. Aber er brachte werthvolle Erfahrungen mit, sowie große Unternehmungslust, war doch endlich sein höchster Wunsch nach Selbständigkeit erfüllt. Bereits am 1. October 1867 setzte er den von ihm erfundenen „gekühlten, continuirlich arbeitenden Wannenofen“ in Betrieb, der in der Glasfabrikation eine völlige Umwälzung hervorgerufen hat und seinem eigenen Betriebe trotz der immer wieder nöthigen Um- und Neubauten einen rapiden Aufschwung gab. Eine weitere, auch für das Siemens-Martin-Verfahren höchst bedeutsame Verbesserung schuf er durch Einführung des Betriebes mit freier Flammenentfaltung, mit dem er sich seit 1877 beschäftigte, und der eine weitere große Brennstoffersparniß, sowie eine noch bessere Schmelzarbeit ermöglichte. Auch erfand er für Herstellung von Hartglas mehrere neue Methoden und begründete in Dresden hierfür eine besondere Fabrik. Seit 1879 bemühte er sich, das Regenerativsystem auch auf die Beleuchtung anzuwenden und erfand die Regenerativ-Gaslampen, für deren Herstellung er Werke in Dresden, Berlin, Wien und London errichtete, sowie Fabriken in Paris und Philadelphia zu interessiren wußte. Und als diese Erfindung durch das Aufkommen des Gasglühlichtes an Bedeutung verlor, hatte er bereits in den Regenerativgas-Zimmeröfen eine neue Anwendung des Regenerativsystems geschaffen, die jene Fabriken zum Theil voll beschäftigte.
Als Wilhelm Ende 1883 aus dem Leben schied, wurde Friedrich gezwungen, auch das englische Ofengeschäft zu übernehmen und es, was seiner Natur sehr widersprach, durch häufiges Auftreten in den englischen Vereinen zu fördern. Zugleich versuchte er die Rentabilität des von dem Bruder begründeten großen Stahlwerkes in Landore zu heben, was ihm aber trotz der von Erfolg begleiteten Aufstellung seiner neuen Oefen mit freier Flammenentfaltung nicht gelang. Auch das eigene Werk, die „Elisenhütte“ bei Nassau, welches er sich zur Durchführung des von Wilhelm erfundenen Erzstahlprocesses baute, mußte schließlich seinen Betrieb einstellen. Doch ist das von Friedrich fortgeführte Lebenswerk Wilhelm’s für das Siemens-Martin-Verfahren eine Pionierarbeit von größter Bedeutung geworden.
Friedrich’s Erfindung von Motoren für Kleinbetrieb, sowie seine mit großem Arbeits- und Geldaufwand verknüpfte Betheiligung an dem Walzverfahren der Gebrüder Mannesmann kann hier nicht näher gewürdigt werden; ein wirthschaftlicher Gewinn ist ihm daraus nicht erwachsen. Dagegen war [223] seiner Erfindung chemischer Regeneration der Wärme des Siemensofens wieder ein außerordentlicher Erfolg beschieden.
Problematisch hatte Friedrich’s Leben und Wirken begonnen, schwer hatte er noch in den achtziger Jahren zu kämpfen, doch er erreichte sein Ziel; es war ihm noch vergönnt, große blühende Unternehmungen sein eigen zu nennen. Dabei vertrat er stets die Anschauung, daß die wahren Interessen aller an seinen Unternehmungen Betheiligten Hand in Hand gingen; wie er für alle gemeinnützigen Bestrebungen stets eine offene Hand hatte und für sie selbst im öffentlichen Leben eintrat, so gewährte er im besonderen seinen Beamten Antheil am Reingewinn und wußte auf der anderen Seite den nur in Tagelohn beschäftigten Arbeitern durch Einführung von Productionsprämien einen gerechter Weise erhöhten Verdienst zu verschaffen.
Im J. 1888 verkaufte Friedrich seine drei Glashütten in Dresden, Döhlen und Neusattl bei Ellbogen für einen verhältnißmäßig sehr geringen Preis, da sie ihm nicht mehr genug Stoff zu erfinderischer Thätigkeit boten; sie wurden in eine „Actiengesellschaft für Glasindustrie“ umgewandelt. Für die Gesammtheit seiner Beamten und Arbeiter sorgte er durch erhebliche Stiftungen. Noch anderthalb Jahrzehnte der aufreibendsten Arbeit folgten: am 26. Mai 1904 setzte der Tod seinem Leben ein Ziel.
Die Technische Hochschule zu Dresden hat Friedrich S. 1901 als Erstem den Titel „Doctor Ingenieur“ Ehren halber verliehen und dadurch seine Bedeutung für die Entwicklung der wichtigsten Weltindustrien hervorheben wollen. Wir glauben an dieser Stelle Friedrich’s Persönlichkeit gerecht zu werden, wenn wir ihr unter den Brüdern S. nächst derjenigen Werner’s den hervorragendsten Platz einräumen.
Was Werner S. auf dem Gebiete der Elektricität, das hat Friedrich auf dem Gebiete der Wärmeökonomie geleistet. Inesbesondere ist die große Entwicklung der deutschen Grünglasindustrie bei aller Mitarbeit der Brüder in erster Linie seinem schöpferischen Geiste zu danken, „der die für Deutschland vorher ungünstigen Productionsbedingungen völlig umgestaltet und hierdurch auch den deutschen Handarbeitern wesentlich bessere Existenzbedingungen geschaffen hat, als sie früher vorhanden gewesen waren“. (Ehrenberg.)
Dabei war Friedrich noch vielmehr als Werner Autodidakt. Es lag ihm nur wenig, dem Ideengange eines anderen nachzugehen, geschweige denn von anderen etwas zu lernen; seine Kenntnisse beruhten auf einer ausgezeichneten Beobachtungsgabe, unermüdlichem Fleiß und eigenen mit schweren Opfern erkauften Erfahrungen. Er grübelte über einem Problem nur um der Sache selbst willen, Ehrgeiz und Erwerbssinn spielten in seinem Leben nur eine ganz untergeordnete Rolle. Geraden Sinnes und nicht danach geartet, nach außen etwas aus sich zu machen, auch in Anbetracht seiner zarten Gesundheit dem gesellschaftlichen Leben abhold, hing er am liebsten still für sich seinen Erfindungsgedanken nach, um sie dann in eigenen Fabriken mit unermüdlicher Thatkraft, aber auch voll Wohlwollen für die Geringsten unter seinen Mitarbeitern durchzuführen und auszugestalten. Er war kein Geschäftsmann in dem Sinne, daß er sein Thun und Lassen sorgfältig abgewogen hätte; er pflegte sich nur einen großzügigen Ueberblick über seine Unternehmungen zu erhalten und diesen in weitausschauender Weise zu verwerthen, wobei ihn eine außergewöhnliche Gewandtheit und Sicherheit im Rechnen und ein erstaunliches Zahlengedächtniß unterstützten. Friedrich S. war nicht allein der geborene Erfinder, der die Welt der Technik durch die meist überraschende Einfachheit seiner Ideen in Erstaunen setzte, er war auch für die erste industrielle Gestaltung [224] seiner Erfindungen, die heute Gemeingut aller Culturvölker geworden sind, der rechte Mann. –
„Ueber die Vortheile der Anwendung hoch erhitzter Luft für die Verbrennung im allgemeinen“, Berlin 1883; „Das Heizverfahren mit freier Flammenentfaltung“, Berlin 1885; „Ueber den Verbrennungsproceß“, ebenda 1887.
- R. Ehrenberg, Die Unternehmungen der Brüder Siemens, 1. Band. Jena 1906. – Derselbe, Entstehung und Bedeutung großer Vermögen, „Deutsche Rundschau“, Jahrg. 1902, S. 68 ff., 250 ff. Berlin. – Derselbe, Studien in dem von ihm herausgegebenen „Thünen-Archiv“, Jahrg. 1906, S. 279 ff., Jahrg. 1907, S. 18 ff. Jena. – v. Böhmert, Erinnerungen an Friedrich Siemens im „Arbeiterfreund“, Jahrg. 1904, Heft 3 (enthaltend Abdruck einer handschriftlichen Selbstbiographie Friedrich Siemens’). – Werner von Siemens, Lebenserinnerungen. Berlin 1901.
Karl Heinrich S., geboren am 3. März 1829 zu Menzendorf, † am 21. März 1906 *) zu Mentone, war das zehnte Kind, der achte Sohn, seiner Eltern. Nach deren Tode besuchte er mit seinem Bruder Friedrich zusammen die Schule in Lübeck, dann in Berlin. Hier ließ ihn Werner frühzeitig an seinen Ideen theilnehmen, deren nachhaltige Einwirkung für Karl’s Zukunft entscheidend werden sollte.
1846 verließ er die Schule und nach dreijährigen tastenden Versuchen in der Chemie, insbesondere der Cementfabrikation, erklärte er, sich ganz der Telegraphie zuwenden zu wollen. Werner rieth ihm nach einigem Zögern, entweder als Telegrapheningenieur in den preußischen Staatsdienst zu treten oder zu versuchen mit dem Bau von Privatlinien Geld zu verdienen. Karl wählte 1850 das erstere und konnte infolge dessen Werner bei den staatlichen Telegraphenbauten behülflich sein. Als dann die Beziehungen des Bruders zur preußischen Telegraphenverwaltung mehr und mehr erkalteten, trat Karl ganz zu Siemens & Halske über, wo er nach einiger Zeit den geeigneten Wirkungskreis finden sollte.
Im April 1851 verließ er zum ersten Male Deutschland, um mit Friedrich auf der Londoner Weltausstellung die geschäftlichen Interessen wahrzunehmen. Im Vertrauen auf seine geschäftliche Veranlagung entsandte ihn Werner dann 1851 mit größerer Vollmacht nach Paris, wo die Brüder die Einrichtung einer eigenen Telegraphenfabrik ins Auge gefaßt hatten. Die Mission blieb geschäftlich bedeutungslos, erwies sich aber für Karl’s eigene Entwicklung außerordentlich wichtig: er sammelte Menschenkenntniß und lernte Vorsicht im geschäftlichen Umgang, Dinge, die ihm und seiner Firma später sehr zu gute kommen sollten.
Mit der Rückkehr aus Frankreich war die endgültige Entscheidung über Karl’s Zukunft in unmittelbare Nähe gerückt. Noch 1851 gab Werner einem schon wiederholt geäußerten Gedanken Ausdruck, als er an Karl die Frage richtete, ob er nicht Lust habe, dem russischen Kaiser vorläufig ein Probejahr als Telegraphendirector dienstbar zu sein. Karl antwortete zustimmend, ging aber einstweilen im Einverständniß mit Werner wieder nach London, wo die Aussichten für sein Fortkommen günstiger lagen.
Erst im Juli 1853 reiste Karl nach Rußland, um sich zunächst dem allmächtigen Grafen Kleinmichel vorzustellen, bei dem ihn Werner inzwischen persönlich als seinen berufenen Stellvertreter angekündigt hatte. In erstaunlich [225] kurzer Zeit gewann der 24jährige daß Vertrauen der leitenden Männer, indem er sich durch geschickte Anpassung an die sonderbarsten Charaktere und die schwierigsten Verhältnisse seiner außerordentlichen Aufgabe vollkommen gewachsen zeigte. Noch im Herbst 1853 vollendete er die von Werner vorbereitete Kronstädter Kabellinie und in den folgenden beiden Jahren unter dem Druck des Krimkrieges die für Rußland hochbedeutsamen oberirdischen Telegraphenlinien, welche Petersburg und Moskau mit den entfernten Punkten des Reiches, Warschau, Reval, Riga, Helsingfors, Kiew und Odessa verbinden sollten. Das war in der kurzen Zeit eine Leistung, die man erst recht würdigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß fast alle Materialien und Hülfskräfte aus Deutschland bezogen werden mußten, daß es damals in Rußland nur zwei Eisenbahnlinien gab, und das alle Straßen und Verkehrsmittel durch Kriegstransporte in Anspruch genommen waren. Es war auch ein glänzender Erfolg insofern, als die Firma Siemens & Halske durch Karl’s Thätigkeit einen ungeahnten Aufschwung erhielt, der für sie in jener Zeit eine Lebensfrage war.
Mit Karl’s Geschicklichkeit in der Ueberwindung aller Schwierigkeiten wuchs auch sein Muth zur Uebernahme weiterer Anlagen; selbst Werner’s leise Bedenken wußte er zu zerstreuen. Neben den fortlaufenden weiteren Aufträgen der Regierung übernahm er 1854 auch die sogenannte Remonte, die Instandhaltung der Linien, und schuf damit für Siemens & Halske die Haupteinnahmequelle des russischen Geschäftes, da es gelang, die Controlle der kleinen Zwischenstationen auf den großen Linien statt durch Menschen durch automatische Apparate zu Wege zu bringen.
Inzwischen hatte das in Petersburg errichtete Baubureau einen solchen Umfang angenommen, daß beschlossen wurde, es unter Karl’s bewährter Leitung in ein unabhängiges Zweiggeschäft umzuwandeln. Die Neuorganisation wurde im J. 1854 vorgenommen, und im Frühjahr 1855 wurde Karl in Anerkennung seiner bedeutenden Verdienste um die Firma und zur Kräftigung seiner Stellung in Rußland als Theilhaber im Hauptgeschäfte aufgenommen.
Die letzten Jahre, welche die äußerste Anspannung aller Kräfte erfordert hatten, waren an Karl’s Gesundheit nicht spurlos vorübergegangen. 1855 stellten sich körperliche Beschwerden ein, welche ihm das russische Klima gründlich verleideten. Aber er konnte an keine Erholung denken, zumal die wachsende geschäftliche Verantwortung allein auf seinen Schultern ruhte; hatte doch Werner seine Reisen nach Rußland im Vertrauen auf die geschäftliche Kraft des Bruders längst eingestellt. Nicht einmal zu einer Hochzeitsreise konnte Karl die Zeit erübrigen, als er Ende 1855 die Tochter Marie des Bankiers Kapherr, des früheren Vertreters von Siemens & Halske in Petersburg, als Gattin heimführte.
Hinzu kamen schwere geschäftliche Sorgen, die sich an den Tod Kaiser Nikolaus’ und den dadurch veranlaßten Wechsel in den maßgebenden russischen Aemtern knüpften, doch gelang es Karl unter den sehr schwierigen Verhältnissen dank seiner Anpassungsfähigkeit, das russische Geschäft bis zum Jahre 1860 vorübergehend wieder zu heben. Die Erkenntniß aber, daß der Höhepunkt des russischen Telegraphengeschäftes vorüber sei, und andererseits das fast mühelose Anwachsen des Remontefonds reizten seine Unternehmungslust: er wurde zu den verschiedensten ganz fernliegenden Geschäften verleitet, an denen viel Geld verloren ging, und die ihn schwer niederbeugten. Erst im April 1867 konnte er sich, da ihn trotz Werner’s ernstlichen Vorstellungen immer wieder optimistische Erwartungen beherrschten, dazu entschließen, von den unfruchtbaren Unternehmungen ganz zurückzutreten.
[226] Zu seinem Glücke verlief die Abnahme der Remonteverwaltungen durch die russische Regierung im J. 1867 noch über Erwarten günstig. Aber die körperlichen und seelischen Nachwirkungen des fünfzehn Jahre langen wechselvollen Kampfes um das russische Geschäft und dazu ein schweres Leiden seiner Gattin bedrückten ihn zu sehr, als daß er persönlich auf dieses Ergebniß mit Befriedigung hätte zurückschauen und hoffnungsfreudig der zukünftigen Entwicklung hätte entgegensehen können; er sehnte sich nach einem anderen Wirkungskreise.
Nach mancherlei Ueberlegungen wählte er den Kaukasus, wo er 1864 mit Werner das inzwischen bereits zu größerer Ausdehnung herangewachsene Kupferbergwerk Kedabeg erworben hatte. Das nur allzu berechtigte Mißtrauen in die dortige Geschäftsleitung, ferner die von ihm schon vor Jahren gewonnene Ueberzeugung, daß der Kaukasus zu neuen bedeutenden Unternehmungen geeignet sei und endlich die Hoffnung auf Genesung seiner leidenden Frau unter dem Einfluß des kaukasischen Klimas ließen ihn Anfang October 1867 nach Tiflis übersiedeln.
Die Hebung von Kedabeg nahm Karl’s Thätigkeit bald vollkommen in Anspruch. Er ließ sich namentlich die Lösung der technischen Schwierigkeiten, soweit dieselben an Ort und Stelle gelöst werden mußten, angelegen sein; es gelang ihm insbesondere die Erzeugung eines reinen „Garkupfers“, die von den europäischen Fachleuten geheim gehalten wurde, selbständig nachzuerfinden und damit ein für die damalige Zeit vollendet reines Product auf den Markt zu bringen. – Da trat im Sommer 1868 in dem Leiden seiner Gattin eine erhebliche Verschlimmerung ein, die Karl bewog, den eben gewonnenen neuen Wirkungskreis Hals über Kopf zu verlassen.
Er reiste zunächst nach Berlin, wo er Werner in der Leitung des Geschäftes entlastete, der seinerseits im November den Kaukasus aufsuchte. Dann ging er, nach dem zu Anfang 1869 in Berlin erfolgten Tode seiner Gattin, auf einige Wochen nach London, um das dortige Geschäft kennen zu lernen und die damalige Spannung zwischen dem Berliner und Londoner Hause zu beseitigen. Im Sommer 1869 legte er mit Wilhelm das Kabel im Schwarzen Meere und nahm hiernach in der Direction von Kedabeg eine wesentliche Veränderung vor. Dort entschloß er sich, Werner’s Wunsche entsprechend, endgültig nach London überzusiedeln, wo er hoffen durfte, seine besonderen geschäftlichen Fähigkeiten am besten zu verwerthen.
Im Herbst 1869 brachte er diesen Entschluß zur Ausführung und übernahm die gesammte Remonteverwaltung der indo-europäischen Telegraphenlinie, deren Bau er seit 1867 in Rußland und im Kaukasus nach Kräften gefördert hatte. Auch regte er gleich nach seiner Ankunft in London, zusammen mit Wilhelm, die Erweiterung einer eigenen Guttaperchafabrik an, wodurch sich dem Geschäft erst die Aussicht auf Theilnahme an dem transatlantischen Kabelgeschäfte eröffnete. Die Bedenken der Brüder gegen diese gewaltigen Unternehmungen wußte er voller Zuversicht zu beseitigen, und er selbst leitete die erste Legung des von der Firma construirten transatlantischen Kabels, wobei es ihm zum Erstaunen der Welt gelang, das in einer Meerestiefe von 5500 m gebrochene Kabel wieder aufzufischen. Die bei dieser Legung gewonnenen Erfahrungen führten erst zur vollen Klärung und Beherrschung der Kabellegung im tiefen Wasser, insbesondere wurden in Zukunft durch die von Karl vorgeschlagene geschlossene Stahldrahtarmirung der Tiefseekabel alle Schwierigkeiten beseitigt.
Karl’s bedeutsame Thätigkeit in London wurde nur durch gelegentliche Fahrten zum Kaukasus und im Juni 1870 durch eine Reise nach Petersburg, [227] wo es galt, eine Menge schwebender Fragen zu ordnen, unterbrochen. Die große Zeit des deutsch-französischen Krieges durchlebte auch er mit starkem deutschen Empfinden.
Inzwischen war das Petersburger Geschäft nach dem Ausscheiden seines berufenen Leiters wachsender Desorganisation anheimgefallen, der die sorgfältigsten Instructionen Werner’s keinen Einhalt gebieten konnten. Unter diesen Umständen übernahm Karl, der überdies unter dem feuchten englischen Klima zu leiden begann, und bei dessen Kindern sich eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrem Geburtslande entwickelt hatte, im J. 1880 wieder die Direction des russischen Hauses, welches auf dem Gebiete der Starkstromtechnik seiner Vergangenheit würdige Leistungen anstrebte, und unter seiner Führung erhob sich das Geschäft schnell wieder zur Blüthe.
Als dann Werner im J. 1890 von der Geschäftsleitung der Berliner Firma zurücktrat, blieb Karl als Socius mit seinen beiden Neffen Arnold und Wilhelm an der Leitung des Gesammtgeschäfts betheiligt. Seit Beginn des Jahres 1894 war er wieder dauernd in Berlin thätig, und als die Privatfirma im J. 1897 in eine Actiengesellschaft verwandelt wurde, übernahm er den Vorsitz im Aufsichtsrath, den er aber im J. 1904 wegen schwerer Gesundheitsstörungen niederlegen mußte. Er starb in einem Sanatorium zu Mentone, wo er seit dem Herbst 1905 eine Zuflucht gesucht hatte, an Lungenentzündung.
Bereits im J. 1855 hatte sich Karl S. aus zwingenden geschäftlichen Gründen zum finnischen Unterthan machen lassen, und der Zar hatte ihn in Anerkennung seiner für den russischen Staat bedeutsamen Thätigkeit 1895 in den erblichen Adelstand erhoben.
Mit Karl v. Siemens schied der letzte der Brüder und ohne Zweifel die stärkste geschäftliche Kraft unter ihnen aus dem Leben. Karl hat in Rußland die erste feste Grundlage des Siemens’schen Vermögens gelegt, namentlich seiner unermüdlichen Thätigkeit ist es zu danken, daß das theure Kedabeg am Ende doch noch ein blühendes Unternehmen wurde, und der außerordentliche Erfolg der gewaltigen Kabelunternehmungen ist von seiner Persönlichkeit nicht zu trennen. Im Gegensatz zu seinen Brüdern war Karl weder Forscher noch eigentlicher Erfinder, seine Hauptbedeutung liegt in seiner Eigenschaft als tüchtiger Organisator und weitsichtiger Geschäftsmann, die ihn zur Leitung großer Unternehmungen in außerordentlichem Maße befähigte. Gewiß waren es in erster Linie die Erfindungen Werner’s, durch welche die Firma immer wieder den Concurrenten voraneilte und sich einen Weltruf erwarb, gewiß waren die weitaus meisten geschäftlichen Unternehmungen auf Werner’s oder Wilhelm’s Initiative zurückzuführen; aber der eigentliche geschäftliche Erfolg, die Erhaltung und nutzbringende Verwendung des durch jene Erfindungen gewonnenen Ansehens, die glänzende Ausführung und der glückliche Ausbau jener Projecte war vorwiegend Karl’s mit großer Energie gepaarten geschäftlichen Fähigkeiten zu danken. Von Haus aus liebenswürdig und offen, treu und gewissenhaft, ohne starken Lerntrieb, aber eifrig und ausdauernd im Erstreben eines gegebenen Zieles, wußte er mit klarem Blick und ruhiger Ueberlegung die Lebensverhältnisse in selten objectiver Weise zu durchschauen. Im Reden taktvoll und vorsichtig, war er doch von einer außerordentlichen Gewandtheit und Vielseitigkeit, die ihn im Zusammenhange mit seinem Optimismus und seiner Gutmüthigkeit zwar in manche gewagten Unternehmungen verstrickten, die aber auch sein an großen Erfolgen reiches geschäftliches Auftreten bedingte. Den widrigsten Verhältnissen und Charakteren paßte er sich auf das glücklichste an, ohne die von Werner vertretene geschäftliche Gesammtidee [228] jemals aus dem Auge zu verlieren. – Die Eigenthümlichkeit des Antheils, welcher Karl’s harmonischer Persönlichkeit an den national bedeutsamen Werken der Brüder Siemens gebührt, trifft Werner’s Aeußerung in den „Lebenserinnerungen“: „Karl war das richtige Bindeglied zwischen uns vier Brüdern, die wir eigentlich alle wesentlich verschieden von einander waren, aber durch die alles überwindende brüderliche Liebe während unseres ganzen Lebens zu gemeinschaftlichem Wirken zusammengehalten wurden.“
- R. Ehrenberg, Die Unternehmungen der Brüder Siemens, 1. Bd. Jena 1906. – Derselbe, Entstehung und Bedeutung großer Vermögen, „Deutsche Rundschau“, Jahrg. 1902, S. 63 ff., 250 ff. Berlin. – Derselbe, Studien in dem von ihm herausgegebenen „Thünen-Archiv“, Jahrg. 1906, S. 34 ff., 279 ff. Jena. – Werner von Siemens, Lebenserinnerungen. Berlin 1901.
[203] *) Zu Bd. LIV, S. 340.
[219] *) Anmerkung der Redaction. Kein Leser wird hoffentlich Anstoß daran nehmen, daß die beiden letzten Biographien – Friedrich und Karl S. – die im allgemeinen für unser Werk gezogene Zeitgrenze um ein geringes überschreiten. Das Leben und Wirken der vier Brüder Siemens bildet eine natürliche Einheit, die wir nicht zerstören mochten.
[224] *) Anmerkung der Redaction. Vgl. die Note auf S. 219.