Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Schilling, Gustav“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 256–259, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schilling,_Gustav&oldid=- (Version vom 11. Dezember 2024, 12:48 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Nächster>>>
Schilling, Johann
Band 31 (1890), S. 256–259 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Gustav Schilling in der Wikipedia
Gustav Schilling in Wikidata
GND-Nummer 117269956
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|31|256|259|Schilling, Gustav|Robert Eitner|ADB:Schilling, Gustav}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=117269956}}    

Schilling: Gustav S., geboren am 3. November 1803[WS 1] zu Schwiegerhausen im Hannoverschen und † im März des Jahres 1881[WS 2] in Nordamerika auf der Farm seines Sohnes (der Ort ist nicht bekannt geworden)[WS 3]. Er war der Sohn eines protestantischen Predigers[1], erhielt von seinem Vater in den Wissenschaften und in der Musik eine gründliche Unterweisung und trat bereits mit 10 Jahren als Clavierspieler auf. Ebenso bewandert war er auf der Orgel, [257] der Violine, Flöte und dem Violoncell. Wir folgen mit diesen Angaben der Selbstbiographie Schilling’s im Supplementbande seiner Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universallexikon der Tonkunst, Stuttgart 1842. S. lehnt zwar die Autorschaft dieses Artikels in einer Anmerkung S. 377 ab, doch sind Anmerkung und Biographie nicht geschickt genug abgefaßt, um nicht den Vogel an den Federn erkennen zu lassen. Die Biographie kann übrigens als Muster von Dünkel gelten. Die größten Männer vor ihm und zu seiner Zeit können ihn nicht verdunkeln. Auffallen muß es ferner, daß er über seinen Bildungsgang so ungenaue Angaben giebt, denn er bezeichnet weder einen Ort noch einen Lehrer, spricht dafür aber desto mehr von seinen Leistungen als Knabe. Er sagt z. B., „im 15. Jahre erhielt er (ich) in einem Institut gründlichen und ausführlichen Unterricht“, besuchte 1823 die Universität Göttingen, um Theologie zu studiren und ging dann nach 3 Jahren nach Halle, um die Studien zu vollenden. Das Examen bestand er natürlich „mit dem besten Erfolge“ (schreibt er weiter), doch um Prediger zu werden, waren seine Meinungen bereits durch „rationelle Lehrsätze“ so erschüttert, daß er beschloß, sich für das Lehramt vorzubereiten, und demnach theilt er 11 Zeilen weiter mit, daß, als er zur Ausübung des Predigeramts ermächtigt worden war, er zahlreiche Predigten in Göttingen und den umliegenden Städten hielt und stets „um seine Kanzel einen zahlreichen Zuhörerkreis versammelt sah“. Wo und wann er sich den Doctorgrad erwarb, theilt er auch nicht mit, sondern nur die Thatsache und fügt dem bei: „1829 erhielt er (ich) ein zweites Diplom infolge der philosophischen Abhandlung „Relatio affectuum ad summam facultatem cognoscendi“. Im J. 1830 ging er nach seiner Verehelichung nach Stuttgart und übernahm das von Franz Stöpel nach Logier’s System daselbst gegründete Musikinstitut (auch hier übergeht er den Namen in seiner Biographie). Warum er Stöpel in seinem Lexikon so arg mitspielt und dem Leser so viel zwischen den Zeilen zu lesen überläßt, ist nicht recht erklärlich. Vielleicht begegnen sich hier zwei gleiche Naturen, denn Stöpel wandelte auf ähnlichen Wegen wie S. Ferner beschäftigte er sich litterarisch, und zwar in der buntesten Weise. Zuerst schrieb er ein „Musikalisches Wörterbuch, besonders für Clavierspieler“, dann eine Schrift über die Julirevolution, 1832 einen Roman „Guido“, der, wie er schreibt, die glänzendste Aufnahme fand, ferner vollendete er ein schon früher begonnenes Werk über Kanzelberedtsamkeit in Briefform, welches 1833 erschien. Auch in der Allgemeinen Kirchenzeitung führte er einen Streit über das Improvisiren der Kanzelreden, „bei dem er den glänzendsten Sieg davontrug“, fügt er hinzu. Zur selben Zeit faßte er den Plan, das schon oben erwähnte Universallexikon der Tonkunst herauszugeben und warb sich dazu allerdings treffliche Mitarbeiter, wie A. B. Marx, Fink, Rellstab, Kretzschmer, Weber, v. Seyfried, Keferstein u. a. Seine eigenen Artikel sind mit D. Sch. gezeichnet. Die ersten Lieferungen erschienen schon 1834, das Titelblatt des 1. Bandes trägt aber die Jahreszahl 1835. Der 6. und letzte Band kam bereits 1838 heraus und 1840 bis 1842 erschien eine neue Titelausgabe, mit einem Supplementbande vermehrt. Der Werth des Werkes ist sehr verschiedenartig und es ist heute nur noch in den Biographieen der unmittelbar deutschen Zeitgenossen zu brauchen, während der musikwissenschaftliche längst überholt ist und die Biographieen der Zeit der Niederländer schon damals durch die gleichzeitig erscheinende „Biographie universelle des musiciens“ von Fétis (1835–1844, 8 Bde.) werthlos wurden. S. verstand es vortrefflich, sein Licht vor den hohen Herren leuchten zu lassen und kannte seine Zeitgenossen zu gut, um nicht zu wissen, daß Titel und Orden vertrauenerweckend sind und einen guten Deckmantel bilden, um seine wahren Verhältnisse [258] und Absichten zu verstecken. 1835 verlieh ihm der König von Preußen die große goldene Medaille für Verdienste um Kunst und Wissenschaft, 1839 erhielt er vom Belgier dieselbe Auszeichnung, 1840 ernannte ihn der Fürst von Hohenzollern-Hechingen zum Hofrath. So ausgerüstet, äußerlich mit einem Glorienschein von Titeln und Ehrenbezeugungen umgeben, beginnt er nun eigentlich erst seine Laufbahn, denn bis hierher konnte er sein Leben nur als ein Vorspiel betrachten. Die Musikschule giebt er ab, da Wechselschulden machen und baar Geld borgen weniger Mühe verursachen und ein schöneres Stück Geld einbringen. Dabei entwickelt er andererseits wieder einen so staunenswerthen Fleiß im Bücherschreiben, daß man ihm zugestehen möchte, er habe sich redlich bemüht, mit Ehren durch die Welt zu kommen, denn er giebt in der Zeit von 1839–1850 nicht weniger als 21 umfangreiche Werke über Musik heraus, von denen der größte Theil 350–800 Druckseiten umfaßt, ungerechnet die 5 Jahrgänge der „Jahrbücher des deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft“, die in Karlsruhe von 1839–1843 erschienen und in der ein großer Teil von ihm selbst geschrieben ist. Anderntheils machte er sich wieder das Bücherschreiben sehr leicht; ein geschickter Copist reichte hin, um sie zu Stande zu bringen, denn nicht nur, daß er seine eigenen Bücher mehrfach ausschreibt, auch nach dem Eigenthume anderer greift er dreist. Seine Encyklopädie findet sich zum Theile wieder in der 1842 erschienenen „Das musikalische Europa“, 365 Seiten, ferner im „Musikalischen Conversations-Handwörterbuch“[WS 4], 2. Ausg. 1856, 440 Seiten (die erste Ausgabe ist mir unbekannt). Die einzelnen Artikel sind meistens wörtlich abgeschrieben. Die „Aesthetik der Tonkunst“, 1838 erschienen, ist ein Plagiat des zehn Jahre früher erschienenen Werkes von Karl Seidel, betitelt: Charinomos. C. F. Becker in Leipzig weist S. in der Neuen Zeitschrift für Musik, Bd. 13 S. 158 nach, in wie dreister Weise er Wort für Wort abgeschrieben hat und fügt boshaft hinzu, daß S. nur einen Satz fortgelassen habe, nämlich: „Die Plagiarier allein, die ohne neues Hinzuthun aus fremden Werken ein anderes zusammenstoppeln, haben Ursache, ihre heimlich benutzten, oft gar wörtlich abgeschriebenen Quellen sorgsam zu verbergen.“ Der 1839 erschienene „Polyphonomos, oder die Kunst, in 36 Lectionen sich eine vollständige Kenntniß der musikalischen Harmonie zu erwerben“, wird in derselben Zeitschrift, 1841, S. 9, als ein Plagiat an dem Logier’schen System der Musikwissenschaft mit zahlreichen Beweisstücken bezeichnet. Von allen Seiten sucht man seinem Treiben einen Damm entgegenzusetzen und das Publicum zu belehren, so Prof. Hand, der Aesthetiker, Gottfried Wilhelm Fink, Redacteur der Allgemeinen musikalischen Zeitung in Leipzig, die Buchhändler Metzler und Köhler in Stuttgart, die sich in ihren Verlagsrechten der Originalwerke geschädigt sahen, die Jenaer Litteraturzeitung von 1840, Nr. 195 und 196. S. versuchte im 43. Bande, Spalte 349 der Allgemeinen musikalischen Zeitung eine Rechtfertigung, die aber sehr lahm ausfällt und den Kernpunkt gar nicht berührt. So wirft er Rob. Schumann, dem damaligen Redacteur der Neuen Zeitschrift für Musik, vor, daß er sein System der Musikwissenschaft gar nicht zu erfassen vermag, und wie es sich der allgemeinen Anerkennung erfreue, beweise die Thatsache, daß es nächste Ostern zum zweiten Male aufgelegt wird. Verleger und Publicum scheinen sich um seine Schriften gerissen zu haben, denn viele erlebten zwei Auflagen, einige sogar deren drei. Sehen wir von dem ab, was er abgeschrieben hat, so finden wir in seinen Werken einen breiten, schwülstigen Stil, der in salbungsreichen Worten ohne gründliches Können und Wissen oberflächlich über die Sache schwatzt. Ich gebe ein Beispiel aus der „Musikalischen Dynamik oder die Lehre vom Vortrage in der Musik“, 1843 erschienen. Hier schreibt er S. 316 über den Vortrag einer Symphonie: „Es muß im Vortrage alles einen volksthümlichen, unmittelbaren, an die rein menschliche [259] Natur sich anlehnenden Charakter tragen. Alle Instrumente haben ausschließlich in ihrer natürlichsten Wesenheit hervorzutreten und der geschickteste Bogen darf, um des Charakters des vorzutragenden Tonstücks willen, dem Violoncell z. B. nichts nehmen von seinem näselnden Klange, die bewegteste Zunge dem Fagott nichts von seinem natürlichen Schnarren“, oder S. 331: „Der Vortrag beim Liede soll ein im wahren Sinne des Wortes gesungener sein; ein wenig künstlerischer, als mehr eigentlich und ausschließlich musikalischer.“ Mit seinen technisch musikalischen Kenntnissen, trotzdem er in seiner Biographie sich oft als Componist bezeichnet, muß es gar traurig bestellt gewesen sein, denn die wenigen Beispiele in seinen theoretischen Werken, die er nicht abschreibt, oder ein wenig verändert, verrathen einen völligen Mangel an sachgemäßer Fertigkeit. Wir gelangen nun zum tragischen Ende des Mannes, welches er sich selbst durch ein leichtsinniges Leben bereitet hat. Wir kennen sein Privatleben zu wenig, um die Ursache zu wissen, die ihn nach und nach in eine enorme Schuldenlast brachte. Sogar zu betrügerischen Mitteln griff er, um sich immer neue Einnahmequellen zu verschaffen. Schließlich schlugen die Wellen über ihm zusammen und er suchte bei Zeiten das Weite, ehe ihn der Arm der Gerechtigkeit erreichen konnte. Die Augsburger Allgemeine Zeitung berichtet darüber Sonnabend, den 24. Januar 1857: „Stuttgart, 20. Januar. Einen Gegenstand vielfältigen Gespräches bildet das plötzliche Verschwinden des seit einer Reihe von Jahren hier als Vorstand einer musikalischen Lehranstalt ansässig gewesenen und auch als musikalischer Schriftsteller bekannten Hofraths Gustav Schilling, der mit Hinterlassung einer bedeutenden Schuldenmasse das Weite suchte. Man spricht indeß nicht bloß von großen Schulden, sondern auch von argem Wechselschwindel, dessen er sich schuldig gemacht haben soll, daher die Sache bei Gericht anhängig ist.“ Ferner den 29. Januar: „Die Flucht des Hofraths Schilling bildet noch immer einen Gegenstand des Tagesgesprächs; es scheint sich aus den Anmeldungen bei Gericht ergeben zu haben, daß derselbe das Geschäft des Wechselreitens mit Fälschungen schon seit etwa 10 bis 12 Jahren als einen Hauptgegenstand seines Einkommens betrieben hat, woher die große Summe der Schulden und Fälschungen kommt, indem die ersteren über 100 000 Gulden und die letzteren an 70 000 Gulden betragen sollen. Uebrigens ist die Nachricht hier eingegangen, daß S. sich in Liverpool nach Nordamerika kurz vorher eingeschifft hatte, ehe die telegraphischen Depeschen mit dem Begehren seiner Auslieferung dort eingetroffen waren.“ Die Neue Zeitschrift für Musik schreibt 1857 im 46. Bande S. 218: „Herr Hofrath Schilling beabsichtigt jetzt in New-York ein Conservatorium der Musik zu gründen.“ Was an der letzten Nachricht wahres ist, hat man nie erfahren. Erst nach seinem 1881 erfolgten Tode erfuhr man aus den Zeitungen, daß er Zuflucht bei seinem Sohne gefunden hatte. So endete das vielbewegte und vielversprechende Leben eines Mannes, der seine Kräfte nur verwendete um Geldgewinn.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 256. Z. 3 v. u.: G. Schilling war nicht Sohn eines protestantischen Predigers, sondern des Cantors und Schullehrers S. zu Scharzfeld, bei Lauterberg unter dem Harz. [Bd. 33, S. 799]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. 1805
  2. 1880. Bezüglich der Lebensdaten sind sich alle großen Nachschlagewerke einig. Musik in Geschichte und Gegenwart Bd. 11 (1963), Sp. 1721, nennt als Quelle: Nachruf in Le Canada Musical VII, Nr. 3, Montreal 1. Juli 1880, S. 57. Auch Brockhaus-Riemann Musiklexikon (1989) und New Grove Dictionary of Music and Musicians (2001) führen die gleichen Daten.
  3. Crete, Nebraska
  4. Vorlage: Conservations-...