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Artikel „Scherer, Heinrich“ von Viktor Hantzsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 757–759, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Scherer,_Heinrich&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 07:25 Uhr UTC)
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Scherer: Heinrich Sch., Geograph und Kartenzeichner, ist am 24. April 1628 zu Dillingen im ehemaligen Bisthum Augsburg geboren. Er empfing eine gelehrte Bildung und trat während seiner Studienzeit in den Jesuitenorden ein, dessen Mitglieder damals die kleine Universität seiner Vaterstadt ausschließlich leiteten. Nach Vollendung des Studienganges wurde er von seinen Oberen mit der Abhaltung von Vorlesungen beauftragt. Zunächst unterrichtete er in der lateinischen Grammatik, dann in Philosophie, Rhetorik und Ethik, darauf 9 Jahre in Mathematik und in den Nebenfächern Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Geographie, endlich 4 Jahre in der hebräischen Sprache. Ein Heft mit Niederschriften über seine geographischen Vorträge aus dem Jahre 1663 hat sich in der Münchener Universitätsbibliothek erhalten (Cod. Ms. 370, 4°). Es zeigt, daß er sich durchaus auf der damaligen Höhe der Wissenschaft befand, denn er kennt und benutzt die grundlegenden Werke seiner Zeit, die Geographia generalis des Varenius, die Introductio in universam geographiam des Cluverius und den Cursus mathematicus seines Ordensgenossen Schott. Um 1670 folgte er einem Rufe an den Hof nach Mantua, wo er drei Jahre hindurch als Prinzenerzieher wirkte. Dann kehrte er nach Baiern zurück und ließ sich in München nieder. Hier unterrichtete er zunächst den jungen Herzog Maximilian Philipp in der Architectura militaris, später dessen Neffen, den Herzog Joseph Clemens, den nachmaligen Kurfürsten von Köln, in der Geographie. Dieser letztere Schüler erwählte ihn auch zu seinem Beichtvater und hielt ihn zeitlebens in hohen Ehren. Sch., dessen ferneres Leben ohne bemerkenswerthe äußere Ereignisse verfloß, starb am 21. November 1704 zu München. Kurz vor seinem Tode schloß er noch sein Lebenswerk, den Atlas novus, ab, der seinen Namen auf die Nachwelt gebracht und ihm einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Erdkunde [758] gesichert hat. Er umfaßt 7 starke Quartbände, von denen die 6 ersten in den Jahren 1702 und 1703 in München erschienen. Eine Gesammtausgabe, die auch den bis dahin ungedruckten 7. Theil enthält, wurde 1710 in Augsburg, Dillingen und Frankfurt unter dem Titel „Atlas novus exhibens orbem terrarum per naturae opera, historiae novae ac veteris monumenta, artisque geographicae leges et praecepta. Hoc est: Geographia universa in septem partes contracta, et instructa ducentis fere chartis geographicis ac figuris“ veröffentlicht. Eine Neuauflage der beiden ersten Bände erschien 1730, eine letzte Gesammtausgabe 1737. Die beigegebenen Landkarten, deren Stecher sich nirgends nennt, scheinen zum Theil Arbeiten des berühmten Nürnberger Meisters Johann Baptist Homann zu sein. Die übrigen Tafeln sind meist von Johann Degler gezeichnet und von Leonhard Heckenauer, Joseph von Montalegre oder Andreas Matthäus Wolffgang in Kupfer gestochen. Das Werk ist nicht ein Atlas im modernen Sinne, sondern ein geographisches Handbuch, dem zur Erläuterung des Textes Karten und Abbildungen beigefügt sind. Es enthält das gesammte damalige Wissen von der Erde in klarer und übersichtlicher Darstellung. Der Inhalt der einzelnen Bände ist folgender: 1. Geographia naturalis, ein Abriß der physikalischen Geographie, der von der Weltschöpfung und ihrem Zweck, von der centralen Stellung der Erde, ihrer Gestalt und Zusammensetzung, von dem Erdinnern und der Erdoberfläche, von der Luft- und Wasserhülle unsers Planeten, sowie von den Menschen und den Erzeugnissen der drei Naturreiche handelt. Der Verfasser zeigt sich überall als Kind seiner Zeit und als gläubiger Anhänger seiner Kirche. Er hält deshalb an einer streng theologischen Betrachtung des Weltgebäudes als eines Erziehungshauses der Menschheit fest. Das Copernicanische Weltsystem und die Keplerschen Gesetze wagt er nicht anzuerkennen, da sie der Bibel und den Kirchenvätern widersprechen. Den feuerflüssigen Erdkern denkt er sich als die Hölle und die Vulkane als deren Schlote. In vielen Fragen, die das Gebiet des Glaubens berühren, trägt er die verschiedenen Meinungen der Gelehrten vor, enthält sich aber eines eigenen Urtheils, sofern es von der Kirchenlehre abweichen könnte. Die diesem Bande beigegebenen Karten sind als frühe Versuche einer orohydrographischen Darstellung der Erdtheile von hohem Interesse. – 2. Geographia hierarchica, ein Ueberblick über Organisation und Ausbreitung der katholischen Kirche. Sch. schildert die geistliche und weltliche Macht des Papstthums, zählt die Erzbisthümer und Bisthümer in allen Welttheilen auf, berichtet kurz die Bekehrungs- und Kirchengeschichte jedes Landes, erwähnt die außerhalb der Kirche stehenden Ketzer, Secten und Ungläubigen nebst ihren wichtigsten Unterscheidungslehren, stellt eine Menge von Nachrichten über die Missionsorden und ihre Erfolge, namentlich über die Gesellschaft Jesu zusammen und erwähnt auch gebührend die katholischen Universitäten, Collegien, Priesterseminare und sonstigen Bildungsanstalten. Die beigefügten Karten bilden einen sehr bemerkenswerthen Missionsatlas, der alle Bischofssitze und Missionsstationen verzeichnet. Die nichtkatholischen Länder sind mit dunklen Schattenstrichen überzogen, um anzudeuten, daß ihnen das Licht des wahren Glaubens nicht leuchtet. – 3. Atlas Marianus, ein Verzeichniß der wunderthätigen oder durch Alter und Kunstwerth berühmten Marienbilder in allen Ländern der Erde in geographischer Anordnung, zum Theil mit Anführung einzelner Legenden und Wunderberichte, bearbeitet nach dem in vielen Ausgaben verbreiteten gleichnamigen Werke des Jesuiten Wilhelm Gumppenberg, das zuerst 1657 in Ingolstadt erschien. Auf den zugehörigen Landkarten sind die einzelnen Gnadenorte je nach ihrer Bedeutung durch Sterne oder Strahlenkränze bezeichnet. – 4. Geographia politica, der umfangreichste [759] Theil des Werkes, gegen 900 Seiten mit 60 Karten und Tafeln umfassend. Der Verfasser behandelt darin die politische Gliederung, die Geschichte und Regierungsform der einzelnen Staaten, die Herrscherfamilien und die wichtigsten Adelsgeschlechter, die namhaftesten Gelehrten und Künstler, die klimatischen, physikalischen, meteorologischen und wirthschaftlichen Verhältnisse, Herkunft und Sitten der Bewohner, endlich die bedeutendsten Städte, Festungen, Häfen, Bauwerke und Verkehrswege zu Wasser und zu Lande. Ein ausführliches Personen- und Sachregister trägt erheblich zur raschen Orientirung bei. – 5. Geographia artificialis, ein Leitfaden der mathematischen Geographie nebst der Kartenentwurfslehre. Von besonderem Interesse sind die Darlegungen über die Construction von Globen und Armillarsphären, Kartenprojectionen, die verschiedenen Anfangsmeridiane, Längen- und Breitenbestimmungen, geodätische Instrumente, Vorausberechnung des Kalenders und die wichtigsten Probleme der Nautik. – 6. Tabellas geographicae, ein Verzeichniß von gegen 5400 Orten, Inseln und Vorgebirgen, nach Ländern geordnet, mit Angabe der geographischen Positionen, die allerdings meist von Karten abgelesen oder aus den älteren Katalogen von Apian und Riccioli entnommen sind und nur zum kleinsten Theil auf neueren zuverlässigen Beobachtungen beruhen. Auch hier erleichtert ein alphabetisches Register wesentlich die Benutzung. – 7. Critica quadripartita, enthaltend Zusätze und Verbesserungen zu den ersten 6 Bänden aus Scherer’s Nachlaß, welche die Ergebnisse geographischer Forschungen und Entdeckungen verwerthen, die ihm früher unbekannt geblieben waren. Bemerkenswerth ist namentlich ein Excurs astrologischen Inhalts, in dem der Einfluß der Gestirne auf Naturereignisse und Menschenschicksale untersucht wird. – Außer diesem geographischen Hauptwerke, dem Sch. 40 Jahre seines Lebens widmete, hat er noch einige dramatische Dichtungen verfaßt, die hier und da in den Schulanstalten seines Ordens aufgeführt wurden. Zwei davon haben sich handschriftlich in der Münchener Hof- und Staatsbibliothek erhalten: „Considerationes de morte“, ein allegorisches Schauspiel aus dem Jahre 1673, und „Austria armata“, eine Komödie in deutschen Reimen zur Feier der Errettung Wiens von den Türken 1683.

C. Sommervogel, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus VII (1896), S. 765–767. – C. Sandler, Ein baierischer Jesuitengeograph: Mittheilungen der Geogr. Gesellschaft in München 1906, Bd. II, Heft 1.