ADB:Varenius, Bernhard
Jungius, den Rector des hamburger Gymnasiums Unterstützungen genossen zu haben, die ihm das Studium ermöglichten. Er fand das Leben in Königsberg theuer und die Mathematik, der er sich widmen wollte, vernachlässigt. So ging er nach 2 Semestern nach Leiden, wo er am 6. Mai 1645 immatriculirt wurde und die in Königsberg begonnenen medicinischen Studien fortsetzte, zugleich aber im Verkehr mit den Mathematikern Pell in Amsterdam und Golius in Leiden die mathematischen eifriger aufnahm. Er hatte beständig mit Mangel zu kämpfen, zumal die Kriegsleiden seiner Vaterstadt ihn um sein kärglicheß Erbe gebracht hatten. Darin lag wol auch die Ursache seines Verzichts auf die Fortsetzung seiner Studien in Paris, die er 1646 ins Auge gefaßt hatte. 1646 hat er eine Hauslehrerstelle in Amsterdam annehmen müssen, die ihm wenig Zeit zu Studien übrig ließ. Doch stand er im Verkehr mit den wissenschaftlichen Kreisen, nannte Blaeu seinen Freund und wurde von Gerhard Johann Vossius ermuntert, sich um den durch den Weggang Pell’s frei gewordenen Lehrstuhl der [488] Mathematik am Amsterdamer Gymnasium zu bewerben. Von Pell haben wir ein gutes Lob über V. in einem Brief von 1645. Er hatte, wahrscheinlich mit auf den Rath des Vossius, eine Arbeit über die krummen Linien und die krummflächigen Körper vollendet, für die er nun aber vergebens einen Verleger suchte. Er hoffte, daß sie ihm den Weg zu jenem Lehrstuhl bahnen werde, sah sich aber auch darin getäuscht, da der ihm günstige unter den Amsterdamer Bürgermeistern vorher starb und überhaupt keine Neigung bestand, einen Lutheraner anzustellen. V. war in dieser Zeit in trüber verbitterter Stimmung. Er schwankte, ob er sich der Medicin oder Mathematik hinfort widmen solle. Er ernährte sich kümmerlich von Privatunterricht in Mathematik, worauf sich wol die Klage im Tractatus de religione Japonicorum C. VI beziehen mag: quam vilis et tenuis eruditorum sit conditio, quando annuam aliorum liberalitatem prensare et praestolare coguntur. Dr. Jungius, dem er seit dem Verlassen Hamburgs, wie einem Vater seine Studien, Erfahrungen und Leiden mitgetheilt hatte, beantwortete die Briefe des V. nicht mehr, sei es daß er V. die Ablehnung eines Anerbietens verübelte, ihm in Hamburg eine Stellung zu verschaffen, die ihm wenigstens Brot und Kleidung böte, oder das er übel seine Bitte vermerkt hatte, ihm zur Veröffentlichung in seiner Curvenlehre die von Jungius entdeckte Quadratur der Hyperbel mitzutheilen. Er nahm nun seine medicinischen Studien mit erneutem Eifer auf und erhielt am 22. Juni 1649 in Leiden den medicinischen Doctorgrad, scheint aber nicht prakticirt, sondern sich auch ferner mit litterarischen Arbeiten beschäftigt zu haben, denn sein Name ist in die Liste der Amsterdamer Aerzte jener Zeit nicht mit eingetragen. Wenige Tage nach seiner Promotion schloß er ein Werkchen über Japan ab, von Tafeln der Universalgeschichte meldet er, sie seien fertig und Mitte 1650 hatte er das Werk beendet, das ihn unsterblich machen sollte, die „Geographia Generalis“. Seine Beschreibung Japans widmete er am 1. Juli 1649 dem Bürgermeister und Rath der Stadt Hamburg in dankbarer Erinnerung an das Gymnasium, wo er seine Bildung empfangen hatte, den Tractatus de religione Japonicorum am 1. August 1649 der Königin Christine, die viele Gelehrte an ihren Hof zog und möglicherweise auch sein Leben erleichtern konnte; und am 1. August 1650 unterzeichnet er die Widmung der Geographia Generalis an die Bürgermeister, Gymnasialcuratoren und Kämmerer der Stadt Amsterdam, die durch Wahl andere geworden waren und von denen er nun die Förderung erhoffte, die ihre Vorgänger ihm versagt hatten. Wenn er sich auch in früheren Briefen bitter über Amsterdam ausgesprochen hatte, wo Mercur der regierende Planet sei, preist er nun doch sein Geschick, das ihn nach dem Unglück, das sein Vaterland betroffen, in diesen Mittelpunkt des Weltverkehrs geführt habe, an dem allein er seine allgemeine Geographie habe schreiben können. Wenn schon der Tractatus Spuren flüchtiger Arbeit zeigt, so haben die ersten Ausgaben der Geographia generalis entschiedene Lücken und Versehen, die anzeigen, daß V. den Abschluß nicht mehr mit vollen Kräften bewirkt hat. Als die Geographia generalis bei Ludwig Elzevir erschien, war ihr Schöpfer nicht mehr; er ist gegen Ende 1650, kaum achtundzwanzig Jahre alt, zu Amsterdam gestorben. Ueber die näheren Umstände seines Todes ist nichts bekannt. Die letzte Erinnerung eines seiner Mitlebenden ist eine kurze Bemerkung des Jungius in einem Briefe an Chytraeus von 1655, wo jener ihn seinen besten Schülern zuzählt, die der Tod schon weggenommen habe. In den Niederlanden ist seine Spur von seinem Tode an verloren, in Deutschland scheint auch selbst seine Geographie kein großes Aufsehen gemacht zu haben. Nicht so in England und Frankreich. Während in Amsterdam dem ersten Druck der „Geographia Generalis in qua affectiones generales Telluris explicantur. Autore Bernhardo Varenio Med. Dr. 1650“ [489] (786 S.) zwei nur von einigen Druckfehlern befreite, sonst unveränderte 1664 und 1671 folgten, unternahm Isaac Newton die Vervollständigung und auch an einigen Stellen die Berichtigung dieser Ausgabe; 1672 erschien in Cambridge: „Med. D. Bernhardi Varenii Geographia Generalis in qua affectiones generales Telluris explicantur, summa cura quam plurimis in locis emendata et XXXIII schematibus novis aeris incisis, una cum Tabb. aliquot quae desiderabantur aucta et illustrata.“ Eine 2. Auflage erschien 1681, davon ein Abdruck 1693 in Jena. 1712 erschien in Cambridge eine weitere Ausgabe mit 55 Seiten Nachträgen von Jacob Jurin auf Anregung des großen Richard Bentley; Breusing bezeichnet sie als die schönste und vollständigste von allen. Ein Abdruck von ihr ist eine 1715er Ausgabe von Jar. Jurin und nach ihr ist eine englische Uebersetzung von Dr. Shaw (1733), eine niederländische (1750), eine französische (1755) gemacht. Der von Desmarest geschriebene Artikel: Géographie in der Encyplopédie méthodique ist wesentlich auf V. gegründet, dessen wissenschaftliche Bedeutung der berühmte d’Anville hervorhob, und noch ehe A. v. Humboldt im Kosmos (I, 60–74) V. als den Begründer der vergleichenden Erdkunde feierte, bezeichnete P…ot in der Biographie Universelle (1827) die Schrift des V. als die schönste und gelehrteste Darstellung der Geographie, die eine vollständige Revolution hervorgebracht und das Angesicht dieser Wissenschaft umgestaltet habe. Bezeichnend bleibt aber dabei für die Dunkelheit, in der V. gelebt hat, die Unsicherheit über seine Herstammung und den Gang seines Lebens. Noch bei A. v. Humboldt liest man: nach Jöcher ward er in England, nach der Biographie Universelle in Amsterdam geboren … es ist keinem Zweifel unterworfen, daß dieser scharfsinnige Geograph ein Deutscher und zwar ein Lüneburger war. A. v. Humboldt’s Anerkennung war entscheidend für das Wiederaufleuchten des Ruhmes des V., aus dessen Geographia Generalis so mancher leitende Gedanke in Humboldt’s geographisches System übergegangen ist. Es war erst unserer Zeit vorbehalten, durch eingehende Studien über das Leben und das Werk des V. von Breusing (1880) und Blink (1887) ihn und sein Verdienst neu ins Licht zu stellen.
Varenius: Bernhard V. (Varen), theoretischer Geograph, 1622–1650. Dem aus Herford in Westfalen stammenden Heinrich V., braunschweigisch-lüneburgischem Hofprediger, wurde 1622 zu Hitzacker a. d. E. (im Lüneburgischen) ein Sohn geboren, Bernhard, der mit seinem Vater 1627 nach Uelzen übergesiedelt ist, weshalb er sich später Ulzensis nannte. 1635 starb sein Vater. 1640 wird er in Hamburg am Gymnasium als Ulzensis Luneburgicus immatriculirt und disputirte dort 1642 De definitione motus Aristotelica. 1643 bezog er die Universität Königsberg. Er war wenig bemittelt, und scheint durch Dr.In der Geographia Generalis hat V. eines der seltenen wissenschaftlichen Werke geschaffen, die wie Grenzgebirge zwischen zwei Zeitaltern sich erheben. Die Auffassungen der tellurischen Erscheinungen in ihrer Gesammtheit und Allgemeinheit, mit Gedankenkraft und -reichthum durchgeführt, macht aus ihr die erste umfassende und systematische physische Erdbeschreibung. Gebraucht er auch das Wort Geographia comparativa in einem ganz anderen, beschränkteren Sinn als Karl Ritter, so ist doch der Haupttheil des ganzen Werkes, die Pars absoluta, eine vergleichende Erdkunde, wie sie erst nach einem Jahrhundert wieder ans Licht getreten ist. Mit Recht rühmt Knight’s Cyclopaedia of Biography (1858) gerade das an ihm, daß er weitere und wissenschaftlichere Ideen (über die Naturgeschichte der Erde) ausgesprochen habe als das ganze Jahrhundert nach der Veröffentlichung des Buches. In dem Haupttheil, den er als Pars absoluta bezeichnet, bespricht er in zwei Abschnitten die Form, Größe und Bewegung der Erde, die Stelle der Erde im Weltraum und ihre stoffliche Zusammensetzung, in einem dritten Abschnitt die Vertheilung von Land und Wasser, die Gebirge, die Bergformen, die Wälder und Wüsten; in einem weiteren die Meere, Flüsse, Seen und Quellen; in einem fünften die Veränderungen im Verhältniß des Wassers und Landes; in einem sechsten den Luftkreis und die Winde. In diesem Theile findet man die meisten neuen Gedanken, die die Keime so mancher bedeutenden Entdeckung umschließen. Die Gebirgssysteme und ihre Beziehung zur Gestalt der Erdtheile, die Vulkane, das System der Inseln, die Beziehung zwischen Meerestiefe und Küstengestalt, [490] der Meeresspiegel, die Entstehung der Meeresströmungen sind besonders hervorzuheben; V. zeigt hier eine große, seiner Zeit vorauseilende Auffassung und auch die Beschreibung einiger Meeresströmungen ist vortrefflich. In der Pars respectiva werden die Erscheinungen behandelt, die aus den Beziehungen der Erde zu den anderen Weltkörpern hervorgehen: Länge und Breite, Tagesdauer und Jahreszeiten, Licht und Wärme, Zeitunterschiede u. a. Endlich in der Pars comparativa kommen die Vergleichung der Lage der Orte und die Ortsbestimmung zur Darstellung, die endlich in die Elemente der Steuermannskunst übergeht. Besonders in diesem Theil, wie auch in dem 4. Abschnitt des ersten zeigt V. die Vertrautheit mit oceanischen Erscheinungen, Seekarten und den Bedürfnissen der Nautik, die das Leben in einem Mittelpunkt des Seeverkehrs an die Hand geben mußte. Uebrigens ist V. Anhänger des Copernicus und hat ohne Zweifel schon Ahnungen Kant-Laplace’scher Auffassungen gehabt. Varenius’ Beschreibungen von Japan und Siam („Descriptio Regni Japoniae cum quibusdam affinus materiae“, zuerst 1649 in der Elzevir’schen Sammlung von Länderbeschreibungen und 1673 zu Cambridge veröffentlicht) ist weniger aus einem wissenschaftlichen Drang als aus Rücksichten des Fortkommens und Geldgewinnes geschrieben, wie er in den Widmungen an die Bürgermeister und Senatoren von Hamburg und an den Leser selbst ausspricht. Man muß zwar die Belesenheit des Verfassers und seine Fähigkeit der Zusammenfassung und Darstellung bewundern, aber nur an wenigen Stellen tritt uns wissenschaftliche Auffassung und eigenes Denken entgegen. Die Beschreibung Siams ist nur die Uebersetzung der 1636 erschienenen Schrift des Jodokus Schouten. Der angehängte der Königin Christine von Schweden gewidmete Tractatus de Japoniorum Religione ist hauptsächlich interessant durch den Versuch einer Classification der Religionen. Aehnliches ist in der Einleitung De Rebus publicis in genere für die Staatsformen versucht, aber bei weitem nicht mit der Kenntniß und dem Scharfsinn ähnlicher Versuche in der Geographia Generalis. Mancher Ansatz läßt glauben, daß ein ruhigeres Schaffen auch in der Länderkunde V. zu einer mindestens geistreicheren Behandlung als bei seinen Zeitgenossen üblich war, geführt hätte. Der Ruhm eines umfassenden und scharfsinnigen Geistes, eines Bahnbrechers in der classificatorischen Richtung, die durch folgerichtig aufgebaute Systeme Ordnung in einen verwirrten Zustand bringt, wird sich doch immer hauptsächlich auf die Geographia Generalis gründen.
- Breusing, Lebensnachrichten von Bernhard Varenius. Geogr. Mittheil. 1880. – Blink, Bernhard Varenius. Tijdschr. Aandrijksk. Genotschap 1887. – A. v. Humboldt, Kosmos I, 74, 75.