Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Rauchenstein, Rudolf“ von Albert Schumann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 392–396, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rauchenstein,_Rudolf&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 08:19 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Nächster>>>
Raue, Christian
Band 27 (1888), S. 392–396 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Rudolf Rauchenstein in der Wikipedia
Rudolf Rauchenstein in Wikidata
GND-Nummer 116364521
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|27|392|396|Rauchenstein, Rudolf|Albert Schumann|ADB:Rauchenstein, Rudolf}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116364521}}    

Rauchenstein: Rudolf R., bekannter Philolog und Schulmann, geb. am 2. Mai 1798, ist neben einer Reihe anderer bedeutender Männer, wie J. G. Zimmermann, A. Rengger, Ph. A. Stapfer und A. E. Fröhlich, aus dem „Prophetenstädtchen“ Brugg hervorgegangen. Das bürgerliche Geschlecht, welchem er entstammte und zu dessen Gliedern meist ehrsame Handwerker gehörten, war im 16. Jahrhundert seines evangelischen Glaubens wegen aus Bruck in Steiermark fortgezogen und hatte sich, wohl von dem heimischen Klange des Ortsnamens angelockt, in dem damals bernischen Brugg im Aargau niedergelassen. David R., der Vater Rudolf’s, von Beruf Messerschmied, hatte die sog. Lateinschule des Städtchens besucht und aus der Jugendzeit mancherlei Kenntnisse, namentlich in der lateinischen Sprache, bis ins spätere Alter bewahrt. Mit diesen förderte er die Bildung des Sohnes, welcher die ziemlich mangelhaften Schulen seines Heimathortes, zuletzt auch die seit der Reformation bestehende Lateinschule durchlief. Die Lehrer dieser Anstalt, nach damaliger Sitte Geistliche, [393] denen es um möglichst baldigen Eintritt in das Pfarramt zu thun war, wechselten oft, und nur wenige von ihnen zeichneten sich durch Lehrgeschick und wirkliche Theilnahme für die Jugend aus. Gleichwohl machte der talentvolle Knabe infolge der väterlichen Nachhilfe gute Fortschritte, weshalb auch die Eltern auf Zureden von Lehrern und Freunden nicht mehr den zukünftigen Messerschmied in ihm sahen, sondern ihn für die geistliche Laufbahn bestimmten. Im October 1813 siedelte er nach Bern über, um das dortige Gymnasium zu besuchen. Sein rühmlicher Fleiß ermöglichte es, daß er dasselbe schon zu Ostern 1814 mit der Akademie vertauschen konnte. Diese Vorgängerin der nachmals (1834) gegründeten Hochschule erfüllte ihren Zweck nur unvollkommen. „Die Schüler“, sagt R. selbst in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen, „hießen Studenten, waren es aber nicht, da sie sich in ihren Studien nicht zu regieren wußten. Es waren strebsame junge Leute unter uns; wir lernten mancherlei, aber wir hatten es nicht dieser Akademie zu verdanken; denn der Unterricht war in den meisten Fächern übel bestellt, und die Professoren nahmen sich der Studenten wenig an. Die Philosophie war Schwätzerei und die alten Sprachen nicht viel gründlicher!“ Nur im Hebräischen, welches der tüchtige Gymnasialdirector Samuel Lutz vorübergehend lehrte, fühlte er sich eigentlich gefördert. Empfing er doch hier, wie er selber rühmt, „die erste Ahnung einer festen und gewissen Methode in der Erklärung von Schriftstellern“. Neben dem Hebräischen trieb er unter dem gleichen Lehrer anderthalb Jahre Arabisch und gewann diese Studien so lieb, daß er bereits daran dachte, sich ganz den morgenländischen Sprachen zu widmen. Da kam 1816 Ludwig Döderlein von Jena her als Professor der Alterthumswissenschaft an die Berner Akademie. Seine frische und geistvolle Art, sein gründliches Wissen, seine bedeutende Lehrgabe fesselten seine Zuhörer und wirkten begeisternd auf sie ein. „Mit Eifer warfen sie sich auf seine Fächer, mit Bewunderung und Liebe hingen sie an ihm.“ R., der „durch ihn die Schönheit und Hoheit der Griechen erst kennen lernte“, wurde nun auf immer für die alten Sprachen gewonnen. Das Wort des verehrten Mannes: „Sie müssen Philologie studieren und Gymnasiallehrer werden; und nehmen Sie sich vor, ob es nun werde oder nicht, einst an ihrer Kantonsschule zu wirken,“ galt ihm fortan als Leitstern. Auf Döderlein’s Fürwort in Aarau gewährte ihm die Regierung eine Erhöhung der bisherigen staatlichen Unterstützung, so daß er im October 1818 die Hochschule in Breslau beziehen konnte. Dort hörte er vornehmlich bei L. Wachler, Franz Passow und K. E. Chr. Schneider und trat zugleich in das philologische Seminar ein, das unter der Leitung der beiden Letzteren stand. In demselben zählte er bald zu den acht besten, durch eine Art Ehrensold ausgezeichneten Mitgliedern und löste im zweiten Jahre seines Aufenthaltes die von der philosophischen Facultät gestellte Preisfrage über die Zeitfolge der olynthischen Reden des Demosthenes mit solchem Erfolge, daß er in Gemeinschaft mit einem Freunde den ersten Preis davontrug. Doch versäumte er neben der geistigen Ausbildung auch die leibliche nicht; denn wie er schon in Bern unter Klias eifrig mitgeturnt hatte, so zog ihn hier gleichfalls das frische Treiben des Turnplatzes mächtig an. In dem Vorturner Wolfgang Menzel fand er damals einen Freund, dem er später in Aarau wieder begegnet ist. – Ungern schied R. nach genau zwei Jahren von der liebgewonnenen Bildungsstätte; doch geboten ihm seine beschränkten Vermögensverhältnisse die Rückkehr. Nach damaliger Burschensitte machte er, den Tornister auf dem Rücken und den Schläger an der Seite, die Heimreise nach der Schweiz meist zu Fuß und suchte unterwegs hervorragende Vertreter seines Faches auf, wobei ihm die von Passow mitgegebenen Programme eine freundliche Aufnahme bereiteten. Eine dauernde Verbindung knüpfte sich seit dieser Wanderzeit mit den beiden Züricher Philologen [394] J. K. v. Orelli und J. H. Bremi. Nach kurzem Aufenthalt in Brugg bot sich ihm schon ein befriedigender Wirkungskreis, indem ihn E. v. Fellenberg an seine Erziehungsanstalt in Hofwyl berief. Ein Jahr lang wirkte er hier unter sehr angenehmen Verhältnissen, so daß er die dort empfangenen Eindrücke, namentlich den Umgang mit jungen strebsamen Collegen und munteren, anhänglichen Schülern, nachmals zu den schönsten Erinnerungen seines Lebens zählte. Die ihm beschiedene Muße verwendete er zur Ueberarbeitung seiner preisgekrönten Breslauer Abhandlung und veröffentlichte diese mit einer Vorrede Passows und einem Anhange philologischer und kritischer Anmerkungen Bremi’s unter dem Titel: „De orationum Olynthiarum ordine“ bei Vogel in Leipzig (1821). Die Gediegenheit dieser Erstlingsschrift trug nicht wenig dazu bei, daß der noch nicht Vierundzwanzigjährige ohne eigentliche Anmeldung am 6. December 1821 von der aargauischen Regierung zum Professor der lateinischen und griechischen Sprache an der Kantonsschule in Aarau gewählt wurde. Am 3. Januar 1822 trat er sein neues Amt an, das er fortan ohne Unterbrechung 44 Jahre lang bekleiden sollte. Mit großer Gewissenhaftigkeit lag er demselben ob und „gewöhnte sich, einen Theil seines Lebensglückes im Bestande und Gedeihen der Schule zu finden“; dagegen gab er die ihm übertragenen Vorlesungen am sog. Lehrverein, einer 1819 von der aargauischen Gesellschaft für vaterländische Cultur gegründeten und bis 1830 fortdauernden Bildungsanstalt, einem Mittelding zwischen Gymnasium und Hochschule, bald wieder auf, weil ihm diese Thätigkeit bei der mangelhaften Vorbildung der meisten Vereinsgenossen keine rechte Befriedigung gewährte. Ueberhaupt nahm er dem Lehrverein gegenüber allmählich eine ablehnende Haltung ein, je mehr er erkannte, daß die den Vereinsgenossen gewährte freiere Bewegung auf die Disciplin der Kantonsschüler nachtheilig einwirkte. Die Folge davon war, daß man in ihm einen Hauptgegner jener Anstalt erblickte und deshalb weder ihn noch seine geliebte Schule mit feindseligen Angriffen verschonte. Diese nahmen an Leidenschaftlichkeit zu, seitdem unter dem Einflusse der Pariser Julirevolution das politische Leben im Aargau höhere Wellen zu schlagen begann. Unter diesen Umständen glaubte R. die bisherige Zurückhaltung nicht länger bewahren zu dürfen. Er erhob sein mäßigendes Wort dem damaligen Verfassungsrathe gegenüber in den „Freien Stimmen über das Aargauische Verfassungswesen“, die er in 23 Nummern vom 19. Februar bis zum 14. Mai 1831 herausgab, und kämpfte in Zeitungen und im Großen Rathe unerschrocken für das gute Recht der Kantonsschule. In die genannte gesetzgebende Behörde hatte ihn 1831 das Vertrauen seiner Brugger Mitbürger berufen. Zehn Jahre lang hat er derselben angehört und sich an den Verhandlungen als schlagfertiger und wohlgeschulter Redner oft betheiligt, so namentlich bei der Berathung des neuen 1835 eingeführten Schulgesetzes. Er selbst äußerte sich nachmals über seine politische Thätigkeit also: „Wenn ich auch heute Manches anders machen würde, so habe ich doch im ganzen meine Tendenz und meine Laufbahn im öffentlichen Leben nicht zu bereuen. Nicht erhöhte Leidenschaft oder Feindseligkeit, sondern mehr Verträglichkeit und innere Ruhe ist mir daraus geblieben.“ Freilich seine Gegner hatten solche Verträglichkeit nicht gelernt, und 1835 wäre R. bei der infolge des neuen Schulgesetzes vorgenommenen Neuwahl der Kantonsschullehrer gleich seinem Collegen A. E. Fröhlich von seinen politischen Gegnern beinahe beseitigt worden. Daß dies nicht geschah, gereichte der Schule zu besonderem Gewinn; denn neben seinem Lehramte übernahm er auch seit 1842 die Führung des Rectorates und leitete fortan die Anstalt mit einer Unterbrechung von nur zwei Jahren (1850–1851) bis zum Frühling 1861. Schon vorher, als dieses Amt unter den Professoren wechselte, hatte er es zu drei verschiedenen Malen sechs Jahre [395] lang bekleidet. Nach republikanischer Sitte nahm man seine Kraft auch noch anderweitig in Anspruch: von 1831–1836 gehörte er dem Kantonsschulrathe und dem reformirten Kirchenrathe und von 1830–38, von 1849–51 und wieder von 1867 bis zu seinem Tode der Bibliothekcommission als Mitglied an. – Seit 1841, wo seine politische Laufbahn endete, verlief sein Dasein wieder in den ruhigen Geleisen des Lehrers und Gelehrten; doch unterbrachen zwei für ihn sehr ehrenvolle Ereignisse dieses Stillleben, indem ihm am 19. Mai 1843 die Universität Basel für seine wissenschaftlichen Verdienste das Diplom eines Doctors der Philosophie ertheilte und am 3. Januar 1847 die Behörden und zahlreiche Schüler und Freunde bei der 25jährigen Jubelfeier seiner Lehrwirksamkeit ihm ihren herzlichen Antheil und ihre ungeheuchelte Dankbarkeit bezeigten. Als nach und nach die Beschwerden des Alters zunahmen, trat er 1861 vom Rectorate zurück und am 20. März 1866 mit einem Ruhegehalte auch von der Professur, behielt jedoch bis zum Frühling 1870 noch einige Lehrstunden in den oberen Classen bei. Gleichwohl blieb er bis zuletzt noch immer in Verbindung mit der Kantonsschule, da ihm die Behörde das Inspectorat in den classischen Sprachen übertrug. Er starb am 3. Januar 1879, 11 Uhr Nachts, infolge eines Schlaganfalles. – Die schriftstellerische Thätigkeit, welche R. seit 1821 entfaltete, war eine sehr reiche. Sie richtete sich mit einigen Ausnahmen vornehmlich auf griechische Sprache und Litteratur, eine Vorliebe, die ihm seit dem Besuche der Hochschule stets geblieben war. Er begann in jenem Jahre mit Demosthenes und kehrte wiederholt zu ihm zurück; dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem Dichter Pindar und den Rednern Lysias und Isokrates zu und suchte dieselben mehr als bisher der Schule anzueignen; zuletzt und bis kurz vor seinem Tode beschäftigte er sich eingehend mit den attischen Tragikern und mit Thukydides. Von diesen Schriften – es sind in meinem u. a. Werke nicht weniger als 174 Nummern – können hier natürlich nur die wichtigsten angeführt werden: „Bemerkungen über den Werth der Alterthumsstudien auf Gymnasien und höheren Schulanstalten“ (Programm, 1825); „Ueber Aulus Gabinius“ (Programm, 1826); „Observationes in Demosthenis orationem de Corona“ (1829); „De tempore, quo Aeschinis et Demosthenis orationes Ctesiphonteae habitae sint commentatio“ (Programm, 1835); „Zur Einleitung in Pindar’s Siegeslieder“ (1843); „Emendationes in Pindarum“ (Programm, 1844; auch besonders als: „Commentationum Pindaricarum particula I.“); „Annotationes in Pindari Olympia“ (Programm, 1845; auch besonders: „Commentationum etc. particula II.“); „Zu den Eumeniden des Aeschylus“ (Programm, 1846); „Die Alkestis des Euripides, als besondere Gattung des griechischen Drama“ (Programm, 1847); „Ausgewählte Reden des Lysias. Erklärt von Dr. R. R.“ (1848; 9. Aufl. in 2 Bdchn., besorgt von K. Fuhr, 1883–86), in der „Sammlung griechischer und lateinischer Schriftsteller mit deutschen Anmerkungen von M. Haupt und H. Sauppe“; „Ausgewählte Reden des Isokrates, Panegyricus und Areopagiticus erklärt“ (1849; 5. Aufl., besorgt von K. Reinhardt, 1882), zu der gleichen Sammlung gehörig; „Die Zeitgemäßheit der alten Sprachen in unsern Gymnasien“ (Programm, 1850; auch besonders); „Emendationes in Aeschyli Eumenides“ (Programm, 1855); „Emendationes in Aeschyli Agamemnonem“ (Programm, 1858); „Disputatio de locis aliquot Euripidis Iphigeniae Tauricae“ (1860; Gratulationsschrift zur 400jährigen Jubelfeier der Universität Basel). An diese selbständigen Schriften reihen sich dann Beiträge zu einer Demosthenesausgabe von Bremi (1829) und zu Orelli’s Ausgabe von Tacitus’ Dialogus de Oratoribus (1830), sowie zahlreiche Abhandlungen, Anzeigen und Recensionen in folgenden Fachzeitschriften: Mager’s Pädagogische Revue (1842–52), Zeitschrift für die Alterthumswissenschaft [396] (1842–53), Philologus (1847–77), Zeitschrift für das Gymnasialwesen (1848), Jahrbücher und Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik (1851–77), Neues Schweizerisches Museum (1861–66), Rheinisches Museum für Philologie (1862, 63, 71) und Philologischer Anzeiger (1871, 73, 77). Endlich seien von den außerhalb des philologischen Gebietes liegenden Schriften Rauchenstein’s noch angeführt: „Die drei Perioden der Aargauischen Kantonsschule“ (Programm, 1828); „Ein Blick auf die Schicksale der Aargauischen Kantonsschule. Eine Schulrede“ (1835); „Wie die Schule, ohne zu politisiren, die schweizerische Jugend für die Republik bilden und erziehen soll. Eine Rede“ (1845) und „Winkelried’s That bei Sempach ist keine Fabel“ (1861), eine Streitschrift gegen Ottokar Lorenz und dessen 1860 erschienene Abhandlung: Leopold III. und die Schweizerbünde.

Franz Fröhlich, Zur Erinnerung an Alt-Rector Prof. Dr. Rud. Rauchenstein – in: Programm der Aarg. Kantonsschule, Aarau 1880, und meine Aarg. Schriftsteller. 1. Lief. Aarau 1887. S. 73–104.