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Artikel „Raff, Joseph Joachim“ von Weber. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 159–165, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raff,_Joseph_Joachim&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 04:50 Uhr UTC)
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Raff: Joseph Joachim R. wurde geboren am 27. Mai 1822 zu Lachen, im Kanton Schwyz, wohin seine Eltern (sein Vater war der Lehrer und Organist Franz Joseph R.) kurz zuvor aus dem württembergischen Städtchen[1] Wiesenstetten im Oberamt Horb (Schwarzwald) übergesiedelt waren (R. wurde später Bürger in Wiesenstetten). Hervorragende natürliche Anlagen und große Lernbegierde legten seine Bestimmung zu einer wissenschaftlichen Laufbahn nahe, soll sich doch schon der 7jährige Knabe mit Homer beschäftigt haben. Mit größtem Eifer und bestem Erfolg besuchte er württembergische Lehranstalten und schließlich das Jesuitenlyceum in Schwyz, wo er durch gründliche philologische, mathematische und philosophische Studien das Fundament zu einem universellen Wissen legte, welches später seiner Individualität einen so eigenartigen Stempel aufdrückte. Leider ermöglichten es dem strebsamen jungen Manne seine beschränkten Vermögensverhältnisse nicht, seine Studien auf einer Universität fortzusetzen. Nachdem er daher mit glänzenden Zeugnissen das Lyceum, dem er übrigens zeitlebens große Anhänglichkeit und dankbare Gesinnung bewahrte, absolvirt, weilte er kurze Zeit in St. Gallen als Dolmetscher der lateinischen Sprache und nahm dann, kaum 20 Jahre alt, eine Lehrerstelle in Rapperswyl an.

Inzwischen entwickelte sich seine früh schon zu Tage getretene musikalische Begabung zu intensiverer Neigung zur eingehenden Beschäftigung mit der Kunst und bald zur ausgesprochenen Absicht, sich ganz der Kunst zu widmen. Zwar ohne gründlichen Unterricht, aber mit desto mehr Eifer, wie der junge Mann Alles zu erfassen pflegte, hatte er sich praktische Fertigkeit im Clavier-, Orgel- und Violinspiel erworben und daneben auch Compositionsversuche gemacht. Nachdem Proben der Letzteren von Mendelssohn, dem stets bereitwilligen, liebenswürdigen Förderer junger Talente, günstig beurtheilt und sogar auf dessen Empfehlung bei Breitkopf & Härtel verlegt wurden (1843), war der Entschluß, sich der Kunst ganz hinzugeben, ein fester geworden, trotz des Widerspruchs seiner Eltern. Der Anfang seiner musikalischen Laufbahn sollte ihm schwer genug fallen, aber sein eiserner Fleiß rang sich durch. Er entwickelte eine große productive Thätigkeit. In den Jahren 1844–47 entstanden Salonstücke für Clavier (bis op. 40), welche „zwar melodische Erfindung, aber den entschiedensten Mangel an künstlerischer (poetischer) Form und individuellem Style“ (Raff’s eigene Kritik!) verriethen; „sie zeigen Kenntniß der verschiedenen Meister und ein gewisses natürliches Geschick, dieselben äußerlich zu copiren, nirgends aber ein Eindringen in das Wesen der Kunstform, und da dieses den Styl bedingt, auch kein Streben nach einer besonderen Schreibart“. (Die op. 2–12 und 14, sowie op. 17, Album lyrique, welches gute Stücke enthält, wurden von R. später sorgfältig umgearbeitet, so daß sie zu dem Anderen aus Raff’s Feder passen).

Die Bekanntschaft mit Liszt (1845) sollte für R. von weittragendster Bedeutung werden. Der berühmte Künstler nahm sich des jungen Mannes in großherzigster Weise an und veranlaßte ihn, ihm auf seiner Weiterreise als Begleiter zu folgen. Eine künstlerische Errungenschaft dieser für sein Leben so entscheidenden und eine spätere wichtige Phase desselben begründenden Freundschaft war das genauere Vertrautwerden mit dem Liszt’schen Claviersatze, den sich R. [160] alsbald aneignete, freilich, wie er selbst gesteht, nur in seinen Aeußerlichkeiten, ein Fehler, auf den ihn Mendelssohn aufmerksam machte, als er dessen Bekanntschaft im Jahre 1846 auch persönlich machte. Es war das in Köln, wohin R. mit Liszt gekommen war und wo er sich eine Stellung zu gründen suchte. Dieses Zusammentreffen war auch die Anregung zu dem Entschluß einer gründlichen Umkehr in seiner Productionsweise, welche durch systematische Studien bewerkstelligt werden sollte. Mendelssohn bot ihm dazu selbst seine Anleitung an. Leider vereitelte der Tod des Meisters (Nov. 1847) diesen Plan. Während seines Aufenthalts in Köln beschäftigte sich R. vorwiegend mit litterarisch-musikalischen Arbeiten (z. B. Aufsätze in Dehn’s „Cäcilia“), lauter Proben eines tiefen, weitumfassenden Wissens. Der Plan, in einer großen Stadt ein seinen Fähigkeiten entsprechendes Feld der Thätigkeit zu suchen, ließ ihn die Blicke nach Wien lenken, wo ihm ein Empfehlungsschreiben Liszt’s an den Musikverleger Mechetti den Weg bahnen sollte, er scheiterte aber daran, daß Letzterer starb, als R. eben auf dem Wege nach Wien war. R. blieb daher in Stuttgart, um hier den festen Entschluß auszuführen, durch gänzliche Zurückziehung von der Oeffentlichkeit und mit eisernem Fleiß betriebene Studien der gesammten Compositionslehre seinen Kenntnissen eine tadellos sichere Basis zu verleihen und auf Grund dieser seine ganze compositorische Thätigkeit total zu reformiren. Er versuchte sich in der Folge in den meisten Formen des instrumentalen Kammerstyls und machte sich an die Composition seiner ersten Oper „König Alfred“ (Text von G. Logau). Die von Hofcapellmeister Reissiger zugesagte Aufführung wurde durch die Ereignisse von 1849 vereitelt. Auch sonst konnte R. kein größeres Werk zur Aufführung bringen, da der damals in Stuttgart herrschende Geschmack Werken von so aparter Richtung, wie sie R. einschlug, nicht günstig war. Der schönste Gewinn seines Stuttgarter Aufenthalts neben den geistigen und technischen Errungenschaften war für R. jedenfalls die intime Freundschaft mit Hans von Bülow, die fürs Leben anhalten sollte. Letzterer führte R. in origineller Weise beim Stuttgarter Publicum ein, indem er ein eben erst vollendetes Werk desselben 2 Tage darauf auswendig spielte. Inzwischen war bei R. die Sehnsucht nach Veränderung lebhaft geworden, da Stuttgart die Erreichung seiner Ziele nicht fördern konnte. Abermals wandte er sich an Liszt, traf mit diesem in Hamburg zusammen, folgte ihm nach Bad Eilsen und endlich nach Weimar, wo sich Liszt dauernd niederließ.

Hier endlich eröffnete sich R. ein seiner würdiger Wirkungskreis. In dem geistig regsamen Kreise, der sich namentlich um Liszt schaarte, und welcher eigentlich das Hauptquartier der in jener Zeit mit Einsetzung wahrhaft jugendlicher Kraft geförderten fortschrittlichen Richtung in der Musik war und als solcher energisch Front machte gegen den Conservatismus, der am Rhein und in Süddeutschland seine Hochburgen hatte, fanden auch Raff’s Bestrebungen die gebührende Anerkennung, wie sich auch seine vielseitig angeregte und anregende, wissenschaftliche Thätigkeit in lebhafter Weise entfalten konnte und wohlthuendem Verständniß begegnete. Neben Liszt, Bülow, vorübergehend auch Berlioz[WS 1] (den R. gelegentlich eines Festmahls mit einer lateinischen Anrede begrüßte) u. A. war es namentlich auch Dehn und A. B. Marx, zu denen er in nächste und für seine Bestrebungen förderndste Beziehungen treten konnte. Auch seine Oper „König Alfred“ brachte er zur Aufführung und zwar erstmals am 3. März 1851. Später unterzog R. das Werk einer Ueberarbeitung, in welcher Gestalt es 1853 wieder und zwar mit lebhaftestem Beifall erschien. 1854 transscribirte Liszt 2 Stücke daraus für Clavier. Im August 1856 kam das Werk unter großem Beifall in Wiesbaden zur Aufführung. Eine in Dresden geplante Aufführung unterblieb aus nicht aufgeklärten Gründen, wie überhaupt das Werk seither von der Bühne verschwunden [161] ist. Mittlerweile hatte sich in Raff’s schöpferischer Thätigkeit ein Umschwung vollzogen, wie er in dieser scharf ausgeprägten Weise und so mit vollem Bewußtsein unternommen wol kaum bei einem zweiten Künstler zu bemerken sein wird. Ein Geleitsbrief, den er der Ausgabe seines op. 55 „Frühlingsboten“ für Clavier mitgab (Sept. 1853) und der zur Orientirung einiger Musikreferenten dienen sollte, zeigt, mit welcher geistigen Klarheit er, mit seiner musikalischen Vergangenheit brechend, ein neues Ziel erfaßte, auf dessen Erreichung er die ganze Macht seiner Individualität, welche damit im wahrsten Sinne des Wortes geschaffen und vollendet war, richtete. In der unbeschränkten Beherrschung der Technik zum Meister herangereift, gab es für ihn von nun ab nur eine Lebensaufgabe: auf Grund des von ihm in scharfer historischer, wie aesthetischer Kritik für recht und kunstgemäß Erkannten sein künstlerisches Ideal zu verfolgen. Ebenso klar wie über sein Ziel, war er sich über die Mittel, die er sich in vollem Umfang zu eigen gemacht hatte, und es ist sehr interessant, zu sehen, wie er die Erkenntniß derselben in ebenso klaren wie werthvollen Auseinandersetzungen kund zu geben weiß, wie der erwähnte Geleitsbrief, sowie ein zweiter zu op. 57 („Aus der Schweiz“, phantast. Ekloge für Violine und Clavier), ferner gelegentliche Stellen in seinen Aufsätzen in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, dem Organ der fortschrittlichen Richtung, dessen Mitarbeiter R. 1853 wurde, und in seiner Schrift „die Wagnerfrage praktisch beleuchtet“ (1853) deutlich zeigen. Neben dem bewußten Eintritt in eine neue Schaffensperiode war er sich inzwischen auch über seine Stellung im Dienste der sogenannten „neuen Richtung“ vollkommen klar geworden, und er stand nicht an, dies in schärfster Tonart namentlich da zu präcisiren, wo er Widerspruch und besonders, wo er übelwollende Beurtheilung fand. Dies entsprach ganz seiner Individualität. Mit einer tiefen und wissenschaftlichen Bildung ausgerüstet, in Litteratur, Geschichte, Aesthetik, Philosophie durchaus belesen und durchgebildet, dabei von seinem speciellen Fache und dessen Wissenschaft mit einer Gründlichkeit durchdrungen, wie sie, abgesehen von glühender Hingabe, nur aus einem den ganzen Gegenstand mit vollendeter geistiger Durchdringung erfassenden Studium erstehen kann: sah er sich mitten in die Arena des damals hochwogenden Parteikampfes des Fortschritts gegen den von Reactionsgelüsten nicht frei zu sprechenden Conservatismus hineingestellt – und es fällt dabei manch’ grelles Schlaglicht von gegnerischer Seite, das der Sache galt, auf ihn –: diesen Platz füllt er aus mit der ganzen Energie, dem ganzen heiligen Ernste, der Begeisterung und dem Muthe, deren ein Vertreter und Vorkämpfer einer sieghaft sich emporringenden Neugestaltung der Dinge nur immer fähig sein kann. Er ist dabei eben so wenig blinder Fanatiker für Richard Wagner, wie er dessen Bedeutung, Ziele, Intentionen und individuelle Eigenart nicht im Mindesten verkennt, sie aber immer von einem höheren Gesichtspunkt aus beurtheilt und theilweise verurtheilt. „Das Unendliche in der Erscheinung Richard Wagner’s vom Endlichen zu sondern und der Geschichte eigen zu machen“, dies ist der Endzweck seiner kritischen Thätigkeit Wagner gegenüber. Er stellt Theorie gegen Theorie, die aus allgemein wissenschaftlicher Beleuchtung des Gegenstandes gewonnene gegen die an die Individualität Wagner’s und seine naturgemäßen Schranken gebundene. Leider ist er der Welt den 2. Theil seiner Kritik, welcher speciell den Speculationen Wagner’s über das „Kunstwerk der Zukunft“ gelten sollte, schuldig geblieben; vermuthlich wäre derselbe gefolgt, wenn er Wagner überlebt hätte. Der erwähnte 1. Theil (1853) ist in hohem Grade inhaltsreich und bedeutungsvoll durch allgemeine Gedankentiefe wie insbesondere durch geistvolle Excurse geschichtlichen, theoretischen und ästhetischen Inhalts. Seiner musikalisch productiven Thätigkeit seit dem Erscheinen der [162] „Frühlingsboten“ (op. 55) ist der Stempel der Individualität und des Styls in einer Weise aufgeprägt, welcher objective Mustergiltigkeit zuzusprechen ist. Vorbereitet erscheint dieser Styl schon in den 7 Heften Lieder op. 47–53 und in mannigfaltigster Weise auf nahezu allen Gebieten musikalischen Schaffens bezeugt er sich in fast allen seinen folgenden Werken. In seine Weimarer Zeit fallen davon u. a. Salonstücke, Operntransscriptionen für Clavier und Violine und Clavier, dann seit 1853 Kammermusikwerke, seine Violinsonate op. 73, sein 1. Trio, Quartett (op. 77), Ouvertüren, die Orchestersuite in E, der 121. Psalm für Soli, Chöre und Orchester, die Ballade „der Traumkönig und sein Lieb“, Concertstück „die Liebesfee“ für Violine und Orchester, die Musik zu Genast’s[WS 2] Schauspiel „Bernhard von Weimar“, wovon die Ouvertüre (über „ein feste Burg“) später den Weg in fast alle Concertsäle fand.

In Weimar verlobte sich R. mit der geistvollen und liebenswürdigen Schauspielerin Doris Genast, der Enkelin des von Goethe hochgeschätzten Charakterdarstellers. Als diese 1856 ein Engagement in Wiesbaden annahm, siedelte auch R. zuerst zu vorübergehendem, dann im gleichen Jahre noch zu bleibendem Aufenthalte dahin über. Im August dieses Jahres wurde sein „König Alfred“ allda mit großem Beifall aufgeführt. Im Jahre 1859 erfolgte seine Verehelichung. Seine äußeren Verhältnisse gestalteten sich von jetzt ab sehr einfach, freilich namentlich anfangs auch nicht sehr glänzend; vielmehr mußte er sich des lieben Brotes halber redlich plagen. Bis zum Jahre 1870 hatte er wöchentlich gegen 50 Unterrichtsstunden zu ertheilen. Weniger Erfolg als seine Lehrthätigkeit hatten seine Compositionen, obgleich er seine karg bemessenen Mußestunden unermüdlich zum Vollenden angefangener und Skizziren neuer Werke verwendete. Von seinen Zielen ließ er sich dadurch freilich nicht abbringen. Unbekümmert um seine Gegner schlug er die Anfechtungen derselben mit einem Werke nach dem andern zu Boden und ging ruhig den Weg, den ihm seine begabte Natur vorschrieb. So blieben denn neben der „Anerkennung[WS 3] der Besten“ auch äußere Anerkennungen, die er sich namentlich durch Aufführungen seiner Werke errang, nicht aus. Mit seiner 1863 von der k. k. österr. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien preisgekrönten Symphonie „an das Vaterland“ drang sein Name mit einem Mal lauter in die Oeffentlichkeit im In- und Auslande. Seit 1864 reihten sich auch fürstliche Auszeichnungen und andere Ehrungen in großer Zahl, seine Verdienste zu würdigen, an. 1864 erschien seine erste Orchestersuite in C, in Karlsruhe zuerst aufgeführt. Die Symphonie „Im Walde“ (sein populärstes Werk) verbreitete seinen Ruhm allerorten. Immer weiter steckte er sich seine Ziele; alle Compositionsgattungen ergriff er, viele bereicherte er mit Meisterwerken ersten Ranges und bleibenden Werthes. Als er endlich Anfangs der 70er Jahre in die glückliche Lage versetzt war, daß er die Verleger nicht mehr zu suchen brauchte, diese vielmehr von allen Seiten die Hände nach seinen Manuscripten ausstreckten, da stürzte er sich mit Wonne in ein wahres Meer von Arbeit. Die Freude am Schaffen, vielleicht auch das Entgegenkommen, resp. Drängen der Verleger gaben den Opfern, die er der Muse brachte, da oft fast hekatombenartigen Charakter, wo denn freilich die fabelhafte Beherrschung alles Technischen, eine unglaubliche Routine oft ersetzen mußten, was nicht durch die unmittelbare Eingebung wahrer und ächter Begeisterung bestritten werden konnte. Bis 1877 lebte R. ausschließlich der Composition. Als in diesem Jahre der Ruf zur Uebernahme der Directorstelle des neu gegründeten Dr. Hoch’schen Conservatoriums für Musik in Frankfurt a. M. an ihn erging, leistete er demselben Folge. Mit gewohntem Pflichteifer und geradezu unerschöpflicher Arbeitsfreude und -kraft widmete er sich diesem Amte, war Secretär, Bibliothekar, Lehrer, Director, fesselte die hervorragendsten Lehrkräfte, wie Klara Schumann, Stockhausen[WS 4], [163] Coßmann etc. zu gemeinsamer fruchtbringender Thätigkeit an die Anstalt, wirkte lehrend und anregend nach allen seinen hervorragenden Kräften und beschäftigte sich daneben mit der Ausarbeitung seiner musikalischen Pläne, die nach wie vor die größten Ziele erstrebten, ja wie ein Blick in den Katalog seiner Werke lehrt, sich in der letzten Zeit nur noch im größten Rahmen bewegten. Eine seiner letzten großen Arbeiten war die Composition seines Oratoriums „Weltende, Gericht, neue Welt“. Mitten in der Vollkraft seiner Thätigkeit starb er an einem Herzschlag in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1882. – „Arbeit war der Inhalt seines Lebens, gleichzeitig schied er von beiden“ sagt ein Nachruf. – – –

Als R. mit seiner Vergangenheit als ausschließlicher Saloncomponist abschloß, war es der Clavierstyl, in dem seine Umgestaltung zu der ihm eigenen Individualität zunächst zum Ausdruck kam. Der Grundgedanke seines Claviersatzes lag, wie er selbst sagt, „in der negativen Beschränkung desselben“: „nichts für Clavier zu erfinden oder als erfunden anzusehen, was seiner Natur nach vocal oder anderweitig instrumental ist“. Sein Satz ist demnach ganz specifisch „claviermäßig“, und er erreichte darin auch eine Vollkommenheit, Reinheit und Spielbarkeit, wie sie nur bei wenig neueren Componisten so principiell durchgeführt erscheint. Damit geht Hand in Hand eine staunenswerthe Sicherheit im Effect, oft eine Poesie des Inhalts, die überhaupt einen Grundzug seines Schaffens bildet, und eine eminente Fruchtbarkeit in der Form. Nicht nur füllte er alte Formen mit neuem Inhalt und Geiste (wie in seinen Suiten), sondern er erweiterte diese auch innerhalb ihres Rahmens den modernen Bedürfnissen entsprechend (man vergleiche seine op. 69, 71, 72 mit den späteren z. B. op. 162). – In seinen Tanzcapricen, die für ihn typisch sind, finden sich die modernen Tanzformen idealisirt, selbst Polka und Galopp, ähnlich wie Walzer und Mazurka bei Chopin[WS 5] (cf. op. 54, 79, 83, 95, 104 etc.). – Die Form der Transscription diente ihm oft zu ganz specifischen, formal originalen Zwecken; es sind selbstständige aus dem Geist absoluter Claviermäßigkeit herausgearbeitete Stücke, dabei vollendet individuelle Reproductionen des fremden Gedankens („Oper im Salon“ und viele andere, manche in Etudenform). – Nicht minder wohldurchdacht ist auch seine Schreibart für Streichinstrumente, welche von seinen ersten Veröffentlichungen an (op. 57 vom Jahre 1853) in zielbewußter Weise die technische, wie überhaupt individuelle Eigenart des Streichinstruments in erster Linie berücksichtigend, dieser den vollsten Spielraum läßt und damit der Wirkung von Haus aus sicher ist. Seine Salon- und Phantasiestücke basiren oft auf mehr sinnlicher Wirkung des Technischen, welcher er indessen (s. Geleitsbrief zu op. 57) die vollste Berechtigung vindicirt, „wie jeder sinnlichen Wirkung überhaupt in einer Kunst, die sich eben durch den Gehörsinn ans Gemüth wendet“. Im Clavier- wie Violinsatz trat er durchaus das Erbe Liszt’s und Paganini’s an, wenn sich auch seine Ausdrucksweise mehr Schumann nähert. – Was R. an Kammermusik geschrieben, gehört zum Theil zum Besten der ganzen neueren Litteratur. Sein Grundsatz, wonach „nur das als Kunstproduct vorhanden ist, was seinen Durchgangspunkt durch den Geist gewonnen hat und aus geistiger producirender Thätigkeit gewonnen wird“ (Hegel), läßt zwar der Reflexion oft mehr Spielraum, als für die volle Wirkung von Vortheil ist. Sein festes Beharren in der Bahn der eigenen Individualität, die er sich in ernster Arbeit und Selbstkritik eröffnet, der Verzicht auf den Beifall der Menge und auf wohlfeile Salonerfolge, machten ihn der Kritik – vielfach zu seinem Schaden – ziemlich unzugänglich; daß ihm so manch genialer Wurf gelang, bestärkte ihn wol in der stricten Einhaltung des eigenen Weges: darin liegt im Hinblick auf seine außerordentliche Productivität seine Stärke wie seine Schwäche.

[164] Daß er auch die größten Formen und das mit den größten Mitteln mit absoluter Meisterschaft beherrschte, liegt in seiner Durchbildung begründet. Seine ganze Richtung und Anschauungsweise vom Wesen seiner Kunst geht darauf hinaus, daß er in der Symphonik, d. h. dem polyphonen Styl des Symphonisten den Gipfelpunkt erblickt, in dem „das Gesammtmaterial der Musik endlich zu seiner eigensten Verwendung, seiner völligen Befreiung gelangte“. – Nebenbei gesagt ist dies auch die Wegscheide, wo sich Raff’s Kunstideal von dem R. Wagner’s trennt. – Daß der Zeitgenosse und begeisterte Verehrer Berlioz’ die Form, in der dieses Ideal zum Ausdruck kommt, den Orchestersatz, virtuos beherrschte, ist selbstverständlich. Was als Grundzug neben der technisch formalen, dabei aber immer durchgeistigten Vollendung durch diesen Schaffenszweig Raff’s geht, ist lediglich wieder ein potenzirter Ausdruck dessen, was seiner Production überhaupt ureigen ist: feines poetisches Schaffen auf der Basis eines großen Kunstverstandes. Ein Blick auf seine Ouvertüren, Suiten, namentlich aber seine 12 Symphonien und ihre Titel bestätigen dies („An das Vaterland“ op. 96, „Im Walde“ op. 153, „Leonore“ op. 177, „Gelebt, gestrebt – gelitten, gestritten – gestorben, umworben“ op. 189, „In den Alpen“ op. 201, „Frühlingsklänge“ op. 205, „Im Sommer“ op. 208, „Zur Herbstzeit“ op. 213, „Der Winter“ op. 214; auch sein Streichquartett „Die schöne Müllerin“ op. 192, II gehört hierher). Ueberall finden wir den geistvollen Tonsetzer, der selbst, wenn er Conventionelles zu sagen hat, dies in irgend einer originellen Form vorbringt. Weniger Anklang als seine instrumentalen Werke fanden bis jetzt seine vocalen Schöpfungen. Bei den Liedern mit Clavier werden die durchaus selbstständigen und oft recht intricaten Begleitungen nicht eben zu ihrer Popularität beitragen. Trotzdem giebt das ideelle Erfassen der Texte und Situationen, die phantasiereiche, poetische Auffassung, die mit tiefer Innerlichkeit in den Gegenstand sich versenkt und aus den daraus entnommenen Stimmungen heraus seiner Individualität gemäß arbeitet, vielen seiner Lieder und Gesänge hervorragend vornehmes Gepräge. Geräth der Tonsetzer dabei auf manches Absonderliche und vermeidet nicht subjective Schroffheiten, so trifft er doch öfter auch in schlichter, inniger und sinniger Ausdrucksweise (siehe z. B. op. 114) dem edlen Volkston nah verwandte Töne. Auch hier schrieb R. in allen möglichen Formen mit unterschiedlichem Erfolge und auch ebensolcher Bedeutung. – Seine Thätigkeit als Operncomponist ist merkwürdiger Weise mit Ausnahme der vereinzelten Aufführungen des „König Alfred“ 1851, 1853, 1856 und einer einzigen der „Dame Kobold“ (Weimar 1870) gänzlich unbekannt geblieben, und doch liegen 6 Opern aller Gattungen vor, nämlich (außer den erwähnten) „Samson“ 1852–56, „Die Parole“, komische Oper, 1867–68, „Benedetto Marcello“ 1877–78, „Die Eifersüchtigen“, komische Oper, 1880–81 (sämmtliche vier nach eigenen Texten). Ob ein warmer Appell neuesten Datums von Seite A. Schäfers (in der deutschen Musikerzeitung) zur Aufführung dieser Werke Erfolg haben wird, wird sich erst zeigen müssen. Der schriftstellerischen Thätigkeit wurde gedacht. Hier ist noch anzufügen, daß sein Styl fesselnd, der Inhalt tief greifend, die Form prägnant, scharf die Beweisführung ist; beißender Sarkasmus schärft sich oft zu vernichtendem Spott. Ueberall aber, wo er negirt, setzt er auch Positives an Stelle des Getadelten. – Eine Herausgabe der litterarischen Arbeiten Raff’s liegt in der Absicht seiner in München lebenden Wittwe. Eine Selbstbiographie, die R. immer schreiben wollte, unterblieb leider, sehr zum Nachtheil des Einblicks in seine Thätigkeit. Desgleichen gedieh die Abfassung einer „Musiklehre“, die er öfter als eigentliche Mission seines Lebens bezeichnen mochte, nicht über den Anfang hinaus.

[165] Als Mensch bleibt R. denen unvergeßlich, die das Glück seines geist- und gemüthvollen Umgangs genießen, die seine ausgezeichneten Charaktereigenschaften, unter denen ein hoher Grad von Bescheidenheit nicht die geringste war, bewundern und schätzen lernen durften. Eine Biographie Raff’s, gestützt auf das denkbar ausgedehnteste Quellenmaterial aus der Feder Albert Schäfers ist im Erscheinen begriffen.

Weber.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 159. Z. 11 v. o.: zu streichen „Städtchen“. [Bd. 29, S. 776]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Louis Hector Berlioz (1803–1869); französischer Komponist und Musikkritiker
  2. Wilhelm Karl Albert Genast (1822–1887); Jurist und Dichter
  3. Vorlage: Anerkennnng
  4. Julius Christian Stockhausen (1826–1906); deutscher Sänger (Bariton), Gesangspädagoge und Dirigent
  5. Fryderyk Franciszek Chopin (1810–1849); polnisch-französischer Komponist, Pianist und Klavierpädagoge