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Artikel „Otto, Friedrich Julius“ von Robert Otto in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 747–751, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Otto,_Friedrich_Julius&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 13:58 Uhr UTC)
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Otto: Friedrich Julius O. wurde geboren am 8. Januar 1809 zu Großenhain, einem kleinen industriellen Städtchen im Königreich Sachsen, woselbst sein Vater, Samuel Gottlob, als Inhaber eines für die damalige Zeit schwunghaft betriebenen Schnitt- und Colonialwaarengeschäftes zu den angeseheneren Bürgern gehörte. Als die Mutter, eine geborene Lokusch, am 6. Februar, kurz nach der Geburt des Sohnes und infolge derselben gestorben war und der Vater sich ein Jahr später wieder verheirathete, wurde Julius zu den Großeltern nach Grimma gegeben, die sich mit ungewöhnlicher Liebe der ersten Erziehung des sanften und folgsamen Knaben annahmen. Im 9. Jahre kam dieser nach seiner Vaterstadt zurück. Da der Vater lediglich Kaufmann war und auch der Mutter, einer biederen, arbeitsamen Frau, jeder Sinn fürs Ideale abging, so konnte das elterliche Haus ihm keine höhere geistige Anregung [748] bieten. Ein einziges Buch – eine illustrirte Bibel – wurde bei außerordentlichen Gelegenheiten zum Besehen der Bilder und zum Lesen gegeben. Der Grund seiner wissenschaftlichen Bildung wurde auf der Bürgerschule gelegt, wo er als Extraneer auch in den alten Sprachen und im Französischen unterrichtet ward. So vorbereitet trat er erst 14½ Jahr alt, Ostern 1823, den Tag nach seiner Confirmation, bei dem seinen Eltern sehr befreundeten und benachbarten Apotheker Schütz in die Apothekerlehre. Hier entwickelte sich während fünf zum Theil recht schwerer Lehrjahre die leidenschaftliche Liebe zu den Naturwissenschaften, die ihn später nicht wieder verlassen sollte. Am ersten Ostertage des zweiten Lehrjahres wurde ihm feierlich eröffnet, daß er von nun an auch täglich Abends eine Stunde lesen dürfe! Das Geschäft besaß eine für die damalige Zeit außerordentlich reichhaltige Bibliothek guter Werke. Schon bald darauf zum Laboranten befördert, konnte er fast volle drei Jahre seiner Lehrzeit im Laboratorium thätig sein. Hier, wo fast alle Präparate für den Bedarf des frequenten Geschäfts dargestellt wurden, sammelte er reiche praktische Erfahrungen und hatte daneben Muße genug, die reiche Bibliothek zu benutzen. Klaproth’s chemisches Wörterbuch lernte er fast auswendig. So vorbereitet und nachdem er mit dem Prädicate „fertig“ das Gehilfenexamen bestanden hatte, war es sein sehnlichster Wunsch zu studiren. Nachdem ihm endlich auf vieles Bitten vom Vater zu dem Zwecke die Summe von 200 Thaler ausgesetzt war, bezog er die Universität Jena. Für diese Wahl war bestimmend, daß Jena damals allein ein pharmaceutisches Institut besaß, welches unter der Leitung von Wackenroder sich mit Recht eines ausgezeichneten Rufes erfreute. In das Institut selbst einzutreten, dazu reichten allerdings die Mittel nicht aus. Es wurde aber belegt, was diese irgend erlaubten: Chemie und Physik bei Döbereiner, Pharmacie und chemisches Praktikum bei Wackenroder, Botanik und Mineralogie bei Zenker; Mathematik, ja selbst eine philologische Vorlesung über Tacitus u. a. m.; bei einem armen Studirenden der Philologie wurde Privatunterricht im Lateinischen und Englischen genommen und diesem dafür Unterricht in den Naturwissenschaften ertheilt. Bald lernte Wackenroder den strebsamen jungen Mann, den seine Commilitonen im Praktikum schon häufig um Rath angingen, schätzen, und so übertrug ihm dieser schon im zweiten Studiensemester die Stelle eines Assistenten an seinem Institute. Dadurch fand O. Gelegenheit, Wackenroder bei seinen Vorlesungen und wissenschaftlichen Untersuchungen, namentlich bei seiner Arbeit über die Ausmittlung des Arsens behilflich zu sein, vielfache Anregungen zu empfangen und in dem hochverehrten Lehrer einen treuen Freund und Gönner für das ganze Leben zu gewinnen. Auf die Empfehlung dieses Mannes wurde ihm im Herbste 1830 die Stelle eines Chemikers an Nathusius’ großartiger Gewerbeanstalt zu Althaldensleben bei Magdeburg (s. A. D. B. XXIII, 271) angetragen, die er auch annahm, da seine Mittel ihm die Verfolgung der akademischen Carriere nicht erlaubten. Die Anstalt stand damals in der höchsten Blüthe. Sie umfaßte eine Porcellanfabrik, eine Steingutfabrik, eine Ziegelei, eine Branntweinbrennerei, eine Brauerei, eine Liqueurfabrik, eine Essigfabrik, eine Obstweinfabrik, eine Oelraffinerie und eine Fabrik von Mehlpräparaten. Hier war O. in der Lage, den praktischen Betrieb der Gewerbe genau kennen zu lernen, und die große, musterhafte Oekonomie mit den ausgedehnten Handelsgärten bot ihm günstige Gelegenheit, sich einen Begriff vom Wesen der Landwirthschaft zu verschaffen und seine Kenntnisse der Botanik zu erweitern. Auch im Lehren konnte er sich üben, da er den Kindern von Nathusius Unterricht in den Naturwissenschaften zu ertheilen hatte. Das Laboratorium, in der schönen gothischen Capelle des ehemaligen Klosters angelegt, war trefflich ausgestattet und das daran stoßende Bibliothekzimmer enthielt eine Sammlung [749] naturwissenschaftlicher und technischer Werke, welche er als Bibliothekar fast nach Belieben vermehren durfte. In dieser Stellung verlebte O. zwei Jahre, wie er sie nannte, die schönsten seines Lebens.

Im Herbste 1832 wurde O. durch Sprengels – des bekannten Agriculturchemikers – Vermittelung an die in Braunschweig zu errichtende landwirthschaftliche Lehranstalt als Hilfslehrer der Chemie berufen. Da die Anstalt in der beabsichtigten Weise nicht ins Leben trat, und das Ministerium die durch den Director der Anstalt erfolgte Berufung nicht anerkannte, so hatte er anfangs in Braunschweig mit vielen Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Man stellte ihn 1834 provisorisch am Obersanitätscollegium, der obersten Medicinalbehörde des Herzogthums, für die chemischen und pharmaceutischen Angelegenheiten an. Im J. 1835 wurde er, bei der theilweisen Umgestaltung des Collegium Carolinum in eine technische Lehranstalt, zum Professor extraordinarius der angewandten Chemie ernannt; 1836 auch zum Assessor extraordinarius am Obersanitätscollegium. 1838 studirte er einige Zeit in Liebig’s Laboratorium zu Gießen; 1841 wurde er Assessor ordinarius, 1842 Professor ordinarius, das Jahr 1846 brachte ihm das Patent eines Medicinalrathes. In demselben Jahre übernahm er auch die Vorträge über allgemeine Chemie am Carolinum, nach erfolgter Pensionirung des früheren Lehrers. Im J. 1866 wurde er in das Directorium der Anstalt berufen. In Althaldensleben schon veröffentlichte O. eine Arbeit über ein Acetometer, welche zugleich eine Untersuchung über den Ammoniakgehalt der Ammoniakflüssigkeit einschloß. Auf diese Arbeit wurde ihm durch Vermittelung des Professors Schulze in Jena von der dortigen philosophischen Facultät der Doctortitel verliehen. Nachdem er sich dann, bald nach seiner Niederlassung in Braunschweig, durch seine Arbeiten über Solanin, Phosphorsäuresalze, Scheidung der Phosphorsäure u. a. dem chemischen Publicum, durch seine Abhandlungen über verschiedene landwirthschaftliche Gewerbe in Sprengels Zeitschrift und durch eine Anleitung zur Untersuchung der Ackererde für Sprengels Bodenkunde den Landwirthen vortheilhaft bekannt gemacht hatte, gab er in den Jahren 1837–1840 ein Lehrbuch der rationellen Praxis der landwirthschaftlichen Gewerbe und eine Bearbeitung von Graham’s Elements of chemistry heraus. Diese beiden Werke entschieden über Otto’s künftige Thätigkeit; sie wurden mit so großem Beifalle aufgenommen, daß bei den vielen Amtsgeschäften kaum die erforderliche Zeit erübrigt werden konnte für die rasch folgenden neuen Auflagen und daß sich sein Wirken im Laboratorium vorzugsweise darauf beschränken mußte, kleinere Arbeiten auszuführen, die in Beziehung zu beiden Werken standen; außerdem gestattete die primitive Einrichtung seines Laboratoriums die Entfaltung einer gedeihlichen experimentellen Thätigkeit nicht; so oft auch O. auf das Unzulängliche dieser Verhältnisse im eigenen Interesse, wie in dem seiner zahlreichen Schüler aufmerksam machen mochte, es blieb beim Alten! Das erstere der genannten Werke darf insofern als ein epochemachendes bezeichnet werden, als O. in demselben zuerst die Bedeutung der chemischen Wissenschaft für den rationellen Betrieb der landwirthschaftlichen Gewerbe, die man bis dahin ganz empirisch gehandhabt hatte, in das richtige Licht stellte. Aus der ursprünglichen freien Bearbeitung der Elements of chemistry, einem Werke von mäßigem Umfange, ging jenes als Graham-Otto’s „Ausführliches Lehrbuch der Chemie“ jedem Chemiker bekannte classische, große Werk hervor, das mit dem Lehrbuche der landwirthschaftlichen Gewerbe den Ruf des Vieweg’schen Verlages für naturwissenschaftliche Disciplinen begründet hat. Von jenem Werke bearbeitete O. bei den späteren Auflagen nur noch die anorganische Chemie; die organische Chemie, sowie die theoretische und physikalische Chemie wurden abgezweigt und selbständig von Kolbe resp. Buff, Kopp und Zamminer [750] herausgegeben. Alle diese Werke erfreuen sich noch jetzt, in einer den Fortschritten der Wissenschaft entsprechenden Weise umgearbeitet, einer großen Verbreitung. Daß O. das Buch auch bei den letzten Auflagen, nachdem es längst mit den ursprünglichen „Elements“ kaum noch etwas gemein hatte, immer wieder unter dem Titel: „Graham-Otto’s Lehrbuch“ erscheinen ließ, darf als ein schöner Beweis der ihm überhaupt eigenen Pietät und Bescheidenheit angesehen werden.

Außer jenen beiden großen Werken hat O. noch ein „Lehrbuch der Essigfabrikation“ und eine „Anleitung zur Ausmittelung der Gifte und zur Erkennung der Blutflecken bei gerichtlich-chemischen Untersuchungen“ geschrieben. Auch diese beiden Werke erlebten, das letztere sogar innerhalb weniger Wochen mehrere Auflagen und haben ihren Verfasser überlebt. Die Anleitung ist von dem unterzeichneten Sohne desselben auf dem Niveau gehalten, kürzlich schon in sechster Auflage erschienen.

Otto’s amtlicher Wirksamkeit als Mitglied des Obersanitätscollegiums darf der geradezu mustergiltige gewerbliche Zustand des Apothekerwesens im Braunschweigischen zugeschrieben werden. Als Lehrer am Collegium Carolinum lagen ihm die Vorträge über allgemeine Chemie, Pharmacie, Pharmakognosie, analytische Chemie, gerichtliche Chemie und bis zur Berufung eines Technologen auch über technische Chemie und landwirthschaftliche Gewerbe ob, sowie auch die Leitung des Laboratoriums. Wie in seinen Werken, verband er in seinen Vorträgen populäre Darstellung mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. Er war entschieden der beliebteste Lehrer der Anstalt; durch seinen lebhaften, klaren, glänzenden und anregenden Vortrag, den er mit sorgfältig ausgewählten, nie mißglückenden Experimenten auszustatten verstand, wurden selbst die Gleichgiltigsten fortgerissen. Seine Vorlesungen, namentlich die über landwirthschaftliche Gewerbe, in welchen er aus dem Vollsten schöpfen konnte, waren die besuchtesten; es gehörte zum guten Tone, dieselben zu belegen. In ihnen erschienen, und zwar mit seltener Regelmäßigkeit, nicht nur Chemiker und Pharmaceuten, sondern auch die Mehrzahl der anderen Kategorien angehörenden Studirenden. Bei dem großen Rufe, den O. in weitesten Kreisen genoß, wurde er fast täglich und selbst aus entfernten Erdtheilen um Rath in chemischen Angelegenheiten angegangen. Er hat diesen unverdrossen ertheilt, ohne mehr dafür zu beanspruchen, als Mittheilung der auf Grund seiner Rathschläge gewonnenen Erfahrungen und selbst dann noch, als er die betrübende Erfahrung machen mußte, daß die gewünschten Mittheilungen ihm in der Regel nicht zu Theil wurden. Als die Chemiker Schönbein und Böttger ihr geheimgehaltenes Verfahren der Erzeugung einer explosiven Baumwolle, unserer jetzigen Schießbaumwolle, dem deutschen Bunde zum Kauf angeboten hatten, glückte auch O. die Darstellung des neuen Explosivstoffes. O. zögerte aber keinen Augenblick, die von ihm gefundene einfache Bereitungsweise desselben in der Augsburger Allgemeinen Zeitung unter dem 5. October 1846 zu veröffentlichen. Große Verdienste hat sich der selbstlose Mann namentlich auch um das Emporblühen der Zuckerindustrie im Herzogthume Braunschweig erworben.

Im gewöhnlichen Leben war O. eine joviale, außerordentlich gesellig angelegte Natur, feineren geistigen Genüssen und fröhlicher Tafelrunde zugethan, ein Verehrer der Musik und der Schauspielkunst, ein warmer Freund der Naturschönheiten und immer bestrebt, das Maß seiner allgemeinen Bildung durch Lectüre guter deutscher, französischer, englischer und italienischer Schriftsteller zu vermehren. Die Oden des Horaz lagen stets auf seinem Nachttische. Viele gelehrte Gesellschaften verliehen ihm die Ehrenmitgliedschaft; der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zeichnete ihn durch die Verleihung des Rothen [751] Adlerordens, sein Landesherr durch das Ritterkreuz des Ordens Heinrichs des Löwen aus.

Viel zu früh für die Wissenschaft, für die er gelebt und gestrebt, starb er erst wenige Tage über 61 Jahre alt am 12. Januar 1870 nach einer langen schmerzhaften Krankheit. Ihn betrauern außer seiner Gattin, mit der er viele glückliche Jahre harmonischster Ehe verleben durfte, eine Tochter und sein Sohn Robert, dem das schmerzliche Glück zu Theil wurde, bald nach dem Heimgange des Vaters in dessen Stellung eintreten zu können. Ein einfacher Marmorblock zeigt die Stelle, wo auf dem Petrikirchhofe zu Braunschweig unter einem Rasen von immergrünem Epheu das ruht, was Sterbliches an Julius O. war.