ADB:Meyer, Jürgen Bona
*): Jürgen Bona M., Philosoph, geboren am 25. October 1829 in Hamburg, † zu Bonn am 22. Juni 1897. Als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns wuchs er in Hamburg auf und besuchte 1842–49 das dortige Johanneum. Im Herbst 1849 ging er nach Bonn, um dort Medicin und Naturwissenschaften zu studiren, wandte sich jedoch bald über die letzteren zur Philosophie hinüber, deren Studium er seit 1851 in Berlin, vornehmlich unter Trendelenburg, fortsetzte. Hier ward er im Sommer 1854 auf Grund einer Dissertation „de principiis Aristotelis in distributione animalium adhibitis“ zum Doctor der Philosophie promovirt. Dem gleichen Gegenstand widmete er im folgenden Jahr ein größeres Werk: „Aristoteles’ Thierkunde; [561] ein Beitrag zur Geschichte der Zoologie, Physiologie und alten Philosophie“. (Berlin 1855). Inmitten der Mannichfaltigkeit der empirischen Naturbetrachtung des antiken Meisters erkennt das Buch scharfsinnig dessen philosophisches System in seinen Grundzügen wieder. M. wurde darauf zur Mitarbeit an dem Aristotelesindex herangezogen, den die Berliner Akademie herstellen ließ, und übernahm dafür die naturwissenschaftlichen Artikel. Mittlerweile hatte er 1855 einen längeren Aufenthalt in Paris genommen, um sich mit der modernen französischen Philosophie vertraut zu machen, und ließ sich dann in seiner Vaterstadt als Privatgelehrter nieder. Doch war er keineswegs gesonnen, sich in einsame Studien zu vergraben. Schon im Winter 1856 bestimmte ihn die materialistische Bewegung jener Jahre zu öffentlichen Vorträgen am Hamburger akademischen Gymnasium, die er unter dem Titel: „Zum Streit über Leib und Seele; Worte der Kritik“ – das heißt wesentlich der Kantischen – im Druck erscheinen ließ. Eine weitere Reihe von Vorträgen faßte er gleichzeitig in der Schrift: „Voltaire und Rousseau in ihrer socialen Bedeutung“ zusammen. Daneben stellte er sich rührig in den Dienst der verschiedensten örtlichen Culturbestrebungen: Kunsthalle, Schillerdenkmal, Volksbibliothek, kaufmännische Fortbildungsanstalt u. dgl. m., wofür er zugleich als Mitherausgeber des Hamburgischen Wochenblatts zu wirken suchte. Mit besonderer Theilnahme begleitete er die Sache der Schulreform, die er in mehreren Schriften zu fördern beflissen war, so: „Staat und Kirche im Streit über die Schule in Hamburg“ (1861), „Grundzüge der Schulreform unserer Zeit mit Rücksicht auf die Geschichte des Schulwesens in Hamburg“ (1861), „Religionsbekenntniß und Schule“ (1863). Schon 1860 hatte er auch „Gedanken über eine zeitgemäße Entwicklung der deutschen Universitäten“ veröffentlicht.
MeyerDen Wunsch, sich selbst als Universitätslehrer zu versuchen, verwirklichte M. erst nach längerem Schwanken mit dreiunddreißig Jahren im Herbst 1862 durch seine Habilitation als Privatdocent der Philosophie in Berlin. Er traf auf günstige Umstände. An Stelle des altersschwachen Hegelianers Henning wurden ihm alsbald auch die philosophischen Vorlesungen an der Kriegsakademie übertragen. Zu Anfang 1867 gab Trendelenburg, verstimmt durch eine neue Prüfungsordnung, seine Stelle in der Commission für das Oberlehrerexamen auf, und M. erhielt sie; infolge dessen wuchs die Zahl seiner Zuhörer beträchtlich an. Bald darauf, im Frühjahr 1868, ward er als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl des jüngst verstorbenen Brandis nach Bonn berufen. Er vermählte sich mit Agnes, geborener Mosson, Wittwe des Malers Reimer, erwarb Haus und Garten am Rhein und trat mit einer Rede über „die Gemeinschaft der Facultäten“ (Bonn 1869) in den Kreis der rheinischen Universität, dem er bis an sein Lebensende zugehörte; 1887/88 hat er das Rectorat bekleidet. Er war ein vielfach anregender, kenntnißreicher Lehrer. In seinen historisch darstellenden Collegien über Philosophie bekannte er sich im allgemeinen zur Kantischen Richtung; von systematischen Disciplinen stand die Psychologie im Vordergrund seines Interesses. Besonderen Fleiß verwandte er auf die Lehre der Pädagogik und ihrer Geschichte; zahlreichen Zulauf hatte sein Publicum über akademisches Leben und Studium, das er regelmäßig für Hörer aller Facultäten las. Hier erschien er in seiner ganzen Natur: ein kleiner, freundlich ausschauender Mann mit langem, blondem Haar und Bart; wohlwollend, zumal der Jugend gegenüber; idealistisch und optimistisch gesinnt, freilich mehr aus einem Bedürfniß des Gemüths, als aus dem seines vorsichtigen, mitunter unschlüssigen Verstandes.
Der zünftigen Wissenschaft ist, von kurzen Referaten in Journalen abgesehen, [562] aus späteren Jahren nur noch eine Schrift Meyer’s zuzurechnen, die er zu Anfang seiner Bonner Zeit ausarbeitete: „Kant’s Psychologie“ (Berlin 1870). Als umsichtige Untersuchung der psychologischen Grundlage und Methode des Kantischen Kriticismus hat sie dauerndes Verdienst. Im übrigen ergab er sich grundsätzlich mehr und mehr einer populärwissenschaftlichen Schriftstellerei. Sein Ideal war, die Culturbestrebungen des Zeitalters der Aufklärung vom höheren Standpunkt des 19. Jahrhunderts aus zu erneuern, Wissenschaft und Volksbildung in nähere Beziehung zu setzen. Insbesondere hielt er es für die Aufgabe des Philosophen, wichtige Probleme der Welt- und Lebensauffassung gemeinverständlich zu beleuchten. In unbeirrter Zuversicht verfolgte er vielgeschäftig dies Ziel in Vorträgen und Aufsätzen, mit denen er Zeit- und Vereinsschriften jeglicher Art bedachte. Bisweilen faßte er auch ganze Reihen populärer Aufsätze litterarisch zusammen; so namentlich in den „Philosophischen Zeitfragen“ (Bonn 1870), die 1874 eine zweite Auflage erlebten. Hier wurde neben älteren Themen, wie Kraft und Stoff, Seele und Leib, Willensfreiheit u. dgl. die damals neue Darwin’sche Theorie mit ihren Consequenzen nachdenklich erörtert. Unter dem Namen: „Probleme der Lebensweisheit“ reihte er ein andermal (Berlin 1887) Betrachtungen psychologischer und ethischer Natur aneinander, die sich mehrfach mit Erziehungsfragen berühren. Die Pädagogik selbst in einem großen und umfassenden Werke zugleich systematisch und historisch darzustellen, schwebte M. Jahre lang als Hauptzweck seines Lebens vor. Doch kamen davon nur einzelne Beiträge zur „Bibliothek pädagogischer Classiker“ zu Stande, wie „Friedrichs des Großen pädagogische Schriften und Aeußerungen aus dem Französischen übersetzt mit einer Abhandlung über Friedrichs d. Gr. Schulregiment“ (Langensalza 1885) und „Milton’s pädagogische Schriften und Aeußerungen, mit Einleitung und Anmerkungen“ (ebenda 1890). Die übrigen Schriften pädagogischen Inhalts aus den siebziger und achtziger Jahren dienen mehr dem praktischen Zweck der Propaganda und der Agitation.
Denn mit erhöhtem Eifer warf er sich, wie einst in Hamburg, so am Rhein in die öffentliche Bewegung der Geister, die sich um die Fragen der Volksbildung und des Schulwesens drehte. Der 1871 gegründeten Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung trat er sofort bei, seit 1872 fungirte er als Mitglied ihres Centralausschusses. Von 1872–76 war er Vorsitzender des Verbandes der Bildungsvereine Rheinlands und Westfalens und wirkte als solcher für Fortbildungsschulen, Volksbibliotheken und Simultanschulwesen; dem localen Bonner Bildungsvereine, den er 1871 mit begründen half, hat er ebenfalls ein Jahrzehnt lang präsidirt. Der Titel einer seiner Flugschriften: „Zum Bildungskampf unserer Zeit“ (Bonn 1875) klingt an Virchow’s Schlagwort vom Culturkampf an; und in der That nahm M., der örtlichen Situation gemäß, aufs lebhafteste gegen den kirchlichen Ultramontanismus Partei. Er war Ausschußmitglied des von Sybel in streitbarem Sinne begründeten „Deutschen Vereins“ und gehörte bis 1884 zum nationalliberalen Provinzialcomité. Mit der versöhnlichen Wendung der preußischen Kirchenpolitik war er durchaus nicht einverstanden und zählte seitdem zu den stillen Zweiflern an Bismarck’s staatsmännischer Größe. Auf seine Anregung ward im Januar 1881 der liberale Schulverein Rheinlands und Westfalens gegründet, der sich zur Aufgabe setzte, das unter dem Ministerium Falk Errungene zu behaupten; auch in diesem Verein übernahm M. den Vorsitz und gab seit 1883 dessen Monatsblatt in Bonn heraus. Unermüdlich ergriff er das Wort in dieser seiner Herzensangelegenheit, wie die folgenden Namen seiner litterarischen Producte beweisen: „Die Simultanschulfrage“ (1880); „Die Behandlung [563] der Schule auf den letzten Generalsynoden Rheinlands und Westfalens“ (1881); „Der Kampf um die Schule; historische und pädagogische Erörterungen über die Fragen: Staatsschule oder Kirchenschule? Religionsunterricht und Staatsschule?“ (Bonn 1882); „Die angebliche sittliche Verwilderung der Jugend unserer Zeit und die behauptete Mitschuld der Schule an derselben“ (Bonn 1884). In den neunziger Jahren neigte er wieder mehr beschaulichen Interessen zu; er dachte an eine Generalrevision seiner philosophischen Ueberzeugungen, als ihn im Januar 1895 ein erster Schlaganfall traf. Seitdem siechte er dahin. Seine näheren Freunde bewahrten seiner Liebenswürdigkeit ein gutes Andenken.
- Theodor Lipps in A. Bettelheim’s Biographischem Jahrbuch u. Deutschem Nekrolog II, 397–400. – Eigene Erinnerungen.
[560] *) Zu Bd. LII, S. 340.