ADB:Mendelssohn Bartholdy, Karl

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Artikel „Mendelssohn-Bartholdy, Karl“ von Redaktion der ADB in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 558–560, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mendelssohn_Bartholdy,_Karl&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 02:31 Uhr UTC)
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Mendelssohn-Bartholdy *): Karl M.-B., Historiker, geboren am 7. Februar 1838 in Leipzig, † zu Brugg in der Schweiz am 23. Februar 1897. Als ältestes Kind des Tonmeisters Felix M.-B. (s. A. D. B. XXI, 327 f.) aus seiner Ehe mit Cécile Jeanrenaud erfuhr der begabte Knabe früh den Wandel des Geschicks: im zehnten Jahre verlor er den berühmten Vater, im sechzehnten ward ihm auch die Mutter entrissen. Seine Erziehung und Ausbildung wurde in Berlin vollendet, wo er das französische Gymnasium besuchte und sich zugleich in den mannigfachen Culturtraditionen des Hauses Mendelssohn befestigte. Ostern 1857 begab er sich zu juristischen Studien nach Heidelberg und genoß in Jugendlust das akademische Leben als Mitglied, bald als Leiter der wiederhergestellten Burschenschaft Alemannia. Er war ein tüchtiger Schläger, in den Ferien rüstiger Alpenbesteiger, überhaupt frisch und liebenswürdig, körperlich schön, geistig fein und regsam. Schon im Juli 1859 bestand er die juristische Doctorprüfung und ließ ihr gegen die Heidelberger Sitte noch eine schätzbare kirchenrechtliche Abhandlung folgen: de monitione canonica (Heidelberg 1860). Längst aber hatte sich sein eigentliches Interesse der Historie zugewandt; es waren die Tage der mächtigsten Wirksamkeit Häusser’s, der auch M. immer als freilich unerreichbares Vorbild charaktervoller Beredsamkeit vorgeschwebt hat. Durch ihn fühlte er sich zur Beschäftigung mit der neuesten Geschichte hingezogen, die Anregung aber zur Wahl eines bestimmten Stoffs empfing er von Gervinus. Dieser brauchte für seine Geschichte des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche Handlanger, die ihm die umfassende Lectüre fremdsprachlicher Quellen durch Auszüge des Wesentlichen ersparen sollten. In der Familie seines Freundes Fallenstein, mit der M. von Mutterseite her nahe verwandt war, lernte er den hoffnungsvollen Studenten kennen und warb ihn zu Vorarbeiten für die Geschichte der griechischen Befreiung an. Mit Eifer warf sich [559] M. auf das Studium des Neugriechischen und bewältigte während seines militärischen Dienstjahres in Berlin und im Winter 1861/62 in Göttingen, wo er im Waitz’schen Seminar den letzten historischen Schliff erhielt, die gestellte Aufgabe zu Gervinus’ voller Zufriedenheit. Allein der Gegenstand hielt ihn fest. Er erkor das Leben des Grafen Kapodistrias, das Gervinus nur gestreift hatte, zum Thema für eine Monographie, zu der er das Material in München, London, Korfu und Athen zusammenbrachte. 1864 erschien (in Berlin), Gervinus zugeeignet, die stattliche Schrift: „Graf Johann Kapodistrias“; gleich ansprechend durch Inhalt und Form, erweckte sie die günstigsten Erwartungen. Durch sie erlangte M., nachdem er inzwischen auch den philosophischen Doctorgrad erworben, nicht nur die venia legendi für neuere Historie in Heidelberg; sie war es auch, die den Verleger S. Hirzel bewog, ihm für seine „Staatengeschichte der neuesten Zeit“ die moderne Geschichte Griechenlands zu übertragen. Mit Vergnügen nahm er den ehrenden Antrag an.

Mit sechsundzwanzig Jahren sah sich M. so auf ebener Bahn, die ihm leider kaum ein Jahrzehnt zu wandeln beschieden war. Als Docent kam er rasch vorwärts: 1867 zum außerordentlichen Professor ernannt, ward er 1868 als Ordinarius nach Freiburg im Breisgau berufen. Er las mit wachsendem Zulauf, wiewohl ihm als Lehrer ein starker, männlicher Eindruck von Natur versagt war. Es waren größtentheils Häusser’sche Vorwürfe: revolutionäres und napoleonisches Zeitalter, deutsche Geschichte; daneben als Besonderheit moderne, ab und zu auch antike Geschichte Griechenlands. Zumal in seinen Uebungen hat er mehrfach Thucydides oder Polybius, wohl auch Aristophanes zur Unterlage genommen. Seine Forscherarbeit galt unablässig der übernommenen Leistung, doch hat er lockende Abschweifungen keineswegs verschmäht. Noch zweimal besuchte er vor 1870 für den ersten Band seiner Geschichte Griechenland selbst und erhob sich zu vollkommener Beherrschung der Litteratur über den hellenischen Freiheitskampf. Als glückliches Ereigniß hieß er 1867 die endlich erfolgte Veröffentlichung der längst gedruckten „Geschichte des Abfalls der Griechen“ vom Freiherrn v. Prokesch-Osten willkommen, dem wichtigsten zeitgenössischen Berichterstatter. Zu tieferem Einblick in die diplomatische Geschichte seines Gegenstandes befähigte ihn außerdem die auf persönliche Verwendung des Grafen Beust erhaltene Erlaubniß zur Benutzung der Wiener Ministerialarchive. Und hier nun reizte die problematische Persönlichkeit eines Gentz sein Talent für psychologische Charakteristik dazu an, ihr eine fein umrissene Studie zu widmen, die er 1867 als „Beitrag zur Geschichte Oesterreichs im 19. Jahrhundert“ Waitz „in dankbarer Verehrung“ darbrachte. Im folgenden Jahr begründete er sie durch den (zweibändigen) Abdruck der Briefe von Gentz an Pilat, die er in Wien käuflich an sich gebracht hatte. Zu ähnlichen, freilich weit geringhaltigeren Publicationen – aus der Correspondenz des preußischen Generalpostmeisters v. Nagler – bot M. später (1869 und 1873) Ernst Kelchner bereitwillig die Hand. In den Wiener Archiven aber zogen auch die Vorgänge des Rastatter Congresses beiläufig seine Theilnahme auf sich. Im Zusammenhang damit gab er die ersten authentischen Aufschlüsse über die Conferenzen zu Seltz (Hist. Zeitschr., Bd. 23); während das Räthsel des Gesandtenmordes ihn zu einem effektvoll geschriebenen, negativ glücklichen, positiv verfehlten Lösungsversuch verleitete, den er hernach in krankhaft gereiztem Tone gegen einen untergeordneten Angriff vertheidigen zu müssen glaubte (Heidelberg 1869).

Mittlerweile war die Arbeit an Mendelssohn’s Hauptwerk so weit gediehen, daß er im Frühjahr 1870 den ersten Band seiner Geschichte Griechenlands herausgeben konnte, der die Erhebung der Nation aus türkischer Knechtschaft [560] bis zur Seeschlacht bei Navarin (1827) erzählt. Das Buch des Zweiunddreißigjährigen wurde mit entschiedenem Beifall begrüßt. Vollständige Kenntniß der Quellen für die populäre Seite der Begebenheit, hinreichende Kunde von ihren Beziehungen zur hohen europäischen Politik verbindet sich mit gesundem historischen Urtheil und deutlicher, von warmer, jedoch unverblendeter Sympathie begleiteter Anschauung des Landes und der Leute. Die großen Schwierigkeiten der Composition sind unmerklich überwunden, die Schilderung ist lebendig und farbenreich, wenn sich auch das Ebenmaß eines echt historischen Stils, die Wirkung einer völlig ausgereiften Persönlichkeit des Autors noch vermissen läßt. In der Sammlung, der es angehört, darf sich – von der späteren genialen Leistung Treitschke’s natürlich abgesehen – das Buch Mendelssohn’s getrost neben die besten Werke, die der Baumgarten und Pauli, der Springer und Rosen stellen. Auch die vordem gefeierte Darstellung des griechischen Aufstandes bei Gervinus erschien nun inhaltlich großentheils veraltet. Unverzüglich ging M. an die Fortsetzung des Werks, die er nur einmal aus Pietät unterbrach, um das anmuthige Büchlein „Goethe und Felix Mendelssohn-Bartholdy“ (Leipzig 1871) zu verfassen. Für den zweiten Band, der bis zur Großjährigkeit König Otto’s (1835) reicht, konnte er zunächst seine eigene Darlegung der Verwaltung von Kapodistrias vielfach verwerthen. Im übrigen besuchte er 1872 Griechenland zum vierten Mal; andererseits thaten sich ihm neben den Wiener Archiven nun auch die Berliner auf. So begegnete denn der zweite Band 1874 der gleichen Zustimmung; die Kritik fand sogar, daß er mehr aus einem Gusse sei, und für die dreißiger Jahre brachte er des werthvollen Neuen genug. Aber M. selbst vernahm von solchem Lobe nichts mehr. Schon seit einigen Jahren hatte sein zartes Nervensystem an Erschütterungen gelitten. Der Tod seiner ersten Gemahlin, einer Mannheimerin Namens Bertha Eißenhardt, die ihm nach kurzem Glück bei der Geburt einer Tochter im März 1870 entrissen ward, verstörte ihn aufs tiefste. Auf jener letzten Fahrt nach Hellas fand er den Lebensmuth wieder; er schloß eine zweite Ehe mit Fräulein v. Merkel aus Karlsruhe. Doch schon 1873 zeigten sich von neuem nervöse Erregungen, sodaß er auf ärztlichen Rath seine Lehrthätigkeit einstellte. Ein schweres Gemüthsleiden brach aus, und im Frühjahr 1874 nahm ihn die Pflegstätte auf, an der ihn erst nach dreiundzwanzig Jahren ein sanfter Tod erlöste. In zeitlich eng begrenzter Wirksamkeit hatte er dem väterlichen Namen neue Ehre bereitet. Noch die jüngsten Darstellungen der modernen Geschichte Griechenlands beruhen in den einschlagenden Partien wesentlich auf Karl Mendelssohn’s historischer Forschung und Kunst.

Aug. Thorbecke, Karl Mendelssohn-Bartholdy. Badische Biographien V, 553 f. Heidelberg 1906.

[558] *) Zu Bd. LII, S. 316.