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Artikel „Marées, Hans von“ von Hyacinth Holland in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 190–196, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mar%C3%A9es,_Hans_von&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 17:18 Uhr UTC)
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Marées: Hans von M., Maler, geboren am 25. December 1837 zu Elberfeld, † am 5. Juni 1887 in Rom, ein Künstler über dessen Lebensgang und Schaffen, obwol der jüngsten Zeit angehörig, sehr wenig Zuverlässiges bekannt geworden. Als der Sohn eines höheren Staatsbeamten waren bis zu dem 1874 in Coblenz erfolgten Tode des Vaters alle Wege zur beliebigen Ausbildung geebnet. M. studirte 1853 zuerst in Berlin bei Karl Steffeck, wol gleichzeitig mit dem nachmals so gefeierten Schlachtenmaler Heinrich Lang (s. A. D. B. LI, 548), machte von 1855–1856 sein Militärjahr in Coblenz, weilte acht Jahre an der Münchener Akademie, wo er sich, obwol in der Blüthezeit Piloty’s, wenig damit befreundete, ja von der doch so vielseitigen Richtung sogar abgestoßen fühlte; er folgte keinem bestimmenden Einfluß, nur das Studium der alten Niederländer wurde mit Vorliebe betrieben. Dagegen wies der eigenwillige Mann Alles zurück, was ihm seine Zeit als Belehrung oder Vorbild bot. Ein um 1860 entstandenes Bild „Schill’s Tod“, 1861 in Köln ausgestellt, wurde von der Kritik abfällig beurtheilt. Die „Rettung des preußischen Major von Platen“, der sich durch einen kühnen Sprung in die Saale der Gefangenschaft durch zwei darob verblüffte Dragoner entzieht, hatte wenigstens in München (Nr. 149 „Bayerische Zeitung“ vom 17. Juni 1862) eine wohlwollend freundliche Anerkennung gefunden. Mit einem in der Weise der besten Niederländer ausgeführten „Pferdeschwemme“ betitelten Cabinetstück erregte M. „durch die ungewöhnliche Kraft der Farbe bestechend“ die Aufmerksamkeit des Grafen Schack, welcher dasselbe nicht allein seiner Galerie einverleibte (Nr. 84. Vgl. „Meine Gemäldesammlung“ 1881, S. 260), sondern, da er wähnte, das Copiren nach alten Meistern könne zur Ausbildung dieses versprechenden Talents beitragen, den jungen Maler nach Italien sendete. In Rom copirte M. die „hl. Familie“ des Palma (Palaz. Pitti), in Florenz Velasquez (Ritterbild Philipp IV.), Tizian (Anbetung der Hirten) und Raphael’s „Frauenbild“ (im Palaz. Pitti) „mit Liebe, Sorgfalt und vielem Talent“ zur vollen Zufriedenheit seines Auftraggebers, lehnte aber dann weitere Wünsche seines wohlwollenden Mäcen ab. In Florenz kam M. mit Konrad Fiedler (s. A. D. B. XLVIII, 585), diesem würdigen Nachfolger des „Wilhelm Meister“, einem begeisterten „Gönner und Pfleger der Kunst“ in Fühlung und Freundschaft, vorübergehend auch mit Arnold Böcklin, [191] A. Feuerbach, Hildebrandt und Lenbach, wobei er die Porträts der beiden Letztgenannten malte. Dann aber begab er sich nach Rom, ohne Aufträge und Publicum, unberührt von der fast unübersehbaren Menge kunsthistorischer Traditionen und Schöpfungen, ganz berauscht von der herrlichen Natur, wovon er aber nicht den geringsten Schein in seine Schöpfungen brachte, vollauf beschäftigt mit bisher unerhörten Problemen und Theorien und unausgesetzt thätig, Schopenhauer’s Revelationen in artistische Praktik zu übersetzen. Es gab zu allen Zeiten eigenthümlich gewickelte Naturen, welche, weitab von der namenlosen Masse verbummelter Genies, doch mit völliger Verkennung ihrer nächsten Aufgaben, ihr Talent mit höchstem Fleiße und rein verlorener Mühe ahnungsvoll und traumverloren auf ideale Verbesserungen und weitschüssige Unternehmungen zersplittern, die außer ihrer Erreichbarkeit und Sphäre liegen. So plagte sich damals ein schön veranlagter Badenser August Erxleben zu München, mit Präparirung neuer Malfarben von „substanzieller Feinheit und bisher unerreichter Leuchtkraft“, worüber der „Erfinder“ nicht nur die beste Lernzeit verlor und seine Mittel vergeudete, sondern auch andere junge Leute, wie den Landschaftmaler Jos. Winkler (s. A. D. B. XLIII, 452) von ihrer Bahn abspenstig machte. So schwärmten Alle, höchst edelmüthig veranlagt und großartig gesinnt, mit unfehlbarer Sicherheit, von einer völligen Regeneration und Umgestaltung der Kunst. – M., der übrigens nur vom psychiatrisch-pathologischen Standpunkt richtig beurtheilt werden kann, hegte eine so hohe Meinung von seinen eigenen Leistungen, daß er hingegen alle anderen Bestrebungen als handwerksmäßigen Betrieb verabscheute. So wurde M. selbst der schlimmste Feind seiner eigenen Sache. Unausgesetzt und planlos zeichnete er, meist ganz geschickt und richtig, eine Anzahl von Naturstudien, welche dann unausgenützt auf dem Boden verstreut, ohne weitere Verwendung zertreten oder verbrannt wurden. Bei seinen „Compositionen“ gediehen aber die Figuren immer ohne Modell, ohne Formengedächtniß, mit gräulichen Proportionsfehlern und anatomischen Unmöglichkeiten. Dazu erging er sich in nutzlosen Theorien über „Raumverwendung“: ist diese richtig erfaßt, so ist schon die halbe Arbeit gethan, und das Bild ergibt sich von selbst. Er rechnete mit Massen und „Bewegungsrichtungen, mit Verhältniß von Raum und Füllung“.

Nachdem er die Jahre 1870 bis 1871 in Berlin verbrachte, erwuchs ihm erst 1873 ein Auftrag: die obere Etage des Aquariums in Neapel auszumalen. Er wählte dazu verschiedene, sehr einfache Gruppen von Fischern und Ruderern. Dies war alles; kaum eine nennenswerthe That. Sie hatte gar keine Folgen. Bald darauf starb sein Vater. Ob das Erbtheil ihm die gleiche Muße gewährte? M. sammelte nun Schüler, um seine in langen Vorarbeiten geläuterten Resultate für Andere nutzbar zu machen. In unendlicher Melodie construirte der Meister sein steriles, ästhetisches Spintisiren: einen unlösbaren Irrgarten. Der nachmals so berühmte Bildhauer Adolf Hildebrand gehörte zu seinen ersten Jüngern, schied aber bald aus. Die wunderbare Gabe der klaren Durchgeistigung, um die Charaktere individuell in Stein erklingen zu lassen, lag wohlbegründet in ihm und trat in seinen Porträtbüsten leuchtend, packend, überwältigend hervor. Das theoretische Philosophiren blieb aber in der Hildebrand-Schule erblich: Ludwig v. Hofmann, Pallenberg, Ottilie Röderstein, Arthur Volkmann, L. Tuaillon, insbesondere der seinem Lehrer ganz gleich veranlagte, stets tastende, vornehm sprechende und doch mühsam schaffende Karl v. Pidoll zählte zu den gelehrig Hervorragendsten. Karl Freiherr v. Pidoll (geboren am 7. Januar 1847 in Wien, lebte längere Zeit in Rom, in Paris, in Frankfurt a. M. und schließlich [192] wieder in Rom, wo er, ein hochgradig Neurastheniker, am 17. Februar 1901 sein Leiden gewaltsam beendete) hat in einem eigenen Büchlein „Aus der Werkstatt eines Künstlers“ die in den Jahren 1880–81 und 1884–85 gesammelten Erinnerungen an seinen abgöttisch verehrten Meister in Schrift gebracht; er zeigt ihn als rastlosen Peripatetiker vor der Staffelei, immer im theoretischen Aufbauen, in construirendem Gespräch, lehrhaft die Trümmer seiner wieder auflebenden Hoffnungen entzündend und seine idealsten Schöpfungen wieder vernichtend. „Sehen lernen ist Alles!“ wiederholte M. immer. Deshalb war ihm „auch der Aufenthalt in Italien, dessen klare Atmosphäre zum Sehen erzieht und dessen Bewohner einen natürlichen Verkehr mit Luft und Licht pflegen, als wir Hypperboreer, zum unabweislichen Bedürfniß geworden“. Unwillkürlich drängt sich aber doch die Thatsache auf, daß man davon gerade nichts auf seinen Bildern wahrnehmen kann. In philosophirenden Floskeln und unklarem Spintisiren heißt es dann weiter: „Man muß annehmen, daß die Art dieses stetig schauenden Verhaltens mit der ganzen künstlerischen Entwicklung Marées’ eine Steigerung und Veränderung im Sinne der Auswahl erfahren hat. Je mehr er nämlich bestrebt war, seine Gestaltungen auf das Normale zusammen zu drängen, desto mehr mochte er auch beobachtend bemüht gewesen sein, in den sich ihm darbietenden Gesichts-Eindrücken das Typische, Organische zu erfassen“. Aber auch darauf geben diese alltäglich leeren, nichtssagenden, trägen Gestalten keine Antwort. Man denkt unwillkürlich an das Mephistophelische: Einer „der speculirt, ist wie ein Thier, auf dürrer Heide, von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt und rings umher liegt schöne grüne Weide“. Also abermals der unvermittelte Gegensatz von Theorie und Können. Alle seine Figuren sind ohne die geringste Luftperspective unter dem gleich blauen Himmel vorgestellt; von Stimmung nicht der leiseste Hauch. Das Leben der Menschen in geschlossenen Räumen erschien ihm als „Treibhaus-Existenz“ und das nordische Klima als barbarisch. Eine Figur zeichnete er nicht nur von der benöthigten Ansicht, sondern suchte, mit allen anatomischen Fehlern, aus freier Phantasie, „von allen Seiten her“, völlig unnöthiger Weise, derselben „habhaft zu werden“. Die reinste Sisyphus-Arbeit. Zum ganzen Habitus gehörte auch, den langstieligen Pinsel (wie er sich auf seinem Selbstporträt in geziertester Weise darstellte) immer am äußersten Ende zu halten. Die Fresko-Malerei schätzt er über Alles; er selbst malte auf eigens präparirte Pappelholztafeln, die immer in erklecklicher Anzahl vorräthig standen. Alles Verständniß für die Arbeiten Anderer, die nicht seine Schüler waren, blieb für ihn fraglich: „Es gibt nur ein vollgültiges Zeugniß: die gleichwerthige künstlerische Leistung.“ – Auch Paul Schubring, welcher im Elberfelder-Museum zu Ehren seines Landsmanns 1904 einen Vortrag hielt, kann nicht umhin, nach Betonung aller (uns übrigens unbegreiflichen) Lichtseiten Marées’ über die starke Entstellung und Vernachlässigung und Mißhandlung seiner Darstellungen zu klagen. „Zwar fühlte ich jenes Ringen um ein frei natürliches Menschenthum sofort und stark heraus, aber die Theilnahme wurde durch eine starke Entstellung der einzelnen Formen sehr erschwert.“ Sie „scheinen unfertig, verzeichnet, überschmiert, die Farben liegen bisweilen dick wie Kissen auf, Bildungen der Füße und Beine muthen geradezu kindisch an“; Alles „schrullenhaft“. Für seine Figuren gibt es in keiner orthopädischen Anstalt Heil und Genesung. Wie das kam? „In M. lebte stark und gebieterisch der Wille, sein einzigartiges Verhältniß zur Erscheinung, die ihm schlechthin unerschöpflich war, in gereinigten Gebilden eines typischen Menschenthums auszusprechen“; deshalb „vermied er alle die Vorwürfe, welche inhaltlich reizen“; aber auch den Stoffen, „welche starke Empfindungen der [193] Psyche verlangen, ging er aus dem Wege“. Der Künstler soll „Bildungen finden, in denen der Sinn der Natur rein, harmonisch und kunstvoll herausschlage, eine Wirklichkeit schaffen, in denen die natürlichen Kräfte des Menschen, von keiner Civilisation entstellt, von keinem Zweck bedrängt, von keiner sittlichen Reflexion einseitig bestimmt, sich wie schöne Blumen mit Kinderaugen und Glockenspiel (!) einstellen, ewig belebt und ruhig sich bethätigen im Zwang jener holden Nothwendigkeit, die das rinnende Blut dem Gefüge des Leibes gibt“. Er hatte „mit Schopenhauer das Wesen der Welt im dunkeln Spiegel erschaut und wußte, daß die historische Wirklichkeit nicht der Klärung, sondern der Entstellung der ursprünglichen Kräfte zusteuere (wozu M. selbst unbewußt genug beitrug), man also nicht eindrücklich genug einer verkehrten Gegenwart ihr Widerspiel entgegen halten könne“ (wozu M. gar nicht angethan war). Sinnlichen Reiz kennt keines seiner Bilder. „Dafür experimentirte er (möglichst wenig) in Farben.“ In seinem „St. Georg“ wurde „das Heldenthum nicht nur in der (hölzernen) Bewegung von Reiter und Roß, sondern auch in dem festlichen Blau des Mantels (recht kindlich) ausgedrückt“, das in anderen Bildern nicht wiederkehrt; bei einer Wiederholung dieses Motivs hüllte er den Reiter in schwarzes Eisen, welches nach Marées’ Ansicht wieder symbolisch wirken sollte! M. liebte die satten Farben der Niederländer und verachtete sie in seinen Bildern gänzlich. „Meist beschränkte er sich auf den Gegensatz der hellen Körper zu dem Braungrün der Hügel und Bäume, unter denen bisweilen ein blaues Seeauge blinzelt.“ Interieurs kannte M. gar nicht; nur einmal brauchte er Architektur und griff dann zur Urform der dorischen Säule zurück.

So lange M. an einer Composition schuf, durfte Niemand den allerheiligsten Theil seines Ateliers betreten, bevor er, und das dauerte immer lange Zeit, im Reinen zu sein wähnte. Dann explicirte er allen Eingeweihten seine Idee mit hinreißender Rednergabe, worauf jeder seiner Jünger in spiritistischer Feuertaufe die gewünschte Wirkung bestaunte, Herr v. Pidoll ebenso wie der andächtig lauschende Konrad Fiedler; etwaige Bedenken wurden niedergeschlagen durch den vorläufigen Mangel der letzten Feile. Diese begann dann mit immer neuer Uebermalung, so daß einzelne Theile zu Reliefen sich erhöhten und rundeten, wie ehedem die Höllenfratzen des als Künstler und Dichter gleich Verschrobenen sog. „Teufelsmüller“ (Friedrich Müller aus Kreuznach 1750–1825), der mit gleicher Vermessenheit die unerquickliche Periode der kraftgenialen Genies, der „Dränger und Stürmer“ zum endgültigen Abschluß brachte. Marées’ unablässig bessernde Uebermalungen stürzten den Rest seiner früher geplanten Herrlichkeit. Daher sein ewiges Verzagen, Wiederaufbauen, Nievollenden, trotz der unüberwindlichen Siegeshoffnung, womit seine unerschütterlich Getreuen tröstend und stützend, hülfbereit mit Rath und That dem Verschmachtenden unter die Arme griffen. Sie sahen und verkündeten noch pflichtschuldigst die „lauterste Schönheit“ unter der Mißbildung, die herrlichsten Bewegungen unter den ganz verkümmerten Gliedern und priesen mit verzückter Zuversicht selbe dem leichtgläubigen Laienpublicum. So wurde Marées’ letztes Lebensdrittel ein endloser, nie zum Abschluß kommender „Läuterungsproceß“. Nirgend eine Spur von dramatischer Inscenirung: eine häßliche, sitzende, nackte Frau, davor steht ein dicker Mann mit einem Roß „der homerische Begleiter des Helden“, und die nichtssagende Tafel wird als „Raub der Helena“ katalogisirt. Die leiseste Ahnung einer Gemüthsbewegung erklärte er als verlorene Mühe. Seine bleichen, reizlosen, immer nackten Gestalten haben nur ein schattenhaftes Dasein; sie sitzen, [194] stehen, sagen, denken, thun gar nichts – höchstens daß Einer mal Früchte vom Baume nicht abbricht, sondern sich in die Hand fallen läßt und das rollende Obst aufhebt. Die Bilder könnten alle denselben Titel haben: Die Langweile des goldenen Zeitalters oder das lederne Elysium u. dgl. Drei neben einander stehende Schemen weiblichen Geschlechts heißen „Die Hesperiden“. M. sprach immer von Schönheit, malte selbe aber möglichst häßlich: lange, magere Arme und Beine, verkrüppelte Hände und Füße, mit denen kein Geschöpf stehen und gehen kann. Das nannte er dann die Freude am Bildnerisch-Schönen. Man denkt unwillkürlich an das faustische mit gieriger Hand nach Schätzen graben und den – Regenwürmer-Fund! M. hat seine Eindrücke und Wahrnehmungen nie zum adäquaten Ausdruck gebracht; seine divinatorischen Offenbarungen des mündlichen Vortrags riß seine Schüler und die kleine Gemeinde der schwärmenden Laien zu schwindelhafter Ueberschätzung ihres Meisters, eine Gefahr, welche sich auch an Böcklin, Thoma und Klinger zu heften droht. Für M. war alles individuell Persönliche widerwärtig; Lichteffecte oder Stimmungen kannte er gar nicht. Ueber seinen Bildern lag derselbe, keiner Jahreszeit angehörige, wolkenlose Tag; etwas Archaistisch-Prähistorisches; seine Gesichter trugen nicht einmal das äginetische Lächeln; von dem leicht beschwingten Tritt und der anatomischen Elasticität dieser Giebelgruppen hatte er nicht die leiseste Ahnung. Seine Landschaft blieb ein perspectiveloser Ausschnitt mit unbestimmbaren Baumstämmen und Gebüschen, ein nichtssagender Wasserlauf, ein Hügelboden ohne Linienzug. Seine gerühmte „Sparsamkeit an Mitteln“ führte zum geistigen Bankerott. Dabei that er sich nie Genüge; immer ein Umwerfen, Einreißen und Neugestalten. Jubelndes Selbstgefühl, tiefste Niedergeschlagenheit und stagnirende Resignation bilden den morphiumtaumeligen Grundton seiner an Konrad Fiedler gerichteten Briefe, welcher daraus eine Sammlung von dogmatischen Aphorismen über Marées’ Principienreiterei edirte. In seinen glücklichsten Augenblicken schwelgte M. in der Ueberzeugung, den höchsten bildnerischen Ausdruck für dasjenige erreicht zu haben, wofür ihm das Wort in so reichlicher, eindringlicher Unklarheit zu Gebote stand; er unterlag selbst der Täuschung, die er in Anderen hervorrief. Dann war er in seinen Augen der vollendete Meister, dessen Werke seinen Namen unter allen großen Künstlern einreihen würden. Darauf folgte jedesmal der Sturz mit den ikarischen Schwingen. Unbegreiflich sind die später erhobenen Anklagen, M. sei aus Mangel an großen Aufträgen nicht zur Entwicklung und zum siegreichen Durchbruch gekommen. Ebenso ganz ungerechtfertigt ist der Jammer über die stete Mißkennung seines Talents, welches auf der abschüssigen Bahn längst ins Rollen gerathen, durch die glänzendsten Bestellungen nicht rettbar gewesen wäre. Mit rührender, eines besseren Objects werthen Pietät und Freundestreue veranstaltete Konrad Fiedler einen aus 50 Blättern bestehenden Folioband mit Reproductionen der Schöpfungen und Skizzen Marées’ (München 1889, Bruckmann), welcher nicht in den Handel kam, sondern großmüthig an Bibliotheken und Freunde verschenkt wurde. Eine Auswahl von 31 in seinem Besitz befindlichen Bildern brachte Fiedler in die Jahresausstellung 1891 des Münchener Glaspalastes, wo sie mit gemischter Empfindung aufgenommen wurden, da voreilige Lobeserhebungen in der Presse zum Augenschein nicht paßten. R. Muther (Gesch. der Malerei im XIX. Jahrh. 1894. III, 621) erklärte: Marées’ Werke „haben weder in Zeichnung noch Farbe einen der Vorzüge, die man von einem guten Bilde fordert; sie sind bald unfertig, bald verquält, manchmal geradezu kindisch“ … „Die Spur des großen Genius ist überhaupt unter der zitternden Hand des nervösen Grüblers verschwunden“ [195] … „immer übermalend liefert er gespenstige Wesen mit fratzenhaften Gesichtern; ganze Kissen von Farben verderben in widriger Weise den Eindruck.“ … Und der zuerst milder gestimmte Fritz v. Ostini läßt in seinem Buche über Thoma (1900, S. 33) verlauten: Marées „der hochstrebende aber niemals gereifte Künstler“ habe „die Orthographie der Kunst nie vollkommen beherrscht. In seiner souveränen Verachtung gegen die sklavische Unabhängigkeit vom natürlichen Vorbild, gegen die Modellmalerei kam er immer weiter von der Natur ab und formte gar wunderliche Gestalten, die für ihre formelle Unzulänglichkeit nicht einmal die Entschuldigung hatten, naiv gesehen zu sein. Sie waren das Gegentheil davon, verquält und verdorben“. Die Originale stiftete nach dem Ableben Konrad Fiedler’s dessen Wittwe in die Schleißheimer-Galerie. Dazu wurden gleichzeitig einige Bilder von Pidoll erworben. – „Rastende Kürassiere“ Marées’ (offenbar aus früherer Zeit) kaufte im Juli 1905 die kgl. National-Galerie in Berlin, gleichzeitig mit Aquarellen von Moriz v. Schwind und A. v. Menzel. Eine ältere Radirung „Alte Garde in einer Weinstube“ findet sich in „Maillinger’s Bilderchronik“, 1876 (III, 138, Nr. 2366). Mit schärfster Rücksichtslosigkeit äußerte sich Adolf Rosenberg (Gesch. der Modernen Kunst, 1894. III, 478). Vgl. H. Wölfflin in Lützow’s Zeitschrift, 1892. N. F. III, 73–79. Konrad Fiedler’s Schriften über Kunst, herausgegeben von Hans Marbach. Lpz. 1896, S. 371–462. An Fiedler strömte M. sein zaghaftes Herz aus: „Es ist etwas in mir, was mich immer und immer wieder über jeden traurigen Zustand erhebt. Und dieses Etwas ist nichts anderes, als meine unmittelbare Beziehung zum Reiche der Erscheinung, wenn auch nicht im Verstehen, so doch ein fortwährendes Fühlen und Ahnen des Göttlichen, oder wie man’s nennen will, in der Schöpfung. Darinnen kann ich auch, und wenn die ganze Welt den Kopf darüber schüttelt, still und geduldig meinen Weg gehen, und es däucht mir wohl der Mühe werth zu sein, daß auch einmal Einer sein ganzes volles Dasein diesem Nachgehen hingebe. Die Gunst oder Ungunst der Zeiten kommt dann gar nicht mehr in Betracht; die endliche Errungenschaft wird von nicht abzusehender Wirkung sein, nicht von geräuschvoller, sondern positiver, folgenreicher. Mit einem Wort: Ich sehe ein deutliches Ziel, mag es nun nahe oder fern sein, das gilt ganz gleich; es handelt sich zunächst nicht darum, es zu erreichen, sondern sich ihm zu nähern, ja es genügt schon, den ernstlichen Willen zu haben, sich demselben zuzuwenden.“ Er glaubte sich dem Ziel greifbar nahe, als er rechtzeitig aus der Welt ging, bevor er an sich selbst wieder irre geworden. Ein ander Mal schreibt er (S. 396): „Du brauchst nur zu wollen, sagte mir schon Mancher, und du wirst Berge umstürzen. Wer wollte nicht? Der, wer weiß, was er will, hat die halbe Arbeit gethan. Wollen und nicht wissen was: da haben Sie das Geständniß, welches sich denn nun doch meiner geängstigten Seele abringt.“ Der Aermste wußte nie, was er wollte.

Vgl. Singer, 1898. II, 106. – Julius Meier-Graefe, Entwicklungs-Gesch. der neueren Kunst. 1904, S. 412 ff. – Paul Schubring, Hans von Marées, Vortrag in Elberfeld, 1904. – Die „Zeitgenössischen Kunstblätter“. Lpz. bei Breitkopf & Härtel enthalten 10, theilweise farbige Reproductionen aus V. Fiedler’s großer Ausgabe 1889. – Vgl. „Pan“, V. Jahrg., 2. Heft (1900). – Aus Anlaß der Marées-Ausstellung in Elberfeld (1904) stiftete Frhr. v. d. Heydt eine von W. Neumann-Torborg modellirte Bronceplakette für das dortige städtische Museum. – M. wurde neben seiner eigenen unglücklichen Veranlagung ein Opfer unzeitigen Mäcenatenthums und laienhafter völlig unkritischer Kunstbewunderung; von einer Phase immer wieder in eine gleich unzweckmäßige neue Versuchsstation [196] gedrängt und selbst noch nach seinem Ende zu einem angeblichen Bahnbrecher aufgebauscht, eine Mission, deren auch nur annähernde Lösung ganz außer seinen zugemessenen Kräften lag.