ADB:Müller, Laurentius
[1] In jener Zeit zogen die trüben Schicksale Livlands, die fortdauernden Kämpfe Polen-Litauens gegen Rußland die Aufmerksamkeit vieler Deutschen auf sich. Nicht allein das wichtigste Contingent an lebendigem Kriegsmaterial stellte Deutschland damals seinen östlichen Nachbarn, sondern auch die für ihre Händel nöthigen geistigen Kräfte bezogen jene zum nicht geringen Theil aus deutschen Landen. Zu den Gelehrten, welche damals ihr Glück im Osten versuchten, gehört auch M. Das Wenige, was wir von ihm wissen, geht fast nur auf sein eignes Werk zurück. Darnach scheint er etwa 1580 nach Polen gekommen zu sein, ist von der polnischen Regierung bei verschiedenen Gesandtschaften und anderen wichtigen Geschäften benutzt worden und hat auch dem Herzog von Kurland, Gotthard Kettler, als Rath in Staatsangelegenheiten gedient, wofür ihm der Titel „Fürstlich Churländischer Hoffrath“ zu Theil geworden. Ostern 1581, als König Stephan zum dritten Feldzuge gegen Rußland rüstet, reist M. als polnischer Gesandter nach Dänemark und [649] Schweden, um die Herrscher dieser Staaten zu einer Cooperation gegen Rußland aufzufordern, und erreicht wenigstens in Schweden seinen Zweck. Als dann 1583 in Livland eine Commission zur Revision der Güterbesitztitel eingesetzt wird und zwar für jeden der drei livländischen Kreise je ein Inländer und ein Ausländer, fungirt M. in derselben als Ausländer für den pernauschen Kreis. Später ist er im selben J. beim Herzog Gotthard und wird von diesem in den nach dem Tode des Exkönigs von Livland, Magnus, um das Stift Pilten entstandenen Streitigkeiten zu Rathe gezogen. Anfang 1584 ist er wieder am polnischen Hofe in Wilna beim Empfange des türkischen Gesandten zugegen, macht mit diesem, einem siebenbürgischen Renegaten, dessen elegantes Latein ihn anzieht, nähere Bekanntschaft und läßt sich von ihm über türkische Verhältnisse berichten. Mit dem Auseinandergehen des polnischen Reichstages von 1584 schließt seine Erzählung. Die Vorrede ist vom letzten März 1585 datirt, und aus ihr kann man schließen, daß der Verfasser damals bereits nach Deutschland zurückgekehrt war, denn er spricht die Hoffnung aus, die Veröffentlichung seiner septentrionalischen Historien werde Andere, die im Lande bleiben, ermuntern, die künftigen Ereignisse dort wohl in Acht zu nehmen und sein Werk fortzusetzen. Er selbst beabsichtige diesen in Eile geschriebenen kurzen Extract später in lateinischer Sprache ausführlich zu geben. Vom spätrn Leben Müller’s wissen wir nichts; nur sein Tod wird in einem Sonnabend vor Michaelis 1598 datirten Briefe des Chytraeus dem Rigischen Rath gemeldet. Also ist er wohl in Deutschland geblieben und daselbst auch gestorben. Das, was dem Dorpater Bürgermeister Gadebusch von einem angeblichen Nachkommen Müller’s über seine Erhebung zum Adel und Niederlassung in Livland, woselbst er auch gestorben und beerdigt sei, erzählt worden ist, beruht also auf Erfindung, möglicherweise auch auf Verwechselung mit einem anderen, der auch damals schon sehr häufig vertretenen Müller oder Moller. – Die Historien beginnen mit der Wahl König Stephans. Bis zum J. 1581 wird dann eine einleitende kurze Zusammenfassung der Ereignisse gegeben. Für die folgenden 4 Jahre ist die Erzählung meist recht ausführlich und liefert der Forschung einiges werthvolle Detail. Nächst einem ziemlich eingehenden Bericht über die polnischen Reichstage von 1581 und 1582, über die diplomatischen Verhandlungen mit Schweden und Rußland, hebt der Verfasser besonders die livländischen Angelegenheiten hervor: die in Riga beginnende polnische Gegenreformation, die Verhandlungen der Livländer mit Polen wegen Revision, resp. Bestätigung ihres Güterbesitzes und besonders auch die Piltenschen Händel. – M. betont ausdrücklich, daß er nicht nur als Zeitgenosse schreibe, sondern daß er an vielen Sachen selbst betheiligt gewesen sei und was er schildere, selbst gesehen und gehört habe. Die Wahrheit seiner Erzählung könnten die vornehmsten Herren und Stände der Krone Polen, denen er bekannt sei, ja der König selbst, bezeugen. Aber die große Zuverlässigkeit, die er darnach beansprucht, kann ihm nicht zuerkannt werden, denn in einem Falle ist ihm sicher eine grobe Unwahrheit nachzuweisen. Er berichtet, daß er 1581 auf einer Reise durch Wolhynien „die libri Ciceronis de Republica ad Atticum, mit güldenen Buchstaben auf Pergament geschrieben“ bei einem gelehrten polnischen Edelmann gesehen, und daß dieser selbe Edelmann ihm später 6 Tagereisen vom Dnjepr entfernt das Grabmal des Ovid gezeigt habe. Die Inschrift nimmt er in sein Werk auf. Es ist M. gelungen durch diese Erzählung, die er, um sie glaubwürdiger zu machen, mit sehr viel Detail ausstattet, die Aufmerksamkeit von vielen, damaligen und späteren Gelehrten auf sein kleines Büchlein zu lenken. Noch in unserm Jahrhundert sind darauf hin Nachforschungen nach dem unschätzbaren Werke des Cicero angestellt worden. Es ist aber dann auch die Unglaublichkeit der Erzählung Müller’s evident nachgewiesen worden (durch [650] G. Berkholz). Man muß annehmen, daß M. sich diese Sachen von jenem polnischen Edelmann hat erzählen lassen und wohl auch selbst geglaubt hat, daß ihn aber Gelehrteneitelkeit, die ja schon manchmal Fälschungen geschaffen, dazu bewogen hat, Alles als von ihm selbst gesehen zu schildern. Damit verliert nun auch seine Beschreibung jener Gegenden für uns ihren Reiz, und es kann die Frage gestellt werden, wie weit einem Autor, der so unwahr, wie im gegebenen Fall, zu sein nicht scheut, überhaupt zu glauben sei. Jedenfalls ist man hier ganz besonders verpflichtet jede von ihm genommene Nachricht möglichst sorgfältig zu controliren. – Zu beachten ist auch sein politischer Standpunkt: er ist völlig Parteimann. Daß er als deutscher Patriot die Polen und ihren Staat stets recht ungünstig beurtheilt, kann uns nicht auffallen, aber auch in den Händeln der Polen unter einander ist er parteiisch, namentlich gegen den Großkanzler Zamoisky stark eingenommen. Bei den Rigischen Sachen steht er ganz auf Seiten der demokratischen Bürgerpartei. Als eifriger Protestant ist er selbstverständlich ein Feind aller katholischen Bestrebungen. – Wenn er im Lande geblieben wäre, hätte er wohl kaum gewagt ein derartiges Werk zu veröffentlichen. Aber auch in Deutschland wurde 1595 die Unterdrückung desselben von der polnischen Regierung und dem Rathe Rigas beantragt. Wirklich verbot man in Leipzig, Wittenberg, Jena, Rostock und anderen Orten die Historien zu drucken, zu verkaufen und zu lesen. Das hinderte nun freilich die Buchhändler nicht neue Auflagen zu veranstalten. Michael Forster gab bereits 1595 in Amberg die Historien in 2 Büchern von einem Anonymus bis zum Jahre 1593 fortgeführt heraus. 1629 erschien in Stockholm eine schwedische und 1840 in Polen eine polnische Uebersetzung.
Müller: Laurentius M., Doctor der Rechte, lebte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und ist bekannt durch sein kleines Geschichtswerk „Polnische, Liffländische, Moschowiterische, Schwedische und andere Historien“ … Frankfurt a. M. 1585. 60 Bl. 4°.- Winkelmann, Bibl. Livoniae hist. – Recke-Napiersky, Allgem. Schriftstellerlexicon der Prov. Liv-, Esth-, Kurland. – (Gadebusch), Abhandlung von Livländ. Geschichtsschreibern. – Benj. Bergmann, Die Kalenderunruhen in Riga. – Tetsch, Curländ. Kirchengesch. – Dubrowski im Journal des Ministeriums der Volksaufklärung, XCI, (Petersburg 1856) u. daselbst (G. Berkholz) XCIII (1857). – Th. Schiemann, Jul. Hennings Livl.-Kurl. Chronik. Mitau 1874.
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ S. 648. Z. 14 v. u.: Ueber des Laurentius Müller bisher in Dunkel gehülltes früheres Leben erfahren wir durch ein Schreiben ohne Ortsangabe an den Kurfürsten August zu Sachsen vom 24. November 1579 (königl. sächs. Hauptstaatsarchiv in Dresden, Copiale 447, 72 u. 73) Folgendes: Von 1558–65 studirte er zu Leipzig, bildete sich dann in Frankreich weiter aus. Hierauf war er 4 Jahre lang am kaiserl. Kammergerichte zu Speier, versah dann 3 Jahre die Kanzlei des Grafen Wilhelm zu Zimmern. Als dieser aber nach dem Tode seiner Gemahlin an den Hof des Erzherzogs Ferdinand nach Oesterreich erfordert wurde, ging M. (wol 1576) wieder nach Leipzig. Sein Vater, so bemerkt er weiter, habe in das 30. Jahr in Sachsen gedient und sei als mansfeldischer Kanzler gestorben. M. bittet in diesem Schreiben um eine Anstellung in der Landgrafschaft Thüringen. [Bd. 29, S. 775]