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Artikel „Liemar, Erzbischof von Hamburg-Bremen“ von Wilhelm von Bippen in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 628–631, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Liemar&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 23:44 Uhr UTC)
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Liemar, Erzbischof von Hamburg-Bremen 1072–1101, entstammte einer späten, aber glaubwürdigen Ueberlieferung zufolge einem bairischen Ministerialengeschlechte und war Canonicus des Sifts St. Simonis und Judä zu Goslar, als ihn zu Pfingsten 1072 König Heinrich IV. zum Nachfolger des vor zwei Monaten gestorbenen Erzbischofs Adalbert ernannte, einen noch jungen Mann, der nach dem Zeugnisse seines politischen Gegners Lambert zu den besten Hoffnungen berechtigte und in allen Zweigen des Wissens sich auszeichnete. Ohne Anstand verlieh ihm Papst Alexander II. das Pallium. Der König hatte sich in seiner Wahl nicht getäuscht: er hat in dem stürmischen Jahrzehnt, welches Liemar’s Ernennung folgte, keinen treueren Anhänger und Rathgeber gehabt. In einer ungewöhnlich warmen Weise hat der König in einem der glücklichsten Momente seines Lebens, gleich nach der Eroberung Roms, dem Erzbischofe seinen Dank für die unter Mühsal und Gefahren zehn Jahre lang unverbrüchlich bewahrte Treue öffentlich ausgesprochen. Aber L. hat in dem Tumulte der Leidenschaften, welche seit der Erhebung der Sachsen und der Thronbesteigung Gregors VII. Deutschland und Italien durchwogten, um seiner Weisheit und Gerechtigkeit willen selbst das Lob des Gegners erworben. Einer so merkwürdigen Persönlichkeit würden wir schon deshalb wünschen näher treten zu können, wenn wir auch nicht wüßten, daß L. in einer höchst kritischen Periode der deutschen Geschichte während fast eines Menschenalters zu den Leitern der Reichspolitik gehört, und mehr als einmal, wie es scheint, das entscheidende Wort gesprochen hat. Leider aber ist nicht wahr geworden, was Meister Adam im Epilog seines berühmten Geschichtswerkes an Erzbischof L. in Aussicht stellt:

[629] Tempus erit quo facta tuae celeberrima laudis
Aut nos aut aliquis ex docta plebe tuorum
Pangemus majore lyra, si vita superstes.

L. hat keinen Geschichtschreiber, ja nicht einmal einen Sänger gefunden, der seine Thaten der Nachwelt aufbewahrt hätte. Das jener Ankündigung angehängte Compliment Adam’s

Quamvis nota satis pateant tua gesta per orbem,
Quae et sine scriptore vulgabit fama perhennis,

schallt zwar durch die Jahrhunderte zu uns herüber, aber es ist heute eine inhaltlose Phrase, da die Kunde von Liemar’s Thaten, wenn auch nicht völlig verhallt, doch eine beklagenswerth dürftige geworden ist. Gleich nach seiner zu Magdeburg erfolgten Weihe wird sich L. muthmaßlich in seine Diöcese begeben und sich persönlich von dem traurigen Zustande überzeugt haben, in welchem Adalbert dieselbe hinterlassen hatte. Daß des neuen Erzbischofs Bestreben auf eine baldige Herstellung geordneter Verhältnisse im Innern und Wiedergewinnung der durch die letzte heidnische Reaction der Ostseeslawen verlorenen Gebiete gerichtet war, darf man auch ohne Zeugniß annehmen. Aber ihm war keine Muße zu friedlichen Restaurationsarbeiten gegönnt. Der Ausbruch des Sachsenkrieges im J. 1073 führte ihn, den Baiern, der, in nächster Nähe des Königshofes aufgewachsen, die Interessen des Reiches über die des ihm fremden Stammes und über die seiner Diöcese stellte, sofort an die Seite seines Königs. Dem flüchtigen König folgte er aus Sachsen nach Franken; wir finden ihn mit Heinrich im October in Würzburg, hernach in dem treuen Worms. Im Januar 1074 begleitete er das kleine Heer, das Heinrich gegen die Sachsen zusammengebracht hatte, und sowol jetzt wie später wird er uns als derjenige genannt, der beschwichtigend zwischen den Zorn des Königs und die aufgeregten Gemüther der sächsischen Fürsten trat. Wenn L. und seine Genossen, die Bischöfe von Zeitz und Osnabrück, die Nothwendigkeit baldigen Friedensschlusses dem Könige gegenüber, nach Lambert’s Mittheilung, schon jetzt auch mit dem Hinweise auf ihren eigenen, um ihrer Treue willen erlittenen Schaden motivirten, so hat doch der Mißerfolg in den Ausgleichsversuchen den Erzbischof um so weniger abgehalten, treu beim Könige auszuharren, als dessen Lage durch den drohenden Ausbruch des Kampfes im Rom eine unvergleichlich schwierigere wurde. So finden wir L. Ostern 1074 zu Bamberg, gleich darauf zu Nünberg an des Königs Seite, wo die päpstlichen Cardinallegaten Humbert und Gerald sich einstellten. Die Forderung der Legaten auf Berufung einer deutschen Synode unter ihrem, der Legaten, Vorsitz, ohne Vorgang in der Geschichte, ein erster Vorstoß gegen die Selbständigkeit des deutschen Episcopats, wurde hier der Anlaß zu dem persönlichen Conflicte Liemar’s mit der römischen Curie, welcher nie wieder einen dauernden Ausgleich finden sollte und dadurch L. freilich nur um so fester an das Geschick des Königs band. Die Zurückweisung, welche die Legaten durch L. erfuhren, bewirkte seine Suspension vom Amte und seine Citation nach Rom. Da L. weder geneigt war, dem ungerechtfertigten Rufe zu folgen, noch krankheitshalber dazu im Stande, so verhängte Gregor VII., der in dem charaktervollen Manne ohne Zweifel einen seiner gefährlichsten deutschen Gegner erkannte, über ihn Suspension und Excommunication, am 22. Februar 1075. Ob L. wirklich, wie der päpstlich gesinnte Bonitho ihm nachrühmt, sich der ungerechten Strafe unterworfen und so lange sich der Messe enthalten hat, bis er auf einem persönlichen Bittgange in Rom Verzeihung gefunden hatte, muß dahingestellt bleiben. Ein größeres Verdienst als durch eine solche Unterwerfung erwarb sich L. im Sommer und Herbst 1075 um die Wiederherstellung des Friedens in Deutschland. Seine Freundschaft zum Könige einerseits, sein Charakter als sächsischer Fürst andererseits [630] und das besondere Interesse, welches er an der Befriedung Sachsens nehmen mußte, machten ihn zu dem geeignetsten Vermittler, als der König durch den Sieg an der Unstrut sein Ansehen wiederhergestellt hatte. Wir finden ihn zweimal als Fürsprecher der Sachsen beim Könige. Der Erfolg seines Wirkens läßt sich freilich auch hier im Einzelnen nicht übersehen. Wir hören statt der Thatsachen nur den Wiederhall des Lobes, welches dem friedfertigen Manne gespendet wurde, in den Versen Meister Adam’s:

Tu pacem terris antiqua lite fugatam
Ecclesiis revocas, jam tertia proelia surgunt,
Et discordantes tu jungis ad oscula mentes.

Als am 24. Januar 1076 Heinrich IV. auf der Synode zu Worms der Welt die Absetzung Gregors verkündete, hielt sich L. fern, wir wissen nicht, ob aus zufälligem Anlasse, oder weil er etwa die vorausgehenden extremen Schritte des Königs mißbilligte, ohne doch sich Hoffnung auf deren Hintertreibung zu machen. Als dann aber Gregor mit der Absetzung Heinrichs und der Lösung der dem König geschworenen Eide antwortete und nun erst die Wogen erbittertsten Parteikampfes den König zu verschlingen drohten, sehen wir L. alsbald wieder an dessen Seite. Er wird vielleicht dem Rathschlage der Unterwerfung nicht fern gestanden haben, aber er begleitete seinen König auch noch nach Canossa und leitete dort für ihn die Verhandlungen, die freilich keinen dauernden Frieden herbeiführen sollten. Drei Jahre später war er zusammen mit dem Bischof Robert von Bamberg als Gesandter des Königs wieder vor Gregor in Rom, aber man ließ sie nicht zu Worte kommen, man bedrohte sogar ihr Leben. Auch der versöhnlich gesinnte L. konnte sich der Einsicht nicht ferner verschließen, daß zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. keine Gemeinschaft mehr möglich war. Die Brixener Erklärung vom 23. Juni 1080, welche die Absetzung Gregors wiederholte und Wibert von Ravenna als Clemens III. auf den päpstlichen Stuhl erhob, trägt auch die Unterschrift Liemar’s, der dem neuen Papste bis zu dessen Tode ergeben blieb. L. begleitete dann den König nach Deutschland zurück und war am 15. October Zeuge der Schlacht an der Elster, welche dem Gegenkönige Rudolf den Tod brachte. Im März 1081 stieg er mit Heinrich abermals über die Alpen und war dessen unzertrennlicher Begleiter bis zur endlichen Eroberung Roms im Juni 1083. Zweifelhaft bleibt, ob er auch noch der Kaiserkrönung Heinrichs Ostern 1084 beigewohnt und dann erst mit dem Kaiser oder ob er nicht schon im Herbste 1083 nach Deutschland in seine Diöcese zurückgekehrt ist. Fortan wird die Kunde über L. noch dürftiger als sie bisher war. Wir wissen, daß er Anfang 1085 an dem Friedenscongresse zu Gerstungen theilnahm und daß er das Weihnachtsfest desselben Jahres mit dem Kaiser in Worms feierte. Erst drei Jahre später treffen wir ihn wieder im Lager des Kaisers bei der Burg Gleichen in Thüringen, wo er in Folge eines Ueberfalls des Markgrafen Ekbert von Meißen am Weihnachtsabend in die Gefangenschaft des Grafen Lothar von Supplinburg gerieth, aus der er sich mit 300 Mark Silber und unter der schwereren Bedingung der Ueberlassung der Schirmvogtei über die Bremer Kirche loskaufen musste. Noch zweimal, 1091 und 1096, zeigen urkundliche Ueberlieferungen ihn uns in Gesellschaft des Kaisers in Italien. Zum letzten Male finden wir ihn im Januar 1100 mit dem Kaiser zusammen in Speier. In welcher Weise er während aller dieser Jahre an den Reichsgeschäften betheiligt war, darüber geben uns die Ueberlieferungen nicht den mindesten Aufschluß. Auch auf seine Thätigkeit in der bremischen Diöcese fällt aus dem Dunkel, welches leider die ganze Persönlichkeit umhüllt, nur hie und da ein schwaches Streiflicht. Während der ersten Hälfte seiner Regierung hat L. die Diöcese, von der ersten Besitzergreifung abgesehen, kaum betreten. Erst nach der Pacification [631] Sachsens scheint er wiederholt während längerer Zeiträume in Bremen geweilt zu haben, welches nach der Zerstörung Hamburgs der thatsächliche und vielfach schon jetzt, bald ausschließlich auch der nominelle Mittelpunkt des Erzbisthums war. Aus dem wenigen uns erhaltenen Documenten sehen wir, daß L. einerseits sein Bemühen auf Hebung des zerrütteten Besitzstandes seiner Kirche richtete, daß er andererseits mit den alten Feinden seines Stifts, den Billungern, endlich einen friedlichen Ausgleich herbeiführte. Die Niederlage, welche die Reaction des Heidenthums in Adalbert’s letzten Zeiten dem Erzstifte gebracht hatte, wieder auszumerzen, waren die Tage Liemar’s und Heinrichs IV. nicht angethan. Schmerzlicher als diese Resignation mußte es für L. sein, ohnmächtig zuzuschauen, wie ihm Gregor und seine Nachfolger sein dänisch-skandinavisches Kirchenreich leise, aber mit unaufhaltsamer Consequenz zerbröckelten. Nur einmal sehen wir, ganz am Schlusse des Jahrhunderts, L. in die nordischen Verhältnisse direct eingreifen, indem er den Dänenkönig Erich in Folge eines aus uns unbekannten Ursachen entstandenen Streits mit dem Banne belegte. Eben dieser Schritt aber hat besser als Gregors VII. zahlreiche Werbeschreiben an die nordischen Könige ein Verständniß zwischen dem Norden und Rom herbeigeführt. L. selbst hat freilich die Constituirung des Erzbisthums Lund nicht mehr erlebt, thatsächlich aber war am Ende seines Lebens entschieden, daß Nordeuropa, auf dessen Besitz einst Adalberts hochgespannte Pläne sich stützten, aufgehört habe von der bremischen Kirche abhängig zu sein. L. starb nach 29jähriger Regierung am 16. Mai 1101 zu Bremen.

Guilelmus Schröder, De Liemaro Hammaburg. archiepiscopo et de legatione eccl. Hammaburg. ad populos septentr. Dissert. inaug. Hallae 1869. Dehio, Gesch. des Erzbisth. Hamburg-Bremen II, S. 1 ff.