ADB:Heinrich der Vogler
*): Heinrich der V. gilt seit fünfzig Jahren und länger mit Recht als Verfasser von „Dietrichs Flucht“ (nach dem Anfang des Gedichtes auch zuweilen „Dietrichs Ahnen“ genannt) und der „Rabenschlacht“. Diese Benennungen rühren her von Fr. Heinr. v. d. Hagen. Der Dichter selber hat seine beiden langen Helden-Epen (DFl. zählt 10152 Verse, Rschl. 1140 Strophen) nicht ausdrücklich betitelt. Das erste nennt er zwei Mal am Schlusse (DFl. 10103, 10129) „Das Buch von Berne“; das zweite wird gar nicht bezeichnet. Auch der Name des Dichters tritt nur in dem ersten Gedichte auf; DFl. 7999–8001: Dise wernde swære hât Heinrîch der Vogelære gesprochen und getichtet. Die ganze Stelle DFl. 7949–8018 ist äußerst merkwürdig; sie enthält politische und praktische Lehren, zum Theil in sprichwörtlicher Form, gerichtet an die Vasallen und Lehensträger der Großen. Diese diplomatischen Winke erinnern stark an Seifried Helbling, der aber darum ebenso wenig ein Zeitgenosse unseres Dichters zu sein braucht wie etwa der noch viel spätere Peter Suchenwirt, bei dem sich ganz ähnliches findet. Wir werden die Entstehung von DFl. vielmehr mit Wilhelm Scherer zwischen 1255 und 1259 anzusetzen haben. Die historischen Anspielungen des Gedichtes, die sich auf die Zeit des Verfassers beziehen könnten, sind so gering, daß man schwerlich mit Martin Parallelen dazu ziehen darf aus dem Anfange der Regierung Albrecht’s (1282–95). Politische Klugheitslehren finden sich ja schon beim Anonymus und bei Spervogel. Die Blüthe des Dichters ist sicherlich auf die Mitte des Jhs. herabzurücken. Wenn er sagt (DFl. 7496–99): mich wundert ze allen stunden, war die vreude si verswunden, daz man der nû sô cleine phliget. ich wæne trûren habe gesiget, so meint er, wie aus den voraufgehenden Versen unzweifelhaft hervorgeht, nicht die allgemeine Nothlage, sondern das conventionelle höfische Trauern, wie es zur Zeit Ulrich’s von Liechtenstein gerade im besten Schwange war. Um die Wende des Jhs. aber erklangen überall Neidhartische Parodien. Ja, es scheint aus jenen Versen sogar hervorzugehen, daß Heinrich noch die frohen Tage des volksthümlichen Sanges am Ende des 12. Jhs. erlebt habe. Die Kreuzzüge sind ihm noch in lebhafter Erinnerung (vgl. DFl. 2607 ff.). Ein Greis ist er jedesfalls geworden; häufig gedenkt er der guten alten Zeit (z. B. Rschl. 96–100). Er citirt geradezu Walther (DFl. 2762): der mære bringet, daz bin ich. Ein Plagiat oder eine Reminiscenz ist das nicht! Dagegen finden sich allerdings stärkere Anklänge an Hartmann’s Iwein und armen Heinrich. Auch lyrische Naturschilderungen wagt der Vogler! (DFl. 345 ff. 1526 ff.) Seine Formen sind noch gut; nach ihrem Lautstande war er übrigens ein Oesterreicher oder Steiermärker. Auch seine Metrik ist nicht schlecht; Reime wie entwer: gêr (DFl. 6505:6) finden sich sehr selten. (Vgl. übrigens Martin LV ff.)
VoglerZeit und Heimath des Dichters sind also mit einiger Sicherheit zu bestimmen. Dagegen fehlt uns über seine sonstigen Lebensverhältnisse jede, auch die geringste Auskunft. Ja, nicht einmal über die Bedeutung seines Namens ist man sich im Klaren. Unwahrscheinlich (und schlecht stilisirt!) kommt mir vor, was Wegener, Zsfdf. Ergänzungsband (1874), 580 sagt: „Diesen durch Heinrich I. so bekannten Namen bei einem fahrenden Sänger erkläre ich mir ebenso, wie der Name Dietrich von Bern Personen-Name wurde (vgl. Müllenhoff, Zs. 12, 318)“. Es war nämlich offenbar ein bürgerlicher Gewerbename, wie denn auch der Stricker und der [788] Marner Gewerbenamen trugen (vgl. Lambel in dem betr. Vorwort seiner „Erzählungen und Schwänke“ und Strauch in der Einleitung zu seiner Ausgabe!). Die Vorfahren des Voglers waren, wenns hoch kam, Oberförster; dasselbe wie die „Ahnen“ Walther’s von der Vogelweide. – Auch über den Stand des Dichters habe ich meine eigene Vermuthung. Er war natürlich weder ein „Kriegsmann“ (!), wie v. d. Hagen wegen der vielen ausführlichen Schlachtschilderungen annahm, noch aber auch „ohne Zweifel ein fahrender Sänger“ (Martin, Deutsch. Hb. II, LI). Die beiden einzigen Beweisstellen, die Martin anführt, sind DFl. 723–744 und Rschl. 96–100. Im zweiten Citate steckt erstens ein Versehen (es muß heißen 93–95), und zweitens ist die Stelle höchst zweifelhaft, da von varnder diet in ihr nirgends die Rede ist. Es wird nur kostbares Gewand, Edelgestein Gold und Silber verschenkt, und das werden wohl die ritterlichen Gäste erhalten haben. Allerdings pflegt der Spielmann bei solchen Gelegenheiten in seinem eigenen Interesse gern zu übertreiben. Aber man vgl. die betr. Schilderungen in DFl.; dort ist wirklich von der diet die Rede, die Farben werden jedoch bei weitem nicht so stark aufgetragen. Bleibt also eine einzige Stelle unter so viel tausend Versen! Martin hätte noch anführen können das Spielmannsmätzchen DFl. 4852 (uchuch als Schluchzen der Frau Helche); ferner die derb komische Situation Rschl. 117, als Dietrich mit seiner jungen Frau Herrât nicht schnell genug in die Brautkammer eilen kann, und Mutter Helche herzhaft darüber lacht. Weiter jedoch findet sich in beiden Gedichten kaum etwas spielmannsmäßiges. Der recke milt, DFl. 1564, kommt wol nicht in Betracht. – Ich glaube, der Dichter war ein Pfaffe. Ueberall und bei jeder Gelegenheit wird zum Christengott gebetet, was der alten Heldensage natürlich völlig fremd ist. Aber auch für eine jüngere Bearbeitung ist hier des Guten etwas zu viel gethan. Nicht nur Gott und Christus, sondern sogar der heilige Geist und die Jungfrau Maria werden mit langen Anrufungen bedacht. (Die Stellen sind bereits gesammelt von Peters, S. 9. Nachzutragen Rschl. 937, 1: Sant Gangolf und Sant Zêne mit Anm. von Martin). Die Seele Ermanrich’s wird in die Hölle verwünscht wegen des Verrathes, den er an den Harlungen und den übrigen Verwandten Dietrich’s begangen. Wie anders hätte sich hier die Idee der germanischen Blutrache geäußert! Am auffälligsten aber ist die Beichte der verbündeten Heere Dietrich’s und Etzel’s vor der Rabenschlacht (512, 3–514, 6). Diese Beichte wird angehört von einem Bischof und 400 Caplänen! Und so finden sich noch viele sehr bezeichnende Momente. Ferner beruft sich Heinrich in der Rschl. zwei Mal ausdrücklich auf seine Belesenheit (79, 4 und 779, 2.) Wer konnte denn im 13. Jh. an den buochen lesen? Außer den Geistlichen waren es gewiß nicht viele!
Die Bedeutung des V.’s für die Geschichte der deutschen Poesie ist äußerst gering. Wohin man blickt: – Wiederholungen, Weitschweifigkeiten, Widersprüche. Dabei fühlt er selbst, wie langweilig er ist und entschuldigt sich deshalb (DFl. 9292 f.) Auch die Schlachtschilderungen sucht er oft durch das Wort unglouplich zu entschuldigen; z. B. DFl. 3468. 3542. Flickverse finden sich häufig (daz ist wâr u. s. w.); keiner aber ist ungewandter als 1402, der noch dazu wie der reine Hohn klingt (übrigens konnte der nothwendige Reim auf wîle bequem, wenn nur geschickt, aus 1404 entnommen werden; dort findet sich ja mîle!). Auch Verlegenheitsreime kommen vor, der schlimmste wol 7221: si riten gegen den Hiunen. lât iu diu mære briunen. – Die Sprache des Dichters ist ein gar seltsames Gemisch aus volksthümlichen und höfischen Phrasen. Neben den vride bannen findet sich z. B. rotieren, neben marc und mære auch häufig kastelân, neben vrouwe steht amîe, neben heia (so Rschl., daneben nûtrâ DFl.) in beiden Gedichten: ahtschavelier Berne! (Man vgl. den Schlachtruf im Rienzi: ’santo [789] spirito cavaliere‘!) Neben vielen Anklängen an die Nibelungen, die Kudrun und andere Gedichte der Heldensage finden sich zahlreiche Versuche, die bilderreiche Sprache Gottfried’s und Konrad’s nachzuahmen; z. B. Rschl. 911 ff.: Dîner liute und dîner mâge wær dû ein meien tac, der milt ein glîchiu wâge; DFl. 852 ff.: nû welt ir der tugent zil mit triuwen übergulden, u. a. m. Also auch hier Mischung von angestammtem Gut und fremder Manier!
Für den Litteraturhistoriker kommt somit nicht viel bei Heinrich heraus. Aber Heldensage kann man von ihm lernen! DFl. schickt zuerst ein Verzeichniß von Dietrich’s Ahnen voraus, dem jedoch der Stempel freier Erfindung deutlich an der Stirne steht. Die meisten erreichen ein patriarchalisches Alter und erzeugen eine große Zahl von Kindern. Dann wird von V. 2543 an erzählt, wie Sibich und Ribestein dem Kaiser Ermanrich den bösen Rath ertheilen, Erbe und Reich seiner Neffen an sich zu reißen. Dieser folgt dem ungetreuen Rathe. (Sibich’s Untreue ist schon sprüchwörtlich, gerade wie Fruote’s Milde.) Er fällt in Dietrich’s Land ein und vertreibt diesen, der zum Hunnenkönig Etzel geht und mit dessen Hülfe den Kaiser bei Mailand aufs Haupt schlägt. Durch Wittich’s Verrath gelangt Ermanrich zum zweiten Mal in den Besitz des Reiches. Aber zum zweiten Male wird er von Dietrich und den Hunnen besiegt, diesmal bei Bologna. Dann geht Dietrich wieder zu Etzel und beklagt mit ihm die edlen gefallenen Recken, Jeden, swer ûf dem wale dâ verschiet. hie mit endet sich daz liet. Ganz direct wird diese Situation wieder aufgenommen in der Rschl., die sich 6, 4 unmittelbar auf DFl. bezieht (nâch dirre hervart); auch das Wörtlein sît 1, 6 und 4, 4 ist eine directe Anknüpfung. Die Rschl. ist nun das eigentliche mære von vroun Helchen sünen. Eine Stelle des Meier Helmbrecht (V. 76 ff.) zeigt uns, daß vielleicht noch im 13. Jh. ein Lied gesungen wurde, das dieses Thema behandelte; es wird sich jedoch kaum reconstruiren lassen. Ludwig Ettmüller hat es versucht; wahrscheinlich vergebens. (Anders steht es mit DFl. 2921–36; dies ist wol jedesfalls ein altes Lied, vgl. Martin XLIX f.) Der Inhalt der Rschl. ist kurz folgender: Dietrich wird am Hofe Etzel’s von der Königin Helche getröstet, und zwar vermittelt dieses Ergebniß Rüdiger, der treue „Markmann“. Dietrich vermählt sich mit Herrad, der Schwester Helche’s; Etzel verspricht, ihm wieder ein Heer gegen Ermanrich zu stellen, und viele Helden schließen sich an. Helche träumt, wie ein Drache ihre beiden Knaben (Scharphe und Orte) aus der Kammer entführt und zerreißt. (Natürlich Anlehnung an Kriemhild!) Diese wollen mit gen Bern ziehen, was die Eltern zuerst abschlagen. Erst als Dietrich sich selber ins Mittel legt, willigen sie ein. Die Knaben werden unter dem Schutze Diether’s und Ilsan’s in Bern zurückgelassen, während Dietrich mit dem Heere zur Rabenschlacht ausbricht. Bald wissen die Knaben ihren Hütern die Erlaubniß abzuschmeicheln, sich ins freie Feld wagen zu dürfen. Dort werden sie beide nebst Diether, dem Bruder Dietrich’s, vom ungetreuen Wittich im Kampfe erschlagen. Inzwischen unterliegt Ermanrich vor Ravenna; er muß fliehen, und Sibich wird gefangen genommen. Dietrich verfolgt Wittich, der aber von einer „Meerminne“ gerettet wird. Rüdiger überbringt nebst den ledigen Rossen der erschlagenen Söhne die Trauerbotschaft an Etzel’s Hof; dann reitet er nach Bern zurück und entbietet dem Berner des Königs Huld. Vrô wart der Bernære, hie mit hât ein ende ditze mære. – Die Rschl. wird nicht viel jünger sein als DFl. Sie ist in einer vierzeiligen Strophenform verfaßt, deren erste Hälfte an die zweite der Nibelungenstrophe erinnert; die letzten beiden Zeilen entsprechen so ziemlich dem Schluß der Kudrunstrophe. Also auch hier in der Form Anlehnung an ältere Vorbilder. (Bei Martin im Heldenbuch ist die Strophe sechszeilig abgetheilt.) DFl. ist in Reimpaaren gedichtet. Zuweilen findet sich Allitteration, z. B. 6511 Der sturm und der starke strît. [790] – Ueberliefert sind die beiden Gedichte in vier Hss., von denen je zwei zusammengehen: Die Riedegger mit der Windhager, die Heidelberger mit der Ambraser. Auch durch diesen Umstand wird die enge Zusammengehörigkeit beider Epen documentirt. Von einer fünften Hs. ist nur ein Bruchstück vorhanden (Zsch. 23, 336 ff.) – In neuerer Zeit hat Wegener in einer sehr fleißigen und scharfsinnigen, aber doch wol verfehlten Arbeit (Titel s. u.) nachzuweisen versucht, H. d. V. sei der zweite Ueberarbeiter dreier Erzählungen gewesen, die ursprünglich getrennt waren, und die bereits ein anderer Dichter vor ihm zu einem großen Ganzen verbunden habe. Dies sei ‚daz buoch‘ gewesen, von dem H. d. V. so häufig spricht, und zwar habe es das Gewand der Rabenschlachtstrophe getragen. Wegener stützt sich besonders auf DFl. 1840–41: der uns daz mære zesamne slôz, der tuot uns an dem Buoche kunt u. s. w. Wir haben jedoch oben gesehen, daß H. d. V. mehrere buoch zu seinen Quellenstudien benutzte, und ich bin der festen Ueberzeugung, daß er, wenn auch nicht jedesmal, so doch sehr häufig eine andere Vorlage im Sinne hat, wenn er sagt: also uns daz buoch las, als mir daz buoch ist kunt, also uns daz buoch verjach u. s. w. Er benutzte eben für jeden Sagenkreis eine andere Quelle! Daneben schöpfte er auch aus mündlicher Ueberlieferung; vgl. z. B. Rschl. 155, 4: als uns daz mære ist bekant; 230, 2: als mir gesaget ist; 619, 2: als man mir sagte sint; 1013, 4: als ich vär wâr vernomen hân u. s. w. Weitere Gründe führt Peters an in seinem Programm (Titel s. u.). Er liefert durch eine genaue Vergleichung der Stilart beider Gedichte den unumstößlichen Beweis, daß sie von einem Dichter herrühren, der sich häufig selber ausschreibt. Auch die ganze Denkweise stimmt überein; ebenso an vielen Stellen der Inhalt bis in die kleinsten Einzelheiten. Peter hätte noch die Vorliebe erwähnen können, die H. d. V. als alter Mann für das Sprüchwort hegt, und die in beiden Gedichten zu Tage tritt. Vgl. z. B. DFl. 2060 ff.: ez ist ein gewonlich wârheit: lebet der mensch kurz oder lange, mit freuden und mit gesange, ôwê, sô muoz er doch sterben tôt u. s. w.; Rschl. 121, 5 f.: uns saget dick daz mære, sueziu wort benement grôze swære; u. a. m.
- v. d. Hagen, liter. Grundriß 75. – W. Grimm, zu Athis u. Prophilias C. 74; deutsche Heldensage 186–213. – L. Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage 1, 145. – L. Ettmüller, daz mære von vroun Helchen sünen. Zürich 1846. – Die älteren Ausgaben in den Heldenbüchern Primisser’s und v. d. Hagen’s sind antiquiert. – Alphart’s Tod, Dietrich’s Flucht, Rabenschlacht, hrsg. von Ernst Martin. (Deutsches Heldenbuch, zweiter Theil.) Berlin 1866. Mit wichtiger Einleitung. Dazu W. Scherer, literar. Centralbl. 1868, Nr. 36. – E. Wegener, Die Entstehung von Dietrich’s Flucht zu den Hunnen und der Rabenschlacht. Zsfdf. Ergänz. Bd. (1874). – E. Peters, Heinrich der Vogler, der Verfasser von Dietrich’s Flucht und der Rabenschlacht. (Wissensch. Beilage zum Programm des Dorotheenstädtischen Realgymnasiums zu Berlin. Ostern 1890.) Berlin 1890. 4°.
[787] *) Zu S. 169.