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Artikel „Heinichen, Johann David“ von Philipp Spitta in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 11 (1880), S. 367–369, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Heinichen,_Johann_David&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 21:24 Uhr UTC)
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Heinichen: Johann David H., der Sohn eines Predigers zu Krößeln bei Weißenfels, wurde am 17. April 1683 geboren. Auf der Thomasschule zu Leipzig, welche längst ebensowol als wissenschaftliche wie als musikalische Bildungsanstalt gelten konnte, erhielt er nach beiden Seiten hin eine tüchtige Ausbildung. In der Musik waren die Cantoren Schelle und Kuhnau seine Lehrer. Darnach studirte er in Leipzig Rechtswissenschaft. Obgleich Neigung und Tüchtigkeit zur Musik sich unter den Eindrücken der zu dieser Zeit in Leipzig aufblühenden Oper immer mehr verstärkten, blieb H. einstweilen den Wissenschaften treu und wurde nach Beendigung seiner Studien Advocat in Weißenfels. Nach einigen Jahren lockte ihn ein Antrag des Theaterdirectors Döbrecht nach Leipzig zurück. Er schrieb für dort einige mit Beifall aufgenommene Opern; dieses hatte seinen völligen Uebertritt in das Gebiet der Kunst zur Folge. Um 1711 begab er sich in Begleitung eines Raths Buchta aus Zeitz nach Italien. In Venedig brachte er eine Oper mit Erfolg zur Aufführung, gerieth aber darüber mit dem Impresario des Theaters in einen Proceß. Ohne den Ausgang abzuwarten, begab sich H. nach Rom, machte hier im Frühjahr 1712 die Bekanntschaft des musikliebenden Prinzen Leopold von Anhalt-Cöthen, mit welchem er am 6. Juni Rom verließ, um ihn zunächst nach Florenz zu begleiten. Der Prinz kehrte im Frühjahr 1713 nach Cöthen zurück; H. blieb in Venedig, wo inzwischen der Proceß zu seinen Gunsten entschieden war, und schrieb zum Carneval 1713 für das Teatro St. Angelo zwei Opern. Angioletta Bianchi, die Gattin eines reichen venetianischen Kaufmanns, als Sängerin und Clavierspielerin ausgezeichnet, bildete damals einen Mittelpunkt der Kunstwelt Venedigs. Sie fand an Heinichen’s Musik, besonders an seinen Kammercantaten Gefallen; durch sie wurde dessen Bekanntschaft mit dem Churprinzen von Sachsen vermittelt, der sich vom Frühjahr 1716 bis zum Herbst 1717 in Venedig aufhielt. Vom 1. August bis Ende December 1716 nahm der Churprinz H. in seine persönlichen Dienste und veranlaßte, daß er am 1. Januar 1717 zum königlich polnischen und churfürstlich sächsischen Capellmeister ernannt wurde. Als solcher wirkte H. in Dresden zwölf Jahre. Er starb am 16. Juli 1729 an der Schwindsucht. Nur in der ersten Zeit seines Dresdener Wirkens fand H. noch Gelegenheit, sich als Operncomponist zu zeigen. Hernach war er ausschließlich mit Kirchen- und Kammermusik beschäftigt. Eine ziemlich reichhaltige Sammlung seiner Compositionen wird in der Musikalienbibliothek des Königs von Sachsen aufbewahrt. Von der günstigsten Seite zeigen ihn zwei Bände Kammercantaten. Eine derselben: „La dove in grembo al colle“, welche mit brillanter obligater Cembalo-Begleitung ausgestattet und auch in Deutschland zu weiter Berühmtheit gelangt ist, dürfte aus Heinichen’s venetianischer Zeit stammen und für Angioletta Bianchi componirt sein. Im Ganzen ist Heinichen’s Werken weniger Genialität und Erfindungsreichthum, als eine gewisse verständige Tüchtigkeit eigen. Trotzdem hat er die Entwickelung der deutschen Musik unzweifelhaft gefördert. In seiner Jugend der engen pedantischen Kunstübung hingegeben, wie sie damals [368] in Deutschland fast auf allen Gebieten herrschte, wandte er sich später von derselben ab und half, italienischen Meistern sich anschließend, durch Beispiel und Lehre einen natürlicheren und freieren Zug in die deutsche Musik einführen. Obwol er den theatralischen Stil der Italiener vor allem hochschätzte, nachahmte und zur Nachahmung empfahl, so bewahrte ihn seine Sinnesart doch vor Verflachung und leichtfertigen Ausschreitungen. Seine Opposition gegen die Contrapunktisten galt zumeist derjenigen Art von deutschen Musikern, welche ihre mühsam erlernten und engherzig gehandhabten Satzkünste zum Deckmantel der mangelnden lebendigen Erfindung machten. Gegenüber der todten Schulrichtigkeit eines Musikstückes betonte er dessen unmittelbaren Eindruck, und wollte als oberster Richter unter diesen[1] nur das Gehör gelten lassen. Er strebte nach richtigerer Würdigung des melodischen Elementes in der Musik, tieferem Erfassen des Textes, Uebereinstimmung von Poesie und Musik und mannigfaltigem, beweglichem Ausdruck. Bedeutenderes denn als Componist hat er indessen als Schriftsteller geleistet. Eine bereits 1711 von ihm veröffentlichte „Neu erfundene und gründliche Anweisung zu vollkommener Erlernung des General-Basses“ zu Grunde legend und bedeutend erweiternd, verfaßte H. gegen Ende seines Lebens ein Werk „Der General-Baß in der Composition“ und gab es 1728 im Selbstverlage heraus. Es ist dieses das umfangreichste Lehrbuch über die Kunst des Generalbaß-Spiels, welches wir besitzen; H. konnte „ohne eitlen Ruhm“ sagen, daß außer diesem seinen Buche und Mattheson’s Organisten-Probe (Hamburg 1719; zweite erweiterte Auflage, Hamburg 1731), niemand noch einen dritten Lehrmeister nöthig haben werde. Auch hier bestrebt er sich, aus der Schulpedanterie heraus zum lebendigen Quell der Kunst vorzudringen. Allen todten und überflüssigen Regelkram, den „zur Noth auch noch wol ein viereckigter Bauern-Junge fassen und observiren kann“ möglichst abzustreifen, das Angemessene, Wohllautende und Rührende als das einzige Ziel im Auge zu behalten, darauf läuft auch im wesentlichen seine neue Methode der Generalbaß-Lehre hinaus. Es ist ein durch und durch praktisches Werk; an seiner Anordnung läßt sich manches aussetzen, aber wer es durchgearbeitet hatte, konnte sich gewiß als sattelfesten Generalbaßspieler ansehen. Die gründliche praktische Erfahrenheit des Verfassers hat ihn außerdem veranlaßt, eine Anzahl trefflicher Bemerkungen einzustreuen, die sich weniger auf den Hauptgegenstand, als auf die Compositionslehre im allgemeinen beziehen. Unter demselben Gesichtspunkte muß man die Form der Darstellung betrachten. Als ein zum Lesen bestimmtes Buch erscheint es bis zur Ermüdung weitschweifig; in sein rechtes Licht rückt es erst dann, wenn man sich den Inhalt gleichsam vom Lehrer mündlich geäußert vorstellt. Dann bekommt der Stil etwas lehrhaft lebendiges, frisches und aufmunterndes; überall bemerkt man neben dem gewiegten Musiker auch den gesunden Denker und den allgemein gebildeten Mann, der freilich mit Fremdwörtern etwas zu freigebig ist. Nach seinen eigenen Worten hat H. das Buch vorzugsweise zum Selbstunterricht verfaßt. Es fand zu seiner Zeit reichlichen Beifall, weite Verbreitung und hat sicherlich viel Nutzen geschafft. Bedeutende Schüler hat H. merkwürdigerweise nicht gehabt; vielleicht war er wegen seines finstern und eigensinnigen Wesens, das den persönlichen Verkehr mit ihm erschwerte, zur unmittelbaren Unterweisung weniger geeignet. Von seinem Eifer gegen den Contrapunkt läßt er sich gelegentlich etwas weiter fortreißen, als seiner eignen Grundanschauung gemäß war. Grade aber deshalb sollen einige große Componisten, unter welchen man sich zunächst wol Sebastian Bach zu denken haben wird, unzufrieden mit ihm gewesen sein. Auch ist nicht zu leugnen, daß manche seiner Anweisungen nur mit Vorsicht zu benutzen waren, sollte nicht – sehr gegen des Verfassers Willen – sich ein unkünstlerisches Resultat ergeben; schon im vorigen Jahrhundert [369] warf man ihm vor, daß er einige Generalbaßregeln nicht immer auf die beste Art anwende. Jedenfalls ist sein Buch eine der hervorragendsten Erscheinungen in der musikalischen Litteratur seiner Zeit und auch für die Kenntniß des Charakters dieser Zeit eine werthvolle Quelle.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 368. Z. 10–11 v. o. l.: als obersten Richter über diesen. [Bd. 12, S. 796]