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Artikel „Kuhnau, Johann“ von Philipp Spitta in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 343–346, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kuhnau,_Johann&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 02:20 Uhr UTC)
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Kuhnau: Johann K., ist 1667 zu Geising, einem am nördlichen Abhang des Erzgebirges gelegenen Orte, geboren. Seine Großeltern waren in Böhmen ansässig gewesen, und hatten als Protestanten von dort flüchten müssen. Sein Vater war ein Tischler. Er schickte den Knaben, dessen wissenschaftliche und künstlerische Begabung sich früh offenbarte, nach Dresden auf die Kreuzschule, wo der Organist Alexander Hering sein Hauptlehrer wurde. Kuhnau’s Compositionsversuche erregten die Aufmerksamkeit des Capellmeisters Vicenzo Albrici. Derselbe öffnete ihm gastlich sein Haus, verschaffte ihm Zutritt zu den Proben der kurfürstlichen Capelle und gestattete ihm einen Einblick in seine eigene Componistenthätigkeit. Vermöge eines außergewöhnlichen Sprachtalentes verschaffte sich K. durch den Verkehr in Albrici’s Hause eine vollkommene [344] Herrschaft über die italienische Sprache. Ebenso lernte er um dieselbe Zeit aus eigenem Antriebe Französisch. Nachdem er 1680 in Folge der Pest Dresden verlassen und einige Wochen bei seinen Eltern verlebt hatte, begab er sich auf das Gymnasium zu Zittau, um hier seine Studien fortzusetzen. Verschiedene Gönner sorgten für den Unterhalt des armen Schülers. Eine zur Rathswahl von ihm componirte doppelchörige Motette fand so großen Beifall, daß man ihm die interimistische Verwaltung des vacanten Cantorats bis zum Amtsantritte Johann Krieger’s übertrug. Dabei hatte er seine wissenschaftlichen Kenntnisse bereits bedeutend erweitert und konnte jungen Edelleuten als französischer Sprachmeister dienen. Schon 1682 bezog er die Universität Leipzig. Er studirte Rechtswissenschaft, vervollkommnete sich dabei aber so rasch und auffällig in der Musik, daß er 1684 Organist an der Thomaskirche wurde. Seine juristische Dissertation: „Jura circa musicos ecclesiasticos“, die 1688 zu Leipzig gedruckt wurde, bahnte ihm den Weg zur Advocatur, welche er 13 Jahre lang mit Erfolg betrieb, ohne daneben die Organistenpflichten zu vernachlässigen. Ja, diese Doppelthätigkeit genügte ihm noch nicht. Er studirte eifrig Griechisch und Hebräisch, außerdem Mathematik, war als Uebersetzer französischer und italienischer Bücher thätig und versuchte sich auch als Originalschriftsteller. Sein satirischer Roman „Der musikalische Quacksalber“ erschien 1700: einige andere anonym erschienene Schriften, wie der „Musicus vexatus“ (Freiberg 1690) und der „Musicus curiosus“ (Freiberg 1691) werden ihm ebenfalls zugeschrieben, doch ohne hinreichende Beglaubigung. Am 6. Mai 1701 ernannte ihn der städtische Rath zum Cantor der Thomasschule zu Leipzig, jedoch unter der Bedingung, daß er die bisherige Rechtspraxis aufgäbe. Er legte sich nun ausschließlicher auf die Musik. Das Glück seines Familienlebens wurde dem mild und heiter gesinnten Manne durch zahlreiche Todesfälle getrübt. Von 1717 bis 1719 starben ihm 4 Kinder, zwei Söhne mit 14 und 15 und zwei Töchter mit 16 und 22 Jahren. Die letztere, Johanna Sophia, war die Braut des Stadtgerichtsnotar Georg Heinrich Gröbe, der sich ihren Tod so zu Herzen gehen ließ, daß er ihr kaum zwei Monate später in den Tod folgte. K. selbst starb den 5. Juni 1722; sein Amtsnachfolger wurde Sebastian Bach. Kuhnau’s Thätigkeit gravitirte, so vielseitig er auch war, entschieden nach Seite der Musik. Nur was er als Tonkünstler geleistet hat, ist von dauernder Bedeutung gewesen. Als Cantor der Thomasschule war er zunächst Musiklehrer an derselben. Es nahm aber die Musik unter den Lehrgegenständen dieser Anstalt einen so hohen Rang ein, daß zu Zeiten mehr tüchtige Künstler als Gelehrte auf derselben gebildet wurden. Dem Cantor war also hier ein weiteres Feld der Thätigkeit geöffnet, als an anderen Schulen. K. hat sich als Lehrer wohl bewährt. Seine hervorragendsten Schüler waren Heinichen und Graupner, die beide mit der Zeit zu großer und wohlverdienter Berühmtheit kamen. Heinichen als Capellmeister in Dresden, Graupner in derselben Stellung in Darmstadt. Als Cantor hatte K. ferner die Kirchenmusik in den Leipziger Hauptkirchen zu leiten, womit nach altem Brauche auch noch die Funktionen eines Universitätsmusikdirectors verbunden waren. Sein Amtsantritt fiel noch in die Zeit, da die Kirche der einzige Ort war, wo in Deutschland größere Musikwerke vornehmer Gattung öffentlich aufgeführt wurden. Aber es dauerte nur wenige Jahre, so traten in Leipzig die ersten Ansätze zu einem von der Kirche unabhängigen öffentlichen Concertwesen hervor. Diese Ansätze zeigten sich merkwürdigerweise in den Kreisen der Studenten. Den ersten Anstoß gab Telemann, der 1704 als Student der Leipziger Universität ein Collegium musicum unter seinen Commilitonen gründete. Dasselbe hielt seine regelmäßigen Uebungsabende, zu denen auch Zuhörer zugelassen wurden, und gelangte durch die Frische, Exactheit und Virtuosität seiner [345] Leistungen bald zu großem Ruf. Wenn es an den Festtagen in der sogenannten „Neuen Kirche“ die Festmusiken aufführte, strömte die ganze Stadt herbei. Lange bedeutete dieser Musikverein die erste musikalische Macht Leipzigs, wenn auch bald noch andere neben ihm entstanden. Immerhin lag 40 Jahre hindurch der Schwerpunkt des Leipziger Musikwesens in der Studentenschaft. Dann nahm die Bürgerschaft sich der Kunstpflege energisch und erfolgreich an. K. konnte es mit seinem Schülerchor und dem hauptsächlich aus Stadtmusikern bestehenden Orchester freilich mit den freien Musikvereinen nicht aufnehmen. Um so weniger, als diese eine entschiedene Neigung für die Opernmusik zeigten, und die opernhaften Elemente auch mit großer Keckheit in die Kirchenmusik hinüber nahmen. Dies gefiel dem großen Haufen ebensosehr, wie es Kuhnau’s feineren Geschmack verletzte; aber K. war auch, trotz seiner Vielseitigkeit, gerade für den Opernstil allzuwenig begabt, als daß er hier mit seinen Nebenbuhlern hätte in Concurrenz treten können. Da er nun außerdem einen weichen, etwas schüchternen Charakter besaß, die musikalischen Kräfte nicht heranzuziehen und anzuregen verstand, so war es bald mit seinen Kirchenaufführungen übel bestellt. Der Thomanerchor, früher ein Stolz der Stadt, machte unter K. die bedenklichsten Rückschritte und befand sich endlich bei seinem Tode im Zustande völliger Desorganisation. Weit günstigeres als über den Dirigenten ist über K. den Componisten zu sagen. Seltsamerweise scheint er, obwol er lange Jahre Organist war, für die Orgel nur wenig geschrieben zu haben. Jedenfalls ist, was uns handschriftlich erhalten blieb, so gering, daß es zur Bildung eines Urtheils über diese Seite von Kuhnau’s Thätigkeit nicht ausreicht. Dagegen sind vocale Kirchencompositionen handschriftlich noch in ziemlicher Menge vorhanden. Seine Zeit rechnete K. zu den größten Kirchencomponisten. In der That war er mit der Technik des polyphonen Vocalsatzes vertrauter, als der Durchschnitt der damaligen deutschen Musiker. Auch fehlte es ihm nicht an Erfindungskraft und einem gewissen Stilgefühl. Dennoch muß man sagen, daß er im Ganzen von der Ausprägung eines reinen Ideals der Kirchenmusik noch recht weit entfernt ist. Aus den Mitteln der älteren Kirchenmusik und der modernen Opernmusik sucht er seinen Kirchenstil zusammen zu stellen, wesentlich in derselben Weise wie seine Zeitgenossen, mit denen er auch die weiche, freundliche und anmuthige Grundempfindung theilt, auf welcher alle seine Compositionen beruhen. Er hatte übrigens eine besondere Liebhaberei für doppelchörige Gestaltung, und scheint hierdurch zuweilen bedeutende Eindrücke hervorgebracht zu haben. Auch hat er, noch gegen Ende seines Lebens (1721) die madrigalische Passionsmusik in den Leipziger Gottesdienst eingeführt, eine Kunstform, die bald Seb. Bach in so gewaltiger Weise ausbauen sollte; bis dahin kannte man im Cultus der Leipziger Kirchen nur die choralische Passionsabsingung. Kuhnau’s eigentlichste Stärke aber ruht in der Claviermusik. Unter dem Titel „Clavier-Uebung“ gab er 1689 und 1695 zwei Sammlungen von je 7 Claviersuiten heraus; die zweite dieser Sammlungen enthält außerdem eine Sonate in B-Dur, den ersten Versuch, diese bisher nur für Streichinstrumente übliche Form auf das Clavier zu übertragen. 1696 folgte eine Sammlung von 7 Sonaten unter dem Titel „Frische Clavierfrüchte“ und endlich 1700 wiederum eine Sammlung von 6 Claviersonaten, genannt „Musikalische Vorstellung einiger biblischer Historien“. Kuhnau’s Claviermusik ist durchweg fein, geschmackvoll, reich an Erfindung und Geist, und von großer Gewandtheit in der technischen Gestaltung. In der Clavierfuge blieb er auch dann noch ein Muster, als Seb. Bach die Form zur höchsten Vollendung gebracht hatte. Kuhnau’s ganz anderer, mehr auf das Zierliche, Mild-Heitere gerichteter Charakter gestattet, ihm noch einen Platz neben Bach einzuräumen, den er freilich an Ideenfülle und Kunstfertigkeit bei weitem [346] nicht erreicht. Er wird in seinem beschränkten Kreise immer als ein Classiker der deutschen Claviermusik zu betrachten sein. In der „Musikalischen Vorstellung einiger biblischer Historien“ trägt die erste Sonate die Ueberschrift „Der Streit zwischen David und Goliath“, die zweite „Der von David vermittelst der Musik curirte Saul“, die dritte „Jacobs Heirath“, die vierte „Der todtkranke und wieder gesunde Hiskias“, die fünfte „Der Heiland Israelis, Gideon“ und die sechste „Jacobs Tod und Begräbniß“. Jede Sonate zerfällt in eine Anzahl Theile, die wieder besondere Ueberschriften haben, auch ist jeder eine vollständige durch Kuhnau’s eigene Zuthaten erweiterte und ausgeschmückte Erzählung der betreffenden biblischen Begebenheit vorausgeschickt. Daß dieses Unternehmen, durch Instrumentalmusik ganze Geschichten darzustellen, ein gewagtes sei, wußte K. recht gut. Er war weit entfernt, in solchen Darstellungen etwa höhere Aufgaben der Instrumentalmusik zu erkennen, ja sie überhaupt nur im innern Wesen derselben für nothwendig begründet zu erachten. Er meinte nur, die Musik besitze gewisse Mittel, durch Analogie der Bewegungen unter besonderen gegebenen Umständen bestimmte Vorstellungen in der Phantasie des Hörers zu erwecken. Es schien ihm, als ob durch solche nebenhergehende Vorstellungen dem rein musikalischen Genuß ein besonderer pikanter Reiz hinzugefügt werde. Daß dem in der That so ist, steht eben so fest, wie daß zu allen Zeiten, so lange es eine selbständige Instrumentalmusik giebt, man sich versucht gefühlt hat, poetische Vorstellungen in die rein musikalischen einzumischen. Dergleichen ist unbedenklich, so lange die Formgesetze des musikalischen Kunstwerkes nicht alterirt werden. Wem jene poetische Würze in den Kuhnau’schen Sonaten nicht behagt, der kann die Ueberschriften einfach unbeachtet lassen: er wird immer schöne und durch sich selbst verständliche Musik finden. K. hinterließ auch zwei musiktheoretische Schriften: „Tractatus de Tetrachordo“ und „Disputatio de Triade harmonica“. Dieselben sind ungedruckt geblieben und jetzt verschollen.

Acten des Raths- und Kirchen-Archivs zu Leipzig. Mattheson, Ehrenpforte, S. 153 ff. Spitta, J. S. Bach I, S. 232 ff.; II, 26 ff., 162 ff.