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Artikel „Heinicke, Samuel“ von Lorenz Kellner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 11 (1880), S. 369–370, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Heinicke,_Samuel&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 08:53 Uhr UTC)
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Band 11 (1880), S. 369–370 (Quelle).
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Heinicke: Samuel H., Sohn wohlhabender Bauersleute, wurde am 10. April 1729 im Dorfe Nautzschütz bei Weißenfels geboren. Kaum 21 Jahre alt, wurde er durch eine Liebschaft in Schlägereien verwickelt, welche ihn zur Flucht nöthigten und in die Hände sächsischer Werber führten. Als stattlicher Soldat erwarb er sich durch Intelligenz und Pünktlichkeit bald das Wohlwollen der Vorgesetzten, fand Zeit sich seiner weiteren Ausbildung (im Französischen und Lateinischen) zu widmen und einige Privatstunden zu geben. Noch Soldat, verheirathete er sich mit einer gewissen Elisabeth Kracht (1754). Unter den Kindern, welche H. unterrichtete, befand sich auch ein taubstummer Knabe, welcher bald mechanisch schreiben lernte, aber den Lehrer in seinen Fortschritten nicht befriedigte. H. strebte vor Allem, den Knaben Sprechen zu lehren. Aber der siebenjährige Krieg führte ihn von Dresden fort und bei Pirna in preußische Gefangenschaft. H. wußte zu entfliehen, entkam zunächst nach Jena, wo er sich als Student inscribiren ließ, aber bald darauf aus Furcht vor Entdeckung nach Hamburg ging. Seine schöne Handschrift verschaffte ihm im Jahre 1760 die Stelle eines Secretärs beim Grafen Schimmelmann, und als 1768 die Cantorstelle zu Eppendorf bei Hamburg vacant wurde, erhielt er auch diese durch den Einfluß seines Gönners, obgleich der protestantische Ortspfarrer Granau sein heftigster Gegner war. Hier kämpfte H. nun mit aller Entschiedenheit gegen die damalige mechanische, nur das Gedächtniß fördernde Unterrichtsweise und folgerichtig auch gegen das geistlose Katechismus-Memoriren. Außerdem erkannte er die Verkehrtheit der leidigen Buchstabir-Methode und ebnete der Lautirmethode die Wege, verbesserte den Schreibunterricht und suchte auf Bildung des Verstandes und des Sprachvermögens hinzuwirken. Es gelang H., seine Bauern für sich zu gewinnen, nicht aber den Pastor, welcher sogar eine Sünde darin erblickte, daß der neue Lehrer diejenigen anders machen wolle (die Taubstummen), welche Gott gezeichnet habe. – Heinicke’s fortgesetzter Unterricht der Taubstummen erregte bald in weiteren Kreisen Aufsehen, und besonders hervorragend waren die Früchte, welche er mit einer Fräulein v. Vietinghoff (Schwester der bekannten Frau v. Krüdener) erzielte. – Im Jahre 1775 verlor H. seine treue Gattin, und dieser Verlust mochte Mitursache sein, daß er auf das Anerbieten des ihn besuchenden sächsischen Hauptmanns v. Schröder einging, 1778 nach Leipzig übersiedelte und sich von nun ab ganz dem Unterrichte der Taubstummen widmete. In dieser Zeit verheirathete sich H. auch zum zweiten Male mit einer jungen Wittwe Namens Morin. Als Taubstummenlehrer ließ sich H. von dem Grundsatze leiten, daß der Schüler nur durch die Lautsprache zum klaren Denken gelange, kämpfte heftig gegen Alle, welche, wie Abbé Stork, Director der Taubstummenanstalt in Wien, nicht seiner Meinung waren, und verschonte selbst den berühmten Abbé de l’Epée nicht. – Von nun ab war Heinicke’s Leben ein fortwährender Kampf für Aufklärung des Volkes und der Lehrer, für die Lautirmethode und die Lautsprache der Taubstummen. Der Kampf steigerte sich zu der maßlosesten Heftigkeit, als ihn seine Gegner noch der Charlatanerie beschuldigten, und er sich außerdem berufen glaubte, die Kantische Philosophie gegen die sogenannten Dunkelmänner in Schutz zu nehmen. – Unter seinen zahlreichen Streitschriften nennen wir nur: „Die Metaphysik für Schulmeister und Plusmacher“ (1785) und: „Verkappter Recensenten- und Pasquillanten Jagd“ (1786). Sein berühmtes „Neues ABC-Sylben-Lesebuch, nebst Anweisung, das Lesen in kurzer Zeit, auf die leichteste Art ohne Buchstabieren [370] zu lernen“, erschien 1780 und 1790 in 24. Auflage. Ueber Taubstummenunterricht und über die Sprache der Taubstummen verfaßte H. noch mehrere Schriften, auch gab er einzelne philosophische Abhandlungen heraus, z. B. „Clavicula Salomonis oder Schlüssel zur höchsten Weisheit“ (1789) und: „Wichtige Entdeckungen und Beiträge zur Seelenlehre und zur menschlichen Sprache“ (1784.) – H. endete sein bewegtes Leben 1790 in der Nacht vom 29. bis 30. April. Eine Enkelin (Elisabeth) ist die Frau des jetzigen Directors der Taubstummenanstalt in Leipzig, Dr. Eichler. H. wurde mehrfach der Diesterweg des 18. Jahrhunderts genannt, und hat mit diesem Pädagogen allerdings Kampfeslust, Willensstärke und Liebe zum Berufe gemein. Ihm wurde das Glück, in H. E. Stötzner einen guten Biographen zu finden (Leipzig 1870).