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Artikel „Gleim, Betty“ von Ferdinand Sander in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 390–393, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gleim,_Betty&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 17:09 Uhr UTC)
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Band 49 (1904), S. 390–393 (Quelle).
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Gleim: Betty G., † am 27. März 1827, angesehene Erzieherin und Schriftstellerin zu Bremen. Betty (Ilsabetha) G. wurde am 13. August 1781 in Bremen geboren und am 22. d. M. auf den Namen Adelheid getauft. Wann und warum dieser Vorname später dem Namen Betty (Ilsabetha) hat weichen müssen, ist unbekannt. B. Gleim’s Eltern waren der Kaufmann (Weinhändler) Johann Christian Gottlieb Gleim, ein aus Halberstadt nach Bremen eingewanderter Neffe des berühmten Johann Wilhelm Ludwig G., und dessen Gattin Adelheid, Tochter des Aeltermannes und Schwester des Bürgermeisters Franziskus Tidemann. Die angesehene Stellung des Elternhauses läßt ohne weiteres voraussetzen, daß die begabte Tochter nach dem Maße der Zeit sorgfältig erzogen und unterrichtet wurde. Doch ist näheres darüber nicht bezeugt; nur darf man als bezeichnend für die geistige Luft, in der jene aufwuchs, anführen, daß die beiden Geistlichen, welche um 1800 in Bremen für Reform des Unterrichtswesens im Sinne Pestalozzi’s begeistert wirkten: der Züricher Haefeli an der Ansgarii- und der von Detmold herübergekommene J. L. Ewald an der Stephanikirche, zum Umgangskreise des Gleim’schen Hauses gehörten und an dessen heranwachsender Tochter wohlwollenden Antheil nahmen. Mit Haefeli’s Tochter Regula war diese befreundet und von ihm wurde sie 1799 im Mai confirmirt. Mochte der Hinblick auf die wankende Gesundheit des nur mäßig begüterten Vaters und der Rückgang des Verlöbnisses mit einem jungen, braunschweigischen Geistlichen, das Betty bei einem Besuche in Halberstadt wohl allzurasch eingegangen war, zu dem Entschlusse mitwirken, im Jahre 1806 eine höhere Lehranstalt für Mädchen in Bremen zu gründen; gewiß durfte sie in der Ankündigung vom 14. October 1805 sagen, daß sie damit einem längst gehegten Plane, für den sie sich sorgfältig vorbereitet hätte, Wirklichkeit gäbe. Von dem ausführlichen Lehrplane den sie zu Grunde legte, urtheilt ihr sachkundiger Bremer Biograph: „Jede Seite zeugt von reifer pädagogischer Einsicht. – – – Die Verfasserin hat nicht bloß das Beste gelesen und durchdacht, namentlich die Schriften Pestalozzi’s, Plamann’s, – Tillich’s, v. Türk’s – – und anderer, sondern sie entwickelt auch [391] häufig die Gedanken selbständig weiter. – – Ihr klarer, besonnener Blick erkennt und vermeidet die Einseitigkeiten und Ueberschwänglichkeiten ihrer Zeit.“ Die Schule kam rasch in Flor. Anfangs dreiclassig abgestuft, zählte sie 1812 in vier Classen 80 Schülerinnen. Dann ging sie zurück. Allgemein geliebt und verehrt war die geistvolle, anregende Vorsteherin; aber es scheint, daß sie weniger die Gabe der Leitung besaß und besonders einer Lehrerin blindes Vertrauen schenkte, deren Ränke die Mitarbeiterinnen verstimmten und viele Eltern der Anstalt entfremdeten. Infolge dieser Verdrießlichkeiten trat Betty mit der angefeindeten Lehrerin 1815 zurück und überließ die ganze Anstalt ihrer bisherigen ersten Gehülfin Louise Köhler aus Dessau. Nachdem der schwere Schritt geschehen war, begab Betty sich für einige Zeit über Holland nach England zu einer dortigen Verwandten. Wenn es zugleich in der Hoffnung geschah, dort einen neuen, zusagenden Wirkungskreis zu finden, so erfüllte diese Hoffnung sich nicht. Wir finden sie bald wieder in Bremen, von wo sie 1816, wiederum auf den Ruf einer Verwandten, nach Elberfeld siedelte, um dort eine Bildungsanstalt für Töchter höherer Stände zu gründen. Nach vielversprechendem Anfange gerieth aber auch diese Anstalt durch den Widerspruch alsbald ins Stocken, den jene von Bremen mitgebrachte Vertraute der Vorsteherin gegen sich hervorrief. Vor die Wahl gestellt, entweder die Lehrerin zu entlassen oder das Unternehmen aufzugeben, entschied Betty sich wiederum für letzteres und kehrte unmuthig in die Heimath zurück. Ihr Interesse in der nächsten Zeit scheint besonders den graphischen Künsten gegolten zu haben. Bei längerem Aufenthalt in Frankfurt a. M. ließ sie sich (1819) von Peter Schmid in dessen Zeichenlehrmethode, ebenso von October 1818 bis Februar 1819 von Alois Senefelder, dem Erfinder der Steindruckerei, in die damals für Bremen noch neue Kunst der Lithographie einweihen, in der sie ein wünschenswerthes neues Mittel gefunden zu haben glaubte, um dem weiblichen Geschlechte die von ihr ersehnte wirthschaftliche Unabhängigkeit zu erleichtern. Heimgekehrt erbat und erhielt sie sogleich vom Senate (April 1819) Concession und fünfjähriges Privileg für die von ihr zu errichtende lithographische Anstalt. Im Mai 1819 wurde das Institut eröffnet; Lithograph und Drucker waren der Unternehmerin von München her gefolgt. Allein der erwartete Eifer der Mädchen und Frauen blieb aus, und damit verlor sich der Hauptreiz der neuen Thätigkeit. Auch erwies die geschäftliche Leitung sich schwieriger, als angenommen war. Recht zur Zeit brachte daher die Fürsorge von Verwandten und Freunden wiederum eine höhere Mädchenschule für B. G. zu Stande, die October 1819 im Locale der früheren Schule eröffnet ward. Statt der Lehrerin, deren Freundschaft ihr zweimal verhängnißvoll geworden war, hatte Betty jetzt Fräulein Sophie Lasius aus Oldenburg als Gehilfin angenommen, die ihr bis zum Tode treue Freundschaft bewies und eine wirksame Stütze war. So hätte die Vielgeprüfte nun sich ihres Wirkens rein erfreuen können, zumal seit (Herbst 1820) das lithographische Institut anderen Händen übergeben war. Aber ihre körperliche Kraft war erschöpft. Nervöse Leiden, quälende Kopf- und Hüftschmerzen ließen sie immer weniger Muße für Studium und Schriftstellerei gewinnen und hinderten sie in den letzten Jahren fast ganz am Unterrichten wie an der Lectüre. Seit Herbst 1826 schwerer krank, zuletzt längere Zeit bettlägerig, starb sie am 27. März 1827 in den Armen ihrer geliebten, treuen Gehülfin.

Neben Unterricht und Schulleitung bethätigte B. G. sich besonders während der Blüthe ihrer ersten Schule als fleißige Schriftstellerin. Die meisten ihrer Publicationen schließen sich eng dem Schulleben an. So „Erzählungs- und Bilderbuch zum Vergnügen und zur Belehrung der Jugend“ (1807, 2. Aufl. [392] 1810); „Lesebuch zur Uebung in der Deklamation“ (2 Theile, 1809/10. 2. Auflage 1815); „Fundamentallehre oder Terminologie der Grammatik nach Pestalozzi’schen Grundsätzen“ (1810); „Erfahrungen und Ansichten über Erziehunginstitute und Schulen“ (1811); „Tellus oder Lehrbuch der Geographie nebst Kosmomathie oder kurzgefaßter Darstellung des Weltgebäudes“ (1813); „Einige Gedanken über Stilübungen; oder Beantwortung der Frage: ist es zweckmäßig, die Jugend praktische Versuche im Versbau anstellen zu lassen?“ (1813); „Anleitung zur Kunst des Versbaues“ (1814); „Ausführlichere Darstellung der Grammatik der deutschen Sprache“ (1815); „Grammatikalische Beispielsammlung oder Uebungsbuch bei der Regellehre der deutschen Sprache“ (1819). Hierher gehört vor allem auch ihr Hauptwerk: „Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts, ein Buch für Eltern und Erzieher“ (Leipzig, Göschen 1810) und dessen Nachtrag oder Theil II: „Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts“ (1814). Dieses Lehrbuch der weiblichen Erziehung ist sozusagen der ausführliche Commentar zu dem Lehrplane der Gleim’schen Schule und verdient durchaus das gleiche Lob wie dieser. Man erstaunt, wie fast modern-social, aber dabei maßvoll und edel B. G. die Frauenfrage erörtert; ein schlagender Beweis für den neuerdings mit Recht wiederholt betonten socialen Charakter der Pestalozzi’schen Pädagogik, als deren, wenngleich selbständige und eigenartige, Anhängerin sie zu bezeichnen ist. Besonders warm und doch nicht einseitig oder engherzig betont sie das religiöse, christliche Element der Erziehung im positiven Sinne etwa des Pastors Gottfried Menken, dem sie sich enger anschloß, bis er 1824 zurücktrat, wo dann der Parabeldichter Friedrich Adolf Krummacher in Bremen eintraf und dessen benachbartes Haus sich der bereits kränkelnden Betty in herzlicher Freundschaft öffnete. Daneben gilt ihre Vorliebe – wol unter dem frühen Einflusse des Halberstädter Großoheims – sichtlich der deutschen Litteratur, mit der sie in den geistvollen kritischen „Handzeichnungen zu dem Werke der Frau v. Staël über Deutschland“ (1814) sich wohl vertraut zeigt. Auch der Naturkunde legt sie hohen Werth bei. Als das Jahr 1813 die Freiheit von dem schwer ertragenen Joche der Fremdherrschaft verhieß und brachte, finden wir sie inmitten der patriotischen Bewegung der Bremer Frauenwelt, die Max v. Schenkendorf’s dichterisches Lob verewigte. Schon im Sommer 1813 wagte sie unter den Augen der französischen Behörden ein Flugblatt mit der Nachricht von Oesterreichs Anschluß an Preußen und Rußland zu verbreiten. Im Winter auf 1814 folgte die wirksame, feurige, kleine Schrift: „Was hat das wiedergeborene Deutschland von seinen Frauen zu fordern? Beantwortet durch eine Deutsche. Zum Besten der aus ihrer Vaterstadt vertriebenen Hamburger“ (Bremen 1814). Außer dem ernsten Studium und dem Verkehre mit hervorragenden Männern ihrer Vaterstadt verdankte B. G. für ihr geistiges Leben viel ihren Beobachtungen und Bekanntschaften auf öfteren Reisen. Der Besuche in Halberstadt wie der graphischen Studien in Frankfurt und München ward bereits gedacht. Eine längere Reise des Jahres 1810 führte sie in Göttingen mit Joh. Fr. Blumenbach, in Frankfurt mit Karl Ritter, in Heidelberg mit Joh. Heinrich Voß, Friedr. Heinr. Chr. Schwarz und mit Karoline Rudolphi zusammen. Trotz vieler innerer Berührungspunkte fand sich jedoch gerade mit der berühmten Berufsgenossin kein rechter Einklang. Im J. 1817 nach dem Elberfelder Mißerfolge reiste Betty mit einer ihr anvertrauten jungen Verwandten über Frankfurt a. M. nach der Schweiz und begrüßte in Ifferten auch den greisen Meister Pestalozzi. – In Bremen bewahrte man der eindrücklichen Gestalt der ernsten, schlichten Pädagogin lange pietätvolles Andenken. B. Gleim’s Bücher dagegen wurden rascher, als sie verdienten, nicht eigentlich [393] überholt, aber verdrängt und vergessen. Nur ein „Kochbuch“ (1808), durch das sie der Mitwelt bewies, wie gut hauswirthschaftliche Tüchtigkeit einer Frau mit höheren geistigen Interessen sich verträgt, hat noch lange standgehalten und viele neue Auflagen – die dreizehnte 1892 – auch nach der Verfasserin Tode erfahren. – Mit einem schönen Worte F. A. Krummacher’s über seine und seines Hauses Freundin schließt A. Kippenberg seinen Lebensabriß: „Selten mag soviel Bescheidenheit mit so vielem Geist und Wissen in einem weiblichen Wesen vereinigt gewesen sein wie in Betty Gleim“.

Vgl. außer Betty Gleim’s eigenen Schriften: A. Kippenberg, Betty Gleim. Ein Lebens- und Charakterbild. Als Beitrag zur Geschichte der deutschen Frauenbildung und Mädchenerziehung, zugleich erwachsenen Töchtern eine Mitgabe für das Leben, Bremen 1882 und H. Morf, Betty Gleim, Winterthur 1883.