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Artikel „Endemann, Wilhelm“ von Johann Friedrich von Schulte in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 358–362, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Endemann,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 19:10 Uhr UTC)
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Endemann: Wilhelm E., Jurist, geboren zu Marburg am 24. April 1825, † zu Kassel am 13. Juni 1899. Eines Juristen Sohn – der Vater war zur Zeit seiner Geburt Präsident des Obergerichts in Marburg, zuletzt des [359] Oberappellationsgerichts in Kassel, der Bruder des Vaters, Hermann Ernst, Professor der Rechte in Marburg (s. A. D. B. VI, 105) – widmete er sich nach in Kassel 1835–1843 zurückgelegten Gymnasialstudien der Rechtswissenschaft in Marburg und Heidelberg (1843–46), machte 1846 das Referendarexamen, wurde am 17. März 1853 Amtsassessor in Fulda und daselbst am 22. Mai 1856 Obergerichtsassessor. In den sechs Jahren seiner Wirksamkeit in Fulda entfaltete E. eine epochemachende wissenschaftliche Thätigkeit. Fünf Aufsätze im Archiv f. die civilistische Praxis (Bd. 41–43), eine Schrift über „Das Princip der Rechtskraft“ (Heidelberg 1860) und das Buch „Die Beweislehre des Civilprocesses“ (1860) stießen die bisherige Theorie und Praxis der formalen Beweislehre über den Haufen und traten ein für die freie richterliche Würdigung, diese als Postulat der Gesetzgebung aufstellend. Diese Arbeiten fußten auf tüchtigen Studien der Quellen und der Jurisprudenz des Mittelalters. Neben dieser Thätigkeit lief eine fruchtbare für das Handelsrecht in den „Mittheilungen und Bemerkungen über den Entwurf eines deutschen Handelsgesetzbuches in seinen ersten drei Büchern“ und einigen anderen Schriften. Belohnt wurden diese Leistungen durch die am 8. Januar 1862 von der juristischen Facultät zu Jena ihm verliehene Würde eines Doctor juris honoris causa und die bald darauf folgende, schon vor der Ehrenpromotion beabsichtigte, Berufung zum ordentlichen Professor der Rechte für Handelsrecht und Civilproceß und zum Rathe am Oberappellationsgericht zu Jena. In dieser Stadt wirkte er vom Frühjahr 1862 bis zum Ende des Sommersemesters 1875, wo er infolge des am 13. Juli an ihn auf einstimmigen Antrag der Facultät ergangenen Rufes als Nachfolger für v. Meibom und Wach nach Bonn übersiedelte als ordentlicher Professor des Handelsrechts, Staatsrechts, Civil- und Strafprocesses. Zwanzig Jahre lang hat er unverdrossen in beispielloser Pflichttreue sein Lehramt ausgeübt, trotz der Anstrengung in diesem und reicher litterarischer Thätigkeit durch eine Reihe von Jahren in Elberfeld und später in Köln allwöchentlich mehrere Stunden Vorlesungen über Eisenbahnrecht für Eisenbahnbeamte gehalten. Aber er war durch mancherlei Erlebnisse in seiner Kraft gebrochen. Scheinbar war das noch nicht der Fall, als er unter regster Antheilnahme der Facultät und Universität den siebzigsten Geburtstag feierte. Nur ein Semester noch las er, für das Wintersemester 1895/96 bat er um Urlaub und bald um gänzliche Entbindung vom halten von Vorlesungen, was ihm unter Gestattung der Verlegung des Wohnsitzes von Bonn durch Erlaß vom 18. December 1895 vom 1. April 1896 ab bewilligt wurde. Im Spätsommer 1898 zog er mit seiner Gattin nach Kassel in der Hoffnung, in der geliebten Heimath und in der Stadt, in welcher sein Bruder und eine Schwester lebte und er seinen Sohn Fritz, Professor der Rechte in Halle, näher hatte, noch ein ruhiges Alter zu verleben. Sein erster Brief von dort an mich vom 21. October drückte diese Hoffnung mit den Worten aus: „Der Verkehr mit meinen Geschwistern muß entschädigen … Wir können nun umsomehr einer leidlichen Zukunft entgegen sehen, wenn wir ferner von unsern Angehörigen aus Thorn, Halle, Berlin, Bremen gute Nachrichten erhalten“. Sein letzter Brief an mich vom 2. März 1899 ist überaus herzlich, er wünscht zur Reise nach Meran alles Gute, schreibt manches Interessante und freut sich aufs Frühjahr. Mein letzter Brief vom 10. Juni hat dem Freunde noch Freude gemacht.

Die litterarischen Arbeiten von sind außer den schon genannten für den Civilproceß: „Ueber den Preußischen Entwurf einer Civilproceßordnung“ (Bd. 49 des Arch. f. d. civ. Pr.), „Das deutsche Civilproceßrecht“ (Heidelberg [360] 1868), eine Anzahl von Aufsätzen und Recensionen in der „Zeitschr. für deutschen Civilproceß“ (Busch), insbesondere in Bd. 4, 12, 14, 15, 18; der im letztern erschienene Aufsatz „Von dem alten Reichskammergerichte“ ist eine mit vieler Liebe und Freude am Stoffe gemachte Arbeit. In der systematischen Darstellung des deutschen Concursverfahrens (1889) und in der darauf folgenden Abhandlung im 12. Bande der eben angeführten Zeitschrift hat er diesen Zweig des Verfahrens abgeschlossen. Dem Handelsrechte sind neben den genannten und anderen Aufsätzen gewidmet „Das deutsche Handelsrecht. Systematische Darstellung“ (Leipzig 1865, 4. Aufl. 1887), verschiedene Aufsätze in Goldschmidt’s Zeitschr. für das gesammte Handelsrecht, Bd. 2, 4, 5, 9, 10, Monographien bezw. Commentare betreffend wirthschaftliche Reichsgesetze: das Bundesgesetz betr. Commanditgesellschaften auf Actien und Actiengesellschaften 1870, das Recht der Actiengesellschaften u. s. w. 1875, „Das Gesetz betr. das Urheberrecht u. s. w.“, 1870, „Handbuch des Handels-, See- und Wechselrechts“ (1880–1885 in 4 Bdn.). In diesem Handbuche, an dem verschiedene bedeutende Juristen betheiligt waren, ist von E. selbst in Bd. 1 die „Lehre vom Handel und Handelsrecht“ als Einleitung, im 2. die „Lehre von den Sachen oder Waaren“, die „Arbeit“, in Bd. 3 „Bearbeitung und Verarbeitung“. Für das Rechtsleben und die Nationalwirthschaft von Bedeutung war seine Schrift „Die Rechtshülfe im Norddeutschen Bund“ (1870) und vor allem „Die Haftpflicht der Eisenbahnen, Bergwerke u. s. w. Erläuterung des Reichsgesetzes vom 7. Juni 1871“, welche in 3. Aufl. 1885 erschien (Berlin u. Leipzig). In den Vorträgen über Eisenbahnrecht hatte er diesen Stoff auf Grund der ihm zur Verfügung gestellten amtlichen Materialien verarbeitet und konnte ihn dann eingehend darstellen in dem Werke „Das Recht der Eisenbahnen. Nach den Bestimmungen des Deutschen Reichs und Preußens“ (Leipzig 1886).

Von Anfang an hatte E. erkannt, daß nur die Kenntniß der geschichtlichen Entwicklung, welche das Recht und die Wirthschaft im Mittelalter durchgemacht hatte, im Stande seien, die Lösung gesetzgeberischer Aufgaben vorzubereiten. Darum vertiefte er sich in das Studium des mittelalterlichen Wirthschaftslebens und der Art, wie die Kirche in dieses und in das Rechtsleben eingriff, indem er vor allem die juristische Litteratur bis zum Ende des 17. Jahrhunderts aller in Betracht kommenden Völker eingehender Durcharbeitung unterzog. Durch die längste Zeit seines wissenschaftlichen Lebens nahm ihn dieses Studium in Anspruch. Schon 1863 erschien (R. Hildebrand, Jahrb. für Nationalökon. u. Statistik, Bd. 1) die Abhandlung „Die national-ökonomischen Grundsätze der kanonischen Lehre“, hierauf „Die Bedeutung der Wucherlehre“ (Vortrag im wissenschaftl. Verein zu Berlin und in v. Holtzendorff’s Sammlung 1866), 1874 (Berlin) „Studien in der römisch-kanonistischen Wirthschafts- und Rechtslehre bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts“, Erster Band. Darin die Geschichte der Wucherlehre, der Wechsel, die Societät, die Banken und die Bankgeschäfte. Der zweite Band erschien 1883 und behandelt das Kaufgeschäft, den Rentenvertrag, Geld und Zahlung, das Interesse, Gefahr, Sicherung durch Pfand, das Darlehen, die Juden, zum Schluß den Einfluß der Wucherlehre auf die Rechtslehre, der letzteren Abhängigkeit vom Dogma und die scholastische Methode des Mittelalters. Diese Studien, deren Bedeutung aus der kurzen Inhaltsangabe erhellt, sind ein hervorragendes Werk, zweifelsohne, wie das bereits Landsberg hervorhebt, das bedeutendste von Endemann’s Werken und ein Werk von bleibendem wissenschaftlichem Werthe. E. hat zuerst in diesem Umfange den Gegenstand allseitig behandelt, darin liegt sein Verdienst. Der Widerwille, welcher sich am [361] Schlusse gegen die scholastische, analytisch-casuistische Methode kundgibt, enthält den Grundgedanken, welcher E. litterarisch, ja auch im Leben leitete. Es heißt (II, 423): „Ist es nicht ein Nachklang derselben [jener Methode], wenn es noch immer als die echte Wissenschaftlichkeit gilt, die Erscheinungen des Lebens um jeden Preis mit den überlieferten Definitionen zu erfassen, ihnen durch Unterordnung unter die alten Rubriken Gewalt anzuthun, anstatt zu bedenken, daß der Wechsel der Grundlagen die alten Definitionen und Rubriken unbrauchbar gemacht hat? … Vielleicht trägt das Studium der hier behandelten Periode, durch Stärkung des Widerwillens gegen den Schematismus in jederlei Gestalt auch dazu etwas bei, der Methode zu nützen, welche sich bestrebt, die wahren Ursachen der Rechtsbildung nicht blos in den Begriffsbestimmungen und Folgerungen der Rechtsdoktrin zu finden“. E. war ein Feind jeder Förmlichkeit. Wie er als Schriftsteller und Lehrer rücksichtslos nur die Sache im Auge hatte, der herrschenden Anschauung kein Zugeständniß machte, nichts auf Theorie und Schablone gab, so ging er auch als Mensch den geraden Weg, ein harter, abgeschlossener, fester, bedächtiger, fleckenloser Charakter, der, was er für recht hielt, was seiner politischen und socialen Ueberzeugung entsprach, unbedingt vertrat und jedes Widersprechende bekämpfte. Es begreift sich, daß ein solcher Mann leicht verkannt, viel angefeindet und selten richtig gewürdigt wird. Er hat es reichlich erfahren. Als Mitglied der in Berlin tagenden Commission zur Berathung der Civilproceßordnung brachte er seine grundsätzlichen Reformvorschläge, abgesehen von der Beweistheorie, nicht zur Annahme. Das that ihm weh. Seine civilprocessualen Arbeiten haben einzelne Kritiken gefunden, welche das Maaß des Zulässigen überschritten. Das verbitterte ihn. Im Kreise seiner Collegen stieß man sich an seiner Formlosigkeit bis zu dem Grade – ich erzähle dies als charakteristisch –, daß in einer Versammlung früherer Universitätsrectoren, welche seit 1883 in Gebrauch kam zur Vorbesprechung über den Candidaten für das folgende Jahr, gegen E. mit Erfolg geltend gemacht wurde gegen meinen Vorschlag seiner Candidatur, daß er am 3. August 1878 bei der feierlichen Uebergabe des Studienzeugnisses an den Prinzen Wilhelm (den jetzigen Kaiser) unter dem Talar keine schwarze, sondern eine graue Hose und statt weißer eine schwarze Halsbinde getragen habe. Die Wahl des Gegencandidaten, welche mit einer oder zwei Stimmen mehr stattfand, erbitterte ihn so, daß er trotz meiner wiederholten eingehenden Abmahnung zur folgenden Wahl dem Rector ein Schreiben zusandte, das mit andern Worten sagte: es liegt mir an der ganzen Sache nichts. Er hat seit 1888 nie mehr an einer akademischen Feierlichkeit theilgenommen. Das Decanat der juristischen Facultät in Bonn bekleidete er in den Jahren 1880/81, 1886/87, 1892/93.

Der Politiker E. zeigt kein anderes Bild. Als junger Mann hatte er in Kurhessen zu jenen Männern gehört, die fest und doch besonnen als wahre Patrioten der Sache der Freiheit dienten. Abgeordneter war er im Norddeutschen Reichstag Mitglied der nationalliberalen Fraction. In Bonn fand er bald einen politischen Wirkungskreis. Der von Sybel geleitete „Deutsche Verein“ hatte in der Rheinprovinz eine enorme Wirksamkeit entfaltet, welche den stärksten Ausdruck fand in der wahren Jubelfeier des Cultusministers Falk (Ende Juni, Anfang Juli 1875). Herbst 1875 zog Sybel nach Berlin, bildete mit Held, der 1879 nach Berlin ging, Justizrath Wrede und Professor Karl Menzel den Vorstand. Dieser letztere und E. haben mit großer Mühe in öffentlichen Reden für die nationale Sache zu wirken versucht, vergebens, weil die seit 1878 eingetretenen Verhältnisse, besonders der Uebergang vom Freihandel zum Schutzzoll, das Verlassen des kirchenpolitischen Systems [362] durch Bröckeln und zuletzt Aufhebung der Gesetze der Falk’schen Aera zum Niedergange der nationalliberalen Partei und zum Siege des Centrums führten. E. litt darunter enorm, er wurde von den alten Gegnern und den Fahnenflüchtigen gehaßt und angefeindet, zog sich von jeder politischen Thätigkeit zurück und verzweifelte an dem Siege der nationalen Sache. Mir, der den Mann genau kannte und werth schätzte, ist das sehr leid gewesen, aber ich habe es wohl verstanden. E. war eben trotz aller Schroffheit ein Idealist. Ihm blieb die Arbeit und die Familie, welcher er als musterhafter Vater und Gatte Alles war.

Mein Artikel in der Bonner Zeitung Nr. 148 vom 23. Juni 1899. – Landsberg, Nekrolog in: Zeitschr. f. deutschen Civilprozeß 26, 1 ff., der die innere Seite seiner litterarischen Thätigkeit vortrefflich beleuchtet.