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Artikel „Candidus, Karl August“ von Ernst Müsebeck in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 462–464, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Candidus,_Carl&oldid=- (Version vom 13. Oktober 2024, 07:28 Uhr UTC)
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Candidus *): Karl August C., geboren am 14. April 1817 zu Bischweiler bei Straßburg i. Els. als Sohn des reformirten Pfarrers zu Aßweiler im Kreise Zabern. Er entstammte einem alten Pfarrgeschlecht der deutschen Westmark, dessen Ahn Pantaleon Weiß einst unter harter Bedrängniß sein Vaterland Niederösterreich verlassen, bei den Wittenberger Reformatoren Unterricht genossen und dann als Generalsuperintendent des Herzogthums Pfalz-Zweibrücken seit 1571 eine reiche theologische und litterarische Thätigkeit entfaltet hatte. 1832 siedelte C. nach Straßburg über, besuchte fünf Jahre lang das protestantische Gymnasium und widmete sich dann dem Studium der Theologie, Philosophie und Litteraturgeschichte. Am meisten fesselten ihn während der Straßburger Zeit die deutsche Litteratur und eigene dichterische Pläne, zu denen ihn namentlich August Stöber ermunterte. Die Genossen des deutsch-elsässischen Kreises, der sich um diesen und seinen Bruder Adolf sammelte, Friedrich Otte und Klein, Gustav Mühl und Daniel Hirtz, Strobel und Jäger, Theodor Kugler und August Nefftzer, arbeiteten eifrig an der „Erwinia“ mit, die Aug. Stöber 1838 begründet hatte, um in ihr die altelsässische Litteratur in deutscher Sprache fortzusetzen und das noch Vorhandene zu erhalten; 1839 gründeten sie einen Sagenverein, der viele Materialien zu Stöber’s Sagensammlungen beisteuerte. C. lieferte für die ersten Jahrgänge der Erwinia zahlreiche Beiträge. 1842 promovirte er zum bachelier en théologie mit der Schrift „Comparaison des deux ouvrages de Schleiermacher et Lamennais sur la réligion“, durch die er sich mit den beiden Culturen seines Landes, der durch den Katholicismus wesentlich bestimmten französischen, und der durch den Protestantismus wesentlich bestimmten deutschen, verstandesmäßig auseinandersetzte, und in der er beiden gerecht zu werden versuchte. Schon das Jahr 1841 hatte ihm die Stelle eines Lehrers an der Privatschule zu Markirch in den Vogesen gebracht; neues Leben regte sich in seiner Seele: er sah „den großen Stillen aus rings aufdämmernder Umnachtung“. Seine Ausbildung, der Ausbau seines Wesens, nahm von jetzt an eine ganz andere Richtung als die seiner Straßburger Freunde: das schöngeistige, das litterarische Interesse trat zurück, und sein Leben wurde nunmehr ganz im Schleiermacher’schen Sinne durch das religiöse Moment bestimmt. 1842 folgte er einem Rufe als Pfarrvicar nach Saarunion, 1846 als Pfarrer nach Nancy an der reformirten Kirche am place St. Jean, wo er bis zum Jahre 1858 thätig war.

In diese Zeit fällt eine reiche litterarische Wirksamkeit. 1846 erschienen zu Straßburg anonym seine „Gedichte eines Elsässers“, deren Lyrik in ihren besten Schöpfungen an Möricke und Heine erinnert; charakteristisch für ihn bleibt, daß er seine dichterische Stimmung nicht nur an den gleichgesinnten schwäbischen Dichtern, sondern in erster Linie an Goethe immer wieder zu vertiefen und zu erweitern suchte. Das alte Evangelium und Goethe waren es nach seinem eigenen Bekenntniß, die ihn aus der stillen Selbstzufriedenheit des elässischen Particularisten, aus der schlichten, zum guten Theil in der Vergangenheit wurzelnden Heimathpoesie hinausführten in die Weite jener Gesinnung, die Zeit und Ewigkeit zu umspannen sucht. Seine Sympathie gehörte schon damals, so sehr ein Theil seines Daseins in der Liebe zum Elsaß wurzelte, den geistigen Bewegungen Deutschlands; mit lebhaftem Interesse verfolgte er die politischen Einheitsbewegungen jenseits des Rheins. Seine theologischen Humoresken „Krekelborn und Hüsterlö“, die in Nancy autographirt erschienen, wandten sich scharf gegen den Buchstabenglauben jeder [463] Richtung, forderten die Freiheit theologischer Forschung und eine schärfere Herausarbeitung der Gegensätze, weil erst nach ihrer klaren Erkenntniß der allumfassende Geist der Liebe sie mit einander versöhnen kann. Seit der Revolution von 1848, während deren Verlauf er den Dingen in Deutschland aufmerksam folgte, wandte sich sein Interesse zunächst ganz dem religiösen Leben und der theologischen Forschung zu. Schleiermacher und Hegel hatten ihn ganz in ihren Bann gezogen, und seine beiden bedeutenden Arbeiten: „Der deutsche Christus“, Leipzig 1854, ein Gedicht in 14 Canzonen, das Jacob Grimm zur Einführung seines Verfassers in Deutschland mit einem schönen Vorworte versah; und „Einleitende Grundlagen zu einem Neubau der Religionsphilosophie“, Leipzig 1855, wagten den kühnen Versuch, die religiösen Empfindungen Schleiermacher’s mit dem Systeme Hegel’s durch einen individuell-sittlich bestimmten, von Fichte stark beeinflußten Mysticismus zu einer geistigen Einheit zu verschmelzen und so den Gebildeten seiner Tage gegenüber der negativen Strauß-Feuerbach’schen Kritik eine sichere Grundlage zum Aufbau ihres religiösen Lebens zu bieten. Beide Schriften wurden leider nicht so bekannt, wie sie es nach ihrer geistigen Tiefe und individuellen Eigenart verdienten; der irreligiöse, ganz politisch gerichtete Zug der Zeit ging an der Geistesarbeit eines Mannes uninteressirt vorüber, der alles aus Religion zu verstehen suchte und den alle Begebenheiten zur Religion, d. h. zu Gott hinführten als Ausflüsse seines eigenen Wesens. Unserer heutigen Wiederbelebung des religiösen Lebens haben sie viel zu sagen; ihre Forderungen weisen einen Ewigkeitsgehalt auf, der in die reale Erscheinungswelt umgesetzt werden muß.

1858 bewarb sich C. um die erledigte Pfarrstelle der reformirten Gemeinde zu Odessa; der Fürsprache des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. von Hessen gelang es, die Wahl durchzusetzen, und bereits im September siedelte er nach seinem neuen Bestimmungsorte über. Der Wechsel brachte es mit sich, daß die bereits in Nancy fertiggestellten „Mes griefs contre ces Messieurs par Madame la Logique“ erst 1862 zu Paris erschienen. Das in seiner dialektischen Schärfe ganz von Hegel beeinflußte Buch war dazu bestimmt, seinen französischen Volksgenossen die sittliche Hoheit und Tiefe des religiösen Gefühls zu offenbaren, die den ganzen deutschen Idealismus beseelten; C. wollte durch diese Arbeit ein Mittler sein zwischen den beiden Völkern, mit denen er körperlich und geistig verwachsen war. Allein auch in Frankreich fand seine ideale Denkungsart keine Anhänger, und er wandte sich nunmehr ganz dem deutschen Leserkreise zu. Sein „Evangelium aeternum. Religiöse Betrachtungen für Gebildete“, Leipzig 1866, verkündete den Zeitgenossen das alte Evangelium, aber in neuer Entwicklung, in enger Verbindung mit dem geistigen Leben des deutschen Volkes der Gegenwart. Die politischen Ereignisse dieses Jahres, die Auseinandersetzung zwischen Preußen und Oesterreich und die Begründung des Norddeutschen Bundes führten C. ganz auf die deutsche Seite; er sah in diesen Thatsachen die Verkörperung des Idealismus, seine nothwendige Folge. Die 1867 zu Leipzig erschienenen „Neuesten Göttergespräche“ – künstlerisch das schwächste, was er geschrieben hat – bekundeten seine unabhängige geistige Gesinnung und seine politische Urtheilsfähigkeit. Ein Besuch in der Heimath brachte ihm die herbe Einsamkeit inmitten seiner alten Freunde zum Bewußtsein. Bitter enttäuscht kehrte er nach Odessa zurück; alle Erfolge, die ihm dort in einer reich gesegneten Thätigkeit beschieden waren, konnten seinem Herzen keinen Trost bieten für die Erkenntniß, daß sein Elsaßland von den großen Erfolgen Deutschlands völlig unberührt geblieben war, daß das Interesse der Freunde für ihre Muttersprache nur litterargeschichtlich, [464] nicht von der heißen Sehnsucht und den großen Erlebnissen der eigenen Seele und der deutschen Lande bestimmt war. Eine Hoffnung, sein persönliches Schicksal durch eine Berufung als ordentlicher Professor der Theologie nach Greifswald an Preußen zu binden, zerschlug sich leider. 1869 erschien in Leipzig eine neue Sammlung seiner poetischen Muse: „Vermischte Gedichte“. Seine Seele sehnte sich nach dem schönen Lande der Vogesen zurück, „um so mehr – so schrieb er seinem Verleger S. Hirzel am 15./27. September 1868 aus Odessa in prophetischer Stimmung – da ich zuversichtlich hoffe, daß mein Heimathland, das liebe Elsaß, in nicht allzuferner Zeit wieder dem deutschen Reichskörper angehören wird.“

Mit welcher Spannung dieser Mann den elementaren Ereignissen der Jahre 1870/71 entgegensah und sie verfolgte, braucht nicht gesagt zu werden; jubelnd begrüßte er es nach der Einnahme von Straßburg, daß nun sein Elsaß für alle Zeit deutsch sei. Er selber sollte die Heimath nicht wiedersehen. Am 16. Juli 1872 raffte ihn der Tod zu Feodosia in der Krim hinweg; hart spielte sein tragisches Geschick dem Manne mit, der dazu berufen schien, in der geistigen Wiedergewinnung des Elsasses eine führende Rolle einzunehmen. Sein Lebenswerk blieb auf die geistige Arbeit beschränkt, die er geleistet hatte; es war ihm nicht beschieden, sie in die That umzusetzen; geistig-religiös und politisch harrt sie noch heute in Altdeutschland und im Elsaß ihrer Vollendung.

Die erwähnten Arbeiten von Candidus selbst, dazu sein umfangreicher Briefwechsel mit Jacob Grimm und den elsässischen Freunden. – E. Martin, Candidus, eine biographische Skizze im Jahrbuch für Geschichte, Sprache u. Litteratur Elsaß-Lothringens, II. Jahrg., Straßburg 1866 (eine Würdigung seiner litterargeschichtlichen Bedeutung). – E. Müsebeck, Zwei Briefe von G. Zetter und Th. Klein an Karl Candidus, Straßburger Post 1905, Nr. 375. – E. Müsebeck, Ein Brief von Renan an Karl Candidus, Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1905, Nr. 201. – G. Müsebeck, Karl Candidus, ein Lebensbild zur Geschichte des religiös-speculativen Idealismus und des deutsch-elsässischen Geisteslebens vor 1870 (unter Benutzung des ganzen Nachlasses). München 1909.

[462] *) Zu Bd. XLVII, S. 433.