ADB:Öhem, Gallus
Nikolaus v. Wyle, in dessen Eigenschaft als Comes Palatinus, 1464 vollzogenen Legitimation ein uneheliches Kind eines Priesters, studirte Oe., laut seiner Immatriculation, 6. Mai 1461, an der Hochschule zu Freiburg. 1464 heißt er – „alias Martin cognomine“ – Baccalaureus der freien Künste und Cleriker der Diöcese Constanz. 1481 ist er Priester und Caplan in Radolfzell, [180] der Stadt, nach der er sich in der Freiburger Matrikel schrieb (de Cella Ratolfi), und 1488 und 1489 hat er da die sogenannte Abtspfründe inne. Wohl nicht lange nach 1491, wo Abt Martin, Freiherr v. Weißenburg, die Regierung von Reichenau antrat, verfaßte Oe. seine „Widmung“ der Chronik des Gotteshauses Reichenau an diesen Abt, aus welcher hervorgeht, daß er als Caplan dieses Klosters bei seinem höheren Alter und eingetretener Krankheit durch eben diesen Abt des Amtes der Predigt und des geistlichen Hofgerichts entbunden worden sei. Zu dieser Zeit – 1496 war er an der chronikalischen Arbeit – wohnte Oe. wohl auf der Insel; doch ist er kaum, wie nach einem Bilde auf dem ersten Blatte der besten (Freiburger-) Handschrift der Chronik (doch nicht der Originalhandschrift) geschlossen werden könnte, der Tonsur nach, selbst Benedictiner gewesen. Denn schon ehe Oehem’s Gönner, Abt Martin, starb (5. September 1508), war er nach Constanz übergesiedelt. Nicht als Caplan des St. Stephansstiftes daselbst, wie Graf Wilhelm Wernher v. Zimmern, der Schreiber der dem Range nach zweiten Donaueschinger-Handschrift, behauptet, sondern als Caplan des St. Andreas- und St. Sebastians-Altars am Domstifte, dazu als Besitzer eines Hauses, lebte Oe. in der dem Kloster benachbarten Hauptstadt des Bisthums. 1511 wird er ein letztes Mal genannt. Ob er hier noch seine Arbeit an der Chronik fortsetzte, ob der Tod ihn hinderte, sein Werk abzuschließen, wissen wir nicht. – In der „Widmung“ seiner Chronik versichert Oe., daß seine Vorderen – 1447 ist als Caplan des Abtes Friedrich ein Hans Oheim genannt – und er selbst von dem Kloster viele Gnaden, Ehren und Gutes genossen hätten; er wolle nun nicht ein dürres Glied sein und den ihm von Gott verliehenen Pfennig nicht vergraben: so habe er sich entschlossen, da Berufenere das leider nicht gethan, aus Liebe zum Gotteshause, dessen Geschichte zu schreiben. Dergestalt wurde noch ganz am Ende des Mittelalters durch Oe. für das in früheren Jahrhunderten geistig höchst wirksame Kloster des Walafrid Strabo und des Hermannus Contractus nachgeholt, was vorher versäumt worden, die Abfassung von Casus, um von dem auf dem Boden der Hausgeschichte so hervorragend bethätigten Nachbarkloster St. Gallen die Bezeichnung herüberzunehmen. Die deutsch, und zwar in ausgeprägt schwäbischem Dialekte, geschriebene Chronik, erst 1866, durch Barack, als 84. Band der „Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart“ im Druck herausgegeben, ist eine für ihre Zeit ganz bemerkenswerthe historiographische Leistung. Formell hat das Werk, besonders in den ungewandt aus dem Lateinischen übertragenen Stücken, nichts ausgezeichnetes; doch ist es von sittlichem Ernste erfüllt, von dem Wunsche getragen, angesichts des eingetretenen Verfalles durch die Vorführung der früheren blühenden Verhältnisse den Mitlebenden ein Beispiel vor die Augen zu rücken, und sehr anzuerkennen ist der auf die Sammlung und Verarbeitung eines ausgedehnten Materiales angewandte Fleiß. Oe. zog theils alle im Reichenauer Archive liegenden Urkunden heran; theils kannte er eine Anzahl von geschichtlichen Quellen, die er citirt – so die Vita Pirminii, die Translatio Sanguinis Domini, Regino’s Chronik, Burchart’s Gesta abbatis Witigowonis, Hermannus Contractus und Bertholds Fortsetzung, u. A. m. – oder mittelbar heranziehen kann. Freilich fehlte es ihm an historischen Vorkenntnissen und an kritischer Sonderung, und in der Hauptsache ist sein Arbeiten ein compilatorisches. In drei Büchern suchte er seine Aufgabe zu bewältigen. Der erste Theil soll nach der „Vorred“ von den Stiftern handeln, bringt aber nach der Gründungsgeschichte noch die Benennung der Reichenau zugetheilten Besitzungen und Ortschaften, sowie der Einkünfte, und eine Beschreibung der Insel mit allen ihren Heiligthümern; der zweite, weit der umfangreichste, führt den Aebten nach die Geschichte des Klosters bis in das 15. Jahrhundert, bricht aber unvollendet schon bei Abt Friedrich [181] Wartenberg, welcher 1428 die Abtei antrat, ab. Der dritte Theil, wieder viel kürzer, das „Schiltbuoch“, ist im Texte sehr dürftig, und enthält 507 zwar nicht durchgängig ausgefüllte Wappenschilde der Aebte und Conventherrn, von Fürsten, Grafen, Edeln, Lehensleuten, und anderer Personen. In erster Linie ist Oehem’s Chronik selbstverständlich Klostergeschichte, und da bringt er für die älteste Zeit, bis auf Walafrid Strabo, und weiter von der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts an doch manche einzelne wichtige Nachrichten, die ohne ihn nicht erhalten wären. Daneben aber tritt er zeitweise auch auf die allgemeine Geschichte ein, und hier ist es sehr erwünscht, daß er im längsten dieser eingeschalteten Stücke eine sonst nur noch in der Continuatio Casuum s. Galli, vom dritten Fortsetzer, herangezogene verlorene Quelle, St. Galler Annalen, über die Jahre 1077 bis 1093, ausgebeutet hat, so daß aus der Continuatio und aus Oe. der Versuch einer Reconstruction dieser Jahrbücher gemacht werden konnte (durch den Verf. d. Art. in „Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit“, Zehntes Jahrhundert, Bd. XI, S. 252–266).
Oehem: Gallus, geb. wahrscheinlich zu Radolfzell wohl im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts, † wahrscheinlich zu Constanz nicht lange nach 1511, Chronist des Klosters Reichenau. Nach der von dem späteren würtembergschen Kanzler- Vgl. neben Barack’s „Schlußwort“ zur Ausgabe (S. 182–194) besonders Osk. Breitenbach: Die Quellen der Reichenauer Chronik des Gallus Oehem und der historische Werth dieses Werkes (im Neuen Archiv d. Gesellsch. f. ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. II. 1877, S. 159–203), ferner Notizen von Barack und von M. Gmelin in den „Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung“ , Heft I, 1869, S. 125–129, u. Heft IX, 1879, S. 115–120.