Textdaten
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Autor: Marie Bernhard
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Titel: „Um meinetwillen!“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33–41, S. 549–554, 565–570, 581–586, 597–602, 613–618, 629–634, 649–654, 682–686, 699–703
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[549]

„Um meinetwillen!“

Novelle von Marie Bernhard.
1.

Die verwitwete Generalin von Guttenberg, Excellenz, saß ganz allein in ihrem Wohnzimmer und strickte an einem Wohlthätigkeitskamisol. Sie wunderte sich darüber, daß sie da so ganz allein saß; denn die alte Dame bekam sehr viel Besuch, sie hatte einen ungewöhnlich großen Umgangskreis, und jedes Mitglied desselben verwöhnte sie durch Rücksichten und Aufmerksamkeiten aller Art. Mein Gott, die alte Excellenz! Der mußte man schon ein wenig den Hof machen – sie war so sehr reich, so sehr wohlthätig, gab so prachtvolle Gesellschaften, war gastfrei über die Maßen und hatte eine ganz reizende Enkeltochter! War’s ein Wunder, daß die gute, die beste Gesellschaft der mitteldeutschen Garnisonstadt B. so viele schätzenswerthe Eigenschaften auch anerkannte und über manche kleine Marotte ein Auge zudrückte? Es war ja ein bißchen komisch, wie weit die alte Dame in ihrer Vorliebe für das Militär ging, wie sie eigentlich ihren ganzen Verkehr nur dort suchte und Leute vom Civil in ihrem Hause mehr nur duldete, wie sie emsig die Rang- und Quartierliste studierte, überall Bescheid wußte und von ihren „Adjutanten“ verlangte, daß sie ihr von jeder Versetzung, jeder Beförderung, jedem Abschied oder „Wink von oben“ sofort Rapport abstatten sollten … aber man mußte es ihr verzeihen! Der ganze Staat hatte kaum noch eine so durch und durch militärische Familie aufzuweisen wie die der Generalin von Guttenberg. Ihr Vater war ein hoher Offizier gewesen, seine Vorfahren hatten samt und sonders des Königs Rock getragen, ebenso wie seine Söhne, die frühverstorbenen Brüder der Excellenz – und bei den Guttenbergs war es ähnlich gewesen. Was wunder also, wenn es auch jetzt im Hause der Witwe tagüber fast nur von Säbeln rasselte und von Sporen klirrte und wenn die willkommenen Gäste dem Militärfanatismus der Excellenz willig Rechnung trugen! Daß die Enkelin die Ueberlieferung des Hauses Guttenberg nicht Lügen strafen und nur einen Offizier heirathen durfte, stand bei allen fest, welche die Verhältnisse nur einigermaßen kannten, und seit kurzer Zeit glaubte „man“ auch bereits zu wissen, wer der Auserkorene sei, der den beneidenswerthen Posten eines „allerersten Adjutanten“ der Generalin und des Gatten ihrer Enkeltochter zu erhoffen habe

Inzwischen saß nun aber die alte Dame immer noch in aufrechter, ehrfurchtgebietender Haltung auf ihrem Sofa und strickte an ihrem Kamisol. Sie hätte sich dabei recht gut unterhalten können – aber es war niemand dazu da.

Die Generalin schüttelte mißbilligend den Kopf, legte die Strickerei beiseite und schraubte an der Lampe. Es wurde nun heller in dem großen Raum mit den glänzenden Mahagonimöbeln, die methodisch aufgereiht an den Wänden umherstanden. Die Excellenz setzte einen Trumpf darauf, daß sie sich jeden Luxus der neuesten Mode gönnen könnte und es dennoch nicht thue. Nichts von Erkern, Butzenscheiben, schräg gerückten Causeusen und Eichenschnitzerei! „Meine Eltern haben mir diese Möbel als Ausstattung mitgegeben, und damals galten sie für schön; mein seliger Mann hat gern auf den Stühlen und Sofas gesessen, und meine Gäste können dasselbe thun. Wem es nicht elegant genug bei mir aussieht, der kann da bleiben, wo er ist!“ Die geräumigen Zimmer mit den blumigen Tapeten und den alten Bildern an den Wänden schreckten aber niemand zurück, die Jugend fand im Gegentheil, es lasse sich bei der Generalin vortrefflich tanzen.

[550] Wollte man dem tonangebenden Zeitgeschmack huldigen, so konnte man sich zu der Enkelin begeben, die drei Zimmer besaß, die sie nach ihrem Sinn ausgestattet hatte. Hierin ließ ihr die Großmutter ganz freie Hand. Die beiden Damen bewohnten das große, etwas nüchtern und alltäglich aussehende Haus, an das sich ein hübscher alter Garten anschloß, ganz allein – wozu sich mit Miethern herumplagen, wenn man es nicht nöthig hat! Es war sehr still da draußen. In die vornehme Villenstraße verirrte sich nur selten ein Miethwagen, und die Pferdebahn führte gar nicht hindurch; höchstens rollte rasch und leicht einmal eine Equipage vorüber.

Ein unfreundlicher Novemberabend, der nassen Nebel und schauernde Kälte mit sich brachte, senkte sich rasch herab. Die Exeellenz läutete zweimal mit einem altmodischen silbernen Glöckchen. Eine robuste, grauhaarige Person mit weißer Faltenschürze und einem Brusttuch von schneeigem Batist trat ins Zimmer – sie war vor langen Jahren bei der jungen Frau Major als Jungfer gewesen, hatte dann einen Kunstschlosser geheirathet und war nach beiderseits erfolgter Verwitwung als Haushälterin zu ihrer einstigen Herrin zurückgekehrt.

„Exeellenz befehlen?“

„Eigentlich gar nichts, Kanapé“ – diesen merkwürdigen Namen hatte der verblichene Kunstschlosser geführt. „Ich wundere mich, daß heute niemand kommt. Sie können sich mit Ihrer Arbeit hierher zu mir setzen – ich langweile mich!“

„Wenn Exeellenz etwas lesen möchten –“

„Nein, will ich nicht! Diese neuen Bücher sind nichts für mich – und meine Palzow und meinen Gutzkow kann ich beinah’ auswendig! So wie die schreibt heutzutage kein Mensch mehr! Kommen Sie nur mit Ihrer Handarbeit!“

„Zu Befehl!“

Frau Kanapé machte Kehrt und kam nach einer Minute mit einer aus Streifen gehäkelten Bettdecke wieder.

„Noch immer die ewige Decke? Sie kommen immer nicht damit vom Fleck! Für unsere Armen arbeiten Sie gar nichts, Kanapé!“

„Das thun Frau Generalin ja schon! Die Decke ist für mich.“

„Christlichen Sinn haben Sie nicht für einen Pfennig!“

„Excellenz haben so sehr viel – dagegen komm’ ich doch nicht auf!“

Die alte Dame richtete sich noch gerader auf und strickte geschwind an dem Kamisol weiter. Das Wohlthätigkeitsthema war ein streitiger Punkt zwischen ihr und der braven Haushälterin.

Längeres Schweigen. Im Zimmer nebenan verkündete eine Kuckucksuhr die sechste Stunde.

„Wundern Sie sich denn nicht, Kanapé, daß heute kein Mensch kommt?“

„Gar nicht, Exeellenz. Unsere jungen Herren und Damen, die sind heute alle auf der Polterabendprobe, wo auch unser gnädiges Fräulein ist, und die alten Herrschaften – ja, denen ist das Wetter zu schlecht. Draußen hängt alles dick voll Nebel, und naß fällt es – und windig ist es auch – und schmutzig ist es auch!“

„Pfui, das ist ja eine widerliche Schilderung! Aber um halb acht soll mein lieber Divisionsprediger zu mir kommen, und der hält Wort, da sei das Wetter so schlecht, wie es wolle. Sagten Sie etwas, Kanapé?“

Die Hanshälterin hatte etwas von „Geldholen“ gemurmelt, verneinte aber die Frage entschieden.

„Schlag sieben muß Martin mit dem Kutscher hinfahren, um das gnädige Fräulein aus der Probe abzuholen!“

„Sehr wohl Excellenz! Martin weiß das schon.“

Die Generalin seufzte. Die Unterhaltung mit der Kanapé erwies sich wieder einmal bedenklich unfruchtbar. Manche Leute priesen ja so sehr die Stille und Einsamkeit, aber sie, die Excellenz, war eine gesellige Natur, sie konnte das Alleinsein nicht vertragen. Doch jetzt – schellte es da nicht draußen? Die alte Dame hob den Kopf und lächelte ganz hoffnungsvoll. Gottlob, da kam jemand!

Martin klopfte diskret und kam auf leisen Sohlen ins Zimmer. „Herr Professor Gregory bitten um die Ehre –“

„Sehr erfreut, lasse bitten! Kanapé, verschwinden Sie!“

Es war nun zwar niemand vom Militär in Sicht, sondern nur ein Civilist, einer von den „Geduldeten“, aber immerhin einer von denen, welche die Generalin gern sah. Sie hatte eine ihr sehr liebe Kousine besessen, die einen Oberstabsarzt geheirathet hatte und mit ihm weit wegversetzt worden war. Nach langen Jahren kam die Nachricht ihres Todes, dann starb auch ihr Gatte und hinterließ einen einzigen Sohn, Paul, der alte Sprachen studierte und ein strebsamer junger Mensch war. Vor ungefähr sechs Jahren hatte er sich in B. an der Universität als Professor habilitiert. Man sagte in wissenschaftlichen Kreisen Gutes von ihm; er hatte weite Reisen unternommen, ein ganz tüchtiges Buch, „Beiträge zur koptischen Grammatik“, herausgegeben und betheiligte sich jetzt an einem Wörterbuch, von welchem die Eingeweihten mit großer Anerkennung sprachen. Der Generalin von Guttenberg hatte er bald nach seiner Ankunft in B. seinen Besuch gemacht und war von der Taute freundlich empfangen worden, aber zu einem herzlichen Verkehr hatte es nicht kommen wollen. Die beiden Naturen blieben einander innerlich fremd – die Anschauungen und Interessen des Professors wurzelten in der Wissenschaft, und für das vorwieged militärische Element im Hause der Tante fehlte ihm jedes Verständniß. Die alte Excellenz wiederum fand es jammerschade, daß ein so stattlich aussehender, leiblich wie geistig gut beanlagter Mensch nicht die militärische Laufbahn eingeschlagen habe; sie konnte es der Kousine wie dem Oberstabsarzt nicht verzeihen, daß sie diesen einzigen Sohn nicht zum Offizier gemacht hatten – er könnte jetzt schon Hauptmann erster Klasse sein, dicht vor dem Major! Statt dessen trug er nun den schwarzen Gelehrtenrock! Doch selbst in diesem hätte Gregory bei den zahlreichen Gesellschaften im Hause der Generalin eine Rolle spielen können, wenn dies irgendwie seine Absicht gewesen wäre. Aber nichts davon! Nachdem er sich ein paarmal diese an sich so amüsanten und lustigen Feste angesehen hatte, schlug er jede Einladnug zu größeren Zusammekünften beharrlich aus und erklärte auf Befragen ganz offen, er finde kein besonderes Vergnügen an solchen Gesellschaften und ziehe es vor, dann und wann allein zur Tante Excellenz zu kommen. Allzu oft geschah auch das nicht; doch herrschte bei dieser Gelegenheit stets ein freundlicher Ton zwischen der Generalin und ihrem Neffen – sie hatten beide ein gewisses, ein wenig herablassendes Wohlwollen füreinander, das völlig entgegengesetzten Stimmungen entsprang. Im übrigen war der Professor durchaus kein Stubenhocker und Bücherwurm, er hatte in einigen Familien Verkehr, war dort ein gern gesehener Gast, besuchte zuweilen Konzerte und Theater und konnte, falls ihn jemand anzuregen oder zu fesseln verstand, ein recht brauchbarer Gesellschafter sein. Heute nun, an diesem unerfreulichen Novemberabend, waren ihm seine Unterlassungssünden gegen die Generalin schwer aufs Gewissen gefallen; er konnte sich gar nicht entsinnen, wann er zuletzt bei ihr gewesen war, und wußte nur noch, damals war’s prächtiges Wetter gewesen und man hatte miteinander im Garten gesessen. Wenn die alte Dame jetzt böse war, hatte sie allen Grund dazu.

Auf seinem Wege zum Sofa der Tante wurde der Professor durch Frau Kanapé aufgehalten, die rasch aus dem Zimmer wollte und in ihrem Eifer, fortzukommen, zuert das Baumwollknäuel, dann den Häkelhaken, endlich die ganze Bettdecke zur Erde fallen ließ. Der neue Gast bückte sich einmal über das andere und hob alles ritterlich auf, die Haushälterin stammelte Entschuldigungen und Dankesworte, die Generalin trommelte ungeduldlg mit den Fingern auf den Tisch.

Endlich waren Tante und Neffe allein.

„Also Du lebst wirklich noch, mein lieber Paul?“ fragte die alte Dame in ironischem Ton und litt es etwas ungnädig, daß der Professor ihr die Hand küßte.

„Ich lebe, liebe Tante, aber ich ersterbe in Ehrfurcht angesichts Ihrer strengen Miene. Ich müßte untröstlich sein, wenn ich mir nicht sagen würde, daß diese Ihre Entrüstung etwas Schmeichelhaftes für mich hat.“

„Schmeichelhaft? Laß doch hören!“

„Ich bin sehr lange nicht bei Ihnen gewesen, Sie sind mir deshalb böse. Sie wären mir aber nicht böse, wenn Ihnen nicht einiges an meiner Person liegen würde, und wenn das der Fall ist, kann ich Sie auch leicht versöhnen.“

„Eine sehr bequeme Logik! Gegen Deine Professorenberedsamkeit kommt eine alte ungelenke Frau wie ich freilich nicht auf. Also setz’ Dich dahin und sage, was Du solange getrieben hast!“

[551] „Ich habe gearbeitet, liebe Tante.“

„Immer?“

„Fast immer.“

„Du bist in acht Wochen nicht bei mir gewesen! Dein letzter Besuch datiert vom dreiundzwanzigsten September.“

„Daß Sie sich so genau den Tag gemerkt haben, Tante –“

„Du willst wohl wieder geschmeichelt sein? Nichts da – mir ist gerade danach zu Muth! Wärst Du nicht heute endlich erschienen, dann hätte ich die Kanapé zu Dir geschickt und um Deinen Besuch bitten lassen, denn ich habe mit Dir zu reden. Das scheint Dich sehr in Erstaunen zu setzen, wie?“

„Gewiß, liebe Tante! Sie haben soviel junge und alte Freunde, die Ihnen näher stehen als ich –“

„Deine Schuld allein! Du hättest den Posten eines nahen Freundes sehr gut bei mir haben können, aber Du wolltest ja nicht. Schlugst alle meine Einladungen beharrlich aus, verschmähtest meine Gesellschaften –“

„Ich bin kein Tänzer, Tante, wenigstens kein leidenschaftlicher, ich passe auch nicht zu all den Offizieren –“

„Aha, nun kommt es! Sind Dir meine Lieutenants etwa nicht gut genug?“

„Bin ich es ihnen denn?“

„Du würdest es sein, wenn Du ein wenig entgegenkommender wärest!“

„Ich warte darauf, daß die Herren Militärs dies mir gegenüber sind!“

„Da kannst Du allerdings lange warten, mein guter Paul! Wie in aller Welt kannst Du verlangen, daß ein Offizier einem Civilisten entgegenkommt?“

„Liebe Tante, wir kommen vom Thema ab. Ich könnte Ihnen allerlei antworten, allein ich weiß, meine Ansichten würden Sie nicht in den Ihrigen irre machen und Ihnen persönlich keine Freude bereiten. Ich bin aber nicht hierhergekommen, um Ihnen unangenehme Dinge zu sagen. Sie wollten gern mit mir sprechen ...“

„Ja – über eine Sache, welche Du als gänzlich Unbefangener besser beurtheilen wirst als alle meine Adjutanten, die mehr oder weniger persönliches Interesse daran haben. Es betrifft meine Enkelin!“

„Soll sie sich verloben?“

„O ja, sie soll schon – wenn sie nur will! Das ist’s eben. Wie beurtheilst Du sie eigentlich?“

„Wenn ich offen sein darf – gar nicht, Tante. Ich habe sie meist nur in größerer Gesellschaft und äußerst flüchtig gesehen. Ich habe kein Studium aus ihr gemacht, ich kenne sie nicht!“

Die Generalin sah den Sprecher unwillig an. Konnte das ein Mann über ein reizendes junges Mädchen sagen?

„Du wirst doch einen Eindruck von ihr gewonnen haben! Du kennst sie seit fast sieben Jahren –“

„Ich habe sie oft gesehen, aber ich muß wieberholen: ich kenne sie nicht. Natürlich habe ich einen Eindruck von ihrer Persönlichkeit, ob sie jedoch eine Individualität ist, weiß ich nicht. Mir ist sie als eine lebhafte, übersprudelnd heitere und genußfähige Natur erschienen.“

„Genußfähig – das ist das Richtige!“ rief die Generalin, das Wort beifällig herausgreifend. „Das war sie, wie selten ein junges Mädchen! Es konnte ja nicht ausbleiben, daß die Kleine als einziges Kind, das sie war, und so früh schon elternlos, gehörig verwöhnt wurde; sie hörte von allen Seiten, sie sei eine Erbin, sei hübsch, begabt, liebenswürdig, und was weiß ich sonst noch alles! Ich habe immer gezittert, ihr könnte der Kopf verdreht werden. Aber nein, das geschah nicht. Ebenso, wie das kleine Ding von sechs Jahren sich über seine Puppe, seinen Weihnachtsbaum freute und ausgelassen vor Glück im Zimmer herumtanzte, genau in dem Maß konnte das erwachsene Mädchen über ein neues Ballkleid, über eine Schlittenfahrt, über einen hübschen Theaterabend jubeln. Nichts Blasiertes, nichts Uebersättigtes in ihr! Das sprühte und loderte nur so von Jugendübermuth und Lebenslust! Sie hat das von ihrer Mutter geerbt. Leider war diese nur keine Militärfrau – sie klagte oft über den Zwang, den der ganze Zuschnitt des in unseren Kreisen herrschenden Verkehrs ihr auferlegte, sie fügte sich gar nicht mit guter Art hinein – und auch hierin ist ihr bedauerlicher Weise die Kleine ähnlich. Wenn es nicht unerhört klänge, ich würde sagen, sie wage es zuweilem sogar mir gegenüber, sich über das Ceremoniell, das unter dem Militär herrschst und über die dort regierenden Standesrücksichten lustig zu machen!“

Die Excellenz sah den Neffen herausfordernd an und wünschte sichtlich eine kräftige Mißbilligung dieses Frevels. Seine Lippen zuckten ein wenig unter dem starken braunen Schnurrbart, aber er sagte nichts.

„Offen dürfte sie mir mit solchen Kindereien natürlich nicht kommen, ich würde das aufs strengste rügen – ich habe sie mehr im bloßen Verdacht damit als Tochter ihrer Mutter. Im ganzen konnte man mit der Kleinen zufrieden sein, sie wirbelte immer wie ein hübscher Schmetterling um mich herum –“

„Nun – und jetzt wirbelt sie nicht mehr?“

Die Generalin seufzte.

„Sie hat sich verändert, sie ist nicht mehr dieselbe wie früher. Vieles, was ihr bis vor kurzem noch die größte Freude bereitete, ist ihr jetzt gleichgültig, sie macht zuweilen Bemerkungen von einer Bitterkeit, die mich förmlich erschreckt – ich bitte Dich, dies harmlos frohe, glückliche, verwöhnte Kind, das jeder liebt und hätschelt, und Bitterkeit! Sie hat früher gar nicht gewußt, was das war, und jetzt spricht sie zuweilen in einem Ton, mit einem Gesichtsausdruck, daß es zum Erschrecken ist. Dann wieder eine fieberhafte Lustigkeit, ein Jagen nach Unterhaltung, ein Taumel von einem Vergnügen ins andere! Und immer, ob ich nun die Apathie oder die Aufregung rüge, dieselbe Antwort: ‚Ach, es ist ja doch alles eins, Großmama! Es ist ja alles gleichgültig – so oder so!‘ Was kann das zu bedeuten haben, Paul?“

Dem Professor war diese Auseinandersetzung ziemlich einerlei – was gingen ihn launenhafte junge Mädchen an?

„Nehmen wir an, sie hat sich verliebt!“ sagte er kaltblütig und strich sich den Bart.

„Verliebt? Paul, ist das ein Ausdruck, den man auf ein wohlerzogenes junges Mädchen, die Tochter aus gutem Hause, anwendet? Verlieben kann sich die nächste beste Mamsell – eine Freiin von Guttenberg thut so etwas nicht! Allerdings dachte auch ich, Annaliese hätte vielleicht ein ernstlicheres Interesse, aber –“

„Nun, aber?“

„Aber ich bitte Dich, wer kann es sein? Ich beobachte sie scharf; sie hat gegen all die jungen Herren dasselbe unbefangene offene Wesen, das eine tiefe Neigung durchaus ausschließt – und wenn sie eine Zeitlang jemand ein wenig vorzog, dann war es höchstens Steinhausen.“

„Wer ist Steinhausen, Tante?“

Die alte Excellenz sah ihren Neffen halb mitleidig, halb entrüstet an. „Ist es möglich, Paul, daß Du wirklich so wenig in der guten Gesellschaft bewandert bist, um nicht zu wissen, wer Steinhausen ist?“

„Auf die Gefahr, mir Ihr Wohlwollen zu verscherzen, verehrte Tante, muß ich bekennen: ich weiß nicht, wer Steinhausen ist!“

Die Generalin ließ das gestrickte Kamisol aus den Händen gleiten und setzte sich mit Würde zurecht. „Konstantin Werner von Steinhausen ist aus sehr alter und guter Familie – noch älter und besser als die der Guttenbergs, was nicht wenig sagen will. Der Vater war Generalmajor, wäre noch höher gekommen, starb aber verhältnißmäßig jung; ein Onkel war Gouverneur des Prinzen Gisbert, der Großvater Generalfeldmarschall. Die Steinhausens sind ausgezeichnete Soldaten und fähige Köpfe gewesen, ich weiß ihre ganze Stammtafel auswendig, sie ist hochinteressant und sehr rein, die ersten Geschlechter des Landes sind mit ihnen verschwägert. Ein Steinhausen, Ernst Eugen, hat eine Gräfin Neumark, sein Bruder sogar eine Fürstin Doßberg –“

„Und was ‚hat‘ nun der in Rede stehende Herr?“

„Der hat,“ fuhr die alte Aristokratin vollkommen ernst und unbeirrt fort, „die allergünstigsten Aussichten für die Zukunft. Mein alter Freund, Oberst von Heß, sagt, Steinhausen habe ganz das Zeug zum Generalstäbler; es dauert nicht lange, so wird er zum Generalstab abkommandiert. Er ist arm, aber das hat nichts auf sich, die gute Karriere ist ihm sicher. Ueberdies ein bildhübscher Mensch von den besten Manieren, vorzüglicher Gesellschafter und Tänzer – dichtet ganz reizend, ist ungemein beliebt bei allen Kameraden, die jungen Damen streiten sich um ihn –“

„Und Ihre Enkeltochter streitet nicht mit?“

„Sie schien ihn gern zu haben, bevorzugte ihn wenigstens vor den übrigen – und das ist kein Wunder; mit Steinhausen [552] hält keiner den Vergleich aus. Es ist wahr, er hat meine Kleine erst in letzter Zeit ausgezeichnet, eine Zeitlang hat er der Erna von Torsten stark den Hos gemacht – nun, das war der helle Wahnsinn, die Erna ist ja blutarm, eine von sechs Schwestern, der Vater pensionierter Major, und zwei Söhne – lächerlich! Ein schönes Mädchen sonst, und nichts gegen sie zu sagen! Steinhausen hat sich da vielleicht etwas fortreißen lassen, aber wie man mir von glaubwürdiger Seite berichtet hat und ich auch mit eigenen Augen gesehen habe . . . seit einiger Zeit ist das abgethan, und er wirbt mit einem Eifer, mit einer Hingabe um Annaliese . . . wirklich, ein reizender Mensch, ich würde ihm die Kleine gern geben. Aber es muß da irgend etwas dazwischen gekommen sein – früher sprach sie gern von Steinhausen, es gefiel ihr, wenn ich ihn lobte, sie stimmte mit ein; jetzt, sobald ich seinen Namen nenne, bricht sie kurz ab, und es ist ihr offenbar unangenehm, daß sie bei dem Polterabend der kleinen Wilma Frankenheim – sie heirathet ihren Vetter, den Frankenheim bei den blauen Husaren, die früher in Mainz standen – ja, daß sie also bei diesem Polterabend mit Steinhausen die Hauptrollen hat. Er dichtet und arrangiert die ganze Geschichte, und natürlich hat er es so einzurichten gewußt, daß er bei all den Aufführungen von Annaliese beinahe unzertrennlich ist. Anfangs war sie damit sehr einverstanden, jetzt scheint es ihr zuwider zu sein – aus welchen Gründen, mag Gott wissen!“

„Hat Ihre Enkelin kein Vertrauen zu Ihnen, Tante?“

„Gott, lieber Paul, Du hast doch auch keine Ahnung von jungen Mädchen, keine Spur von Verständniß! Wie wird denn ein dummes kleines Geschöpf von kaum zwanzig Jahren eine alte Frau von siebenundsechzig zu ihrer Vertrauten machen? Fällt ihr ja nicht im Traum ein! Sie würde eher mit jedem beliebigen anderen darüber sprechen als mit mir!“

„Wenn Sie Annaliese von ihrer frühesten Kindheit an gewöhnt hätten, alles mit Ihnen zu theilen, wenn Sie sich in ihre Anschauungen hineingelebt hätten, wäre es ganz und gar nicht unmöglich, daß sie Ihnen offen ihre Gedanken sagen würde.“

„Du bist als Professor der alten Sprachen ohne Zweifel ganz an Deinem Platz, lieber Neffe, man hört ja nur Gutes von Dir, wenn man sich nach Dir erkundigt – aber, ich muß wiederholen: was junge Mädchen betrifft – nein, ist das nun wieder eine Idee von Dir! Ich hätte mich in die Anschauungen eines siebenjährigen Kindes hineinleben sollen, denn so alt war Annaliese, als sie zu mir ins Haus kam! Wie sollte ich denn das angreifen?“

„Wenn Sie es nicht wissen, liebe Tante, kann ich es Ihnen nicht sagen – aber darf ich wohl fragen, warum Sie mir all diese Eröffnungen machen, wenn Sie doch meiner Kenntniß der Verhältnisse und meinem Verständniß dafür so ganz mißtrauen?“

„Himmel, ich wollte es mir vom Herzen herunter reden, und ich sagte Dir ja schon, mit meinen Offizieren kann ich das unmöglich besprechen; die sehen die Kleine immer mit Steinhausen zusammen, und es wäre des Beobachtens und Spionierens kein Ende, abgesehen davon, das die Männer immer indiskret und plauderhaft sind.“

„Sollte das nicht eine ganz neue Behauptung sein?“

Mir ist sie nicht neu, ich spreche aus Erfahrung.“

„Und ich soll eine schmeichelhafte Ausnahme bilden?“

„In diesem Fall, ja! Du bist in keiner Weise persönlich betheiligt, Du gehörst nicht zu den Anbetern der Kleinen und willst gar nichts von ihr haben, daher bist Du unbefangen . . . fährt nicht ein Wagen vor? Das wird sie sein! Wundere Dich nicht, sie ist im Zigeunerkostüm, es ist heute Generalprobe zu dem Polterabend gewesen. Acht Paare bilden ein Zigeunerlager, singen aus ‚Preciosa‘, führen einen phantastischen Tanz auf, dann tritt eins von den jungen Mädchen – eben Annaliese – an die Braut heran und wahrsagt ihr aus der offenen Hand. Alles Steinhausens Idee, er hat auch das Gedicht verfaßt – ganz reizend, sage ich Dir! Ja ja, das ist die Kleine! Sitz’ still, Paul, beobachte sie, frag’ sie, wenn Du kannst, unbefangen aus über Steinhausen – ich hoffe, ich kann Euch nachher allein lassen –“

Die letzten Sätze sprach die Generalin hastig; mit halber Stimme, die Augen gespannt nach der Thür gerichtet, die in den Gang führte. Der Professor war unruhig auf seinem Sessel hin- und hergerückt, ihm war nicht behaglich zu Muth. Was sollte ihm das? Wenn er es nicht verstand, junge Mädchen zu beurtheilen – und er glaubte das der Tante aufs Wort – warum zog sie ihn denn bei einer Gelegenheit, wie diese es war, heran? Das Gebiet war ihm fremd, der Gegenstand interessierte ihn nicht, er wünschte, er säße zu Hause bei seinen Büchern.

Inzwischen hörte man im Gang einen lauten Schlag auf ein Tamburin und feines Schellenklingen, dazu eine lachende Mädchenstimme.

Dann flog die Thür auf.


2.

Professor Gregory kam viel schneller von seinem Sitz in die Höhe, als er beabsichtigt hatte, er sprang geradezu auf, Das war denn doch ein ganz eigenartiges lebendes Bild.

In ihrem blitzenden funkelnden Gewand, aus schweren Seidenstoffen und Stickereien zusammengesetzt und reich mit Steinen und Flittern übersät, stand das junge Mädchen einen Augenblick im Rahmen der Thür. Die Bezeichnung „Kleine“ stimmte nicht zu der hochgewachsenen, ein wenig schmächtigen Gestalt, und doch hatte Annaliese von Guttenberg ein Kindergesicht – ein elfenbein- blasses süßes Gesichtchen war’s, mit großen, länglich geschnittenen Augen von unbestimmt schillernder Farbe und einem üppigen Mund, der sehr übermüthig lächeln konnte, wie eben jetzt. Eine feine Stirn, ein kurzes Näschen und dunkles Haar – alles in allem ein Typus, der an Gesichter erinnert, wie Gabriel Max sie zu malen liebt.

Wenn die Generalin davon gesprochen hatte, die Stimmung ihrer Enkelin wechsle zwischen großer Apathie und fieberhafter Ausgelassenheit, so sah man auf den ersten Blick: heute herrschte die letztere vor! An dem jungen Geschöpf sprühte alles, die Augen lachten mit den weißen Zähnchen um die Wette, und der Anblick des Professors schien diese Lustigkeit noch zu steigern.

„Mein Herr Gevatter, gewiß und wahrhaftig! Es geschehen Zeichen und Wunder! Was bedeutet unserem armen Hause diese seltene und unerwartete Ehre? Darf die arme Zingarella sich die Freiheit nehmen, dem hohen Gast die Zukunft zu weissagen?“ Sie glitt mit demüthig gesenkten Augen, die Hände über der Brust gekreuzt, ins Zimmer und blieb vor dem Professor stehen, der das reizende Geschöpf mit offenkundigem Wohlgefallen ansah. Der Tausend, Steinhaufen, oder wer es sonst war, hatte Glück! Mochte sie nun launisch oder verwöhnt oder kokett sein . . . bildhübsch war sie auf alle Fälle!

„Ach, Kleine, nun laß Deine Faxen sein – setz’ Dich noch ein Weilchen zu uns, bevor Du Dich umkleidest, und erzähl’, wie es gewesen ist!“

Die alte Excellenz rief das halb ermahnend, halb lachend – ihr Blick weidete sich auch an dem liebreizenden Wesen.

„Liebe Excellenz-Großmama, wie soll’s denn gewesen sein? Immer derselbe Zauber! ‚Himmlisch, entzückend – Annaliese, Du siehst zum Küssen aus!‘ – ,Mein guädigstes Fräulein, Sie überstrahlen wieder einmal alle!‘ – ‚Gnädigste Baroneß sprechen die Verse weitaus am besten!‘ – ‚Fräulein von Guttenberg führt ihre Pas am graziösesten aus!‘ – ‚Das herrlichste Kostüm ist doch wieder das Ihrige‘ – ach Gott, genug, genug, ich hab’s satt bis hier!“ Sie fuhr rasch mit dem Zeigefinger an den weißen Hals. „Und dazu nichts zu essen, nichts, nichts!“ fuhr sie in kläglichem Ton fort und machte die Augen weit auf, wie jemand, der mit Gewalt etwas entdecken möchte; „Horndorffs, bei denen die Probe war, haben so viele schöne Sachen und Bilder – ach, und Meißener Porzellan und Silber und Majolikaschalen, und nichts zu essen drauf, nicht das kleinste Schinkenbrötchen, nicht die dünnste Theewaffel – und uns hat gehungert, gehungert! Einer hat immer heimlich den anderen gefragt, ob er denn nicht zufällig was zu essen mit hätte, und wie der kleine Hansi von Stumpf zwei kleine Chokoladetäfelchen in seinem Ueberrock entdeckt hat, da haben wir uns fast geprügelt um die zwei Täfelchen und haben den kleinen Hansi beinahe zerrissen. Und wie’s dann noch ans Tanzen ging, und es kam immerfort noch nichts zu essen, da sind wir alle so hoch gesprungen vor Hunger!“

„Annaliese!“ rief die Generalin ermahnend.

’s ist doch wahr, Großmamachen! Und der Ballettmeister hat uns so gelobt und hat gesagt, ’s wär’ eine Verve diesmal in unserem Tanz und ein Schwung wie noch nie! Hat gut reden! Federleicht waren wir schon, und mit dem leeren Magen ist gut springen – wie ein Gummiball!“

„So laß Dir doch die Kanapé etwas zu essen besorgen!“

„Ist schon bestellt! Was denkst Du denn? Ich hab’ statt ‚Guten Abend‘ zur Kanapé ‚Butterbrot‘ gesagt!“ Sie ließ sich [554] erschöpft in einen Stuhl sinken und benutzte ihr Tamburin als Fächer, um sich Kühlung zuzuwehen.

Der Professor sah das Mädchen mit einem ganz neuen Interesse an. Es war ihm bisher nie eingefallen, die Großtochter seiner Tante Guttenberg zum Gegenstand seiner Beobachtung zu machen. Sie war ihm wie ein hübscher Luxusgegenstand erschienen, der selbstverständlich in den Besitz irgend eines Offiziers übergehen würde, das war alles gewesen. Als er vor mehr als sechs Jahren nach B. gekommen war, hatte Annaliese knapp dreizehn Jahre gezählt – ein kleines schnippisches Ding, das sich um keinen Preis dazu verstehen wollte, ihn Onkel zu nennen, wie die Generalin es wünschte. Paul seinerseits hatte sofort den Ton ihr gegenüber verfehlt, er wußte mit kleinen Mädchen nichts anzufangen, nannte Annaliese mit feierlicher Ironie „mein gnädiges Fräulein“ und machte ihr seine tiefste Verbeugung, was die Kleine, die längst klug genug war, aus diesem Benehmen den Spott herauszufinden, sehr ungnädig stimmte. Fragte Gregory sie gar nach ihren deutschen Aufsätzen, oder erbot er sich, ihre Rechenaufgaben nachzusehen, so nahm sie das vollends übel und drehte ihm ohne Antwort den Rücken. Es kam bald dahin, daß sie davonlief, sobald er erschien, und daß, wenn der Zufall ihn dennoch in ihre Nähe führte, er das verwöhnte kleine Fräulein gar nicht beachtete. Als Annaliese erwachsen war, hörte dieser Kriegszustand auf, sie trafen hin und wieder in einer Gesellschaft zusammen, und einmal hatte jedes von ihnen in einer bekannten Familie ein Pathenamt. Von dieser Taufe, die einen sehr lustigen Verlauf genommen hatte, stammte die Bezeichnung „Herr Gevatter“ und „Gnädigste Gevatterin“ her, mit der sie sich seitdem gegenseitig beehrten. Doch kam es sehr selten dazu, da der Professor das lebenslustige junge Dämchen fast nie bei seiner Tante antraf; jetzt vollends war fast ein Jahr verstrichen, seitdem er sie zuletzt gesprochen hatte – sie war ihm nur zuweilen auf der Straße „unter militärischer Bedeckung“, wie er das nannte, begegnet. Er hatte sie dann jedesmal sehr hübsch aussehend gefunden – aber heute, heute –

„Herr Gevatter, worüber grübeln Sie so angestrengt? Ich hoffe, Sie sind nicht hergekommen, um hier an Ihr entsetzliches Lexikon zu denken!“

Gregory lachte.

„Nein, gewiß nicht! Und ich kann Ihnen mein Ehrenwort geben – wenn Sie anders dasjenige eines Mannes, der kein Kavalier ist, gelten lassen – daß das, was ich dachte, weit entfernt von einem Lexikon war.“

„Warum sollte ich Ihr Ehrenwort nicht gelten lassen? Halten Sie mich doch nicht ohne weiteres für dumm und abgeschmackt – Sie kennen mich ja gar nicht!“

„Annaliese, ist das ein passender Ton für ein junges Mädchen?“

„Entschuldige, Großmama – mit einem Menschen, der am Verhungern ist, muß man nicht zu streng rechten. Kommen Sie, Kanapé, stopfen Sie mir den losen Mund!“

Die Haushälterin näherte sich mit einer Tablette, auf der eine Flasche Wein und ein Teller mit appetitlich belegten Brötchen stand.

„Halten Sie mit, Herr Professor? Allein bewältige ich das nicht!“

„Wenn Sie gestatten! Liebe Tante, darf ich Ihnen ein Glas Wein eingießen?“

„Danke, Paul! Es ist nicht meine Zeit; Du weißt ich lebe nach der Uhr. Eßt und trinkt nur ohne mich!“

Annaliese warf das Tamburin auf den Teppich, daß die Schellen laut klingelten, und biß hastig in ein Kaviarbrötchen. Die Großmutter fragte sie in kurzen Pausen nach verschiedenen Dingen, die heutige Kostümprobe betreffend, die Enkelin antwortete, und der Professor spielte den Beobachter.

Er stellte zunächst fest, daß die alte Excellenz recht gehabt hatte mit ihrer Behauptung, das junge Mädchen schwanke beständig zwischen bitterer müder Gleichgültigkeit und flackernder Erregung hin und her. Schon jetzt in der kurzen Zeit ließ sich das feststellen. Die sprühende Lebendigkeit, die sie bei ihrem Eintritt zur Schau getragen, erlosch ganz plötzlich, ein kleines nachdenkliches Fältchen schob sich zwischen die dunkeln geraden Brauen, die quecksilberne Beweglichkeit ließ nach – lässig schmiegte sich der Körper in das Polster des Sessels, das Lachen verstummte, und selbst die Stimme klang anders als zuvor, leiser und tiefer. Es war ersichtlich, irgend ein Erlebniß beschäftigte das junge Wesen innerlich ganz und gar und nur durch Zwang, indem sie sich selbst einen Ruck gab, kam sie in ihren alten Ton, in die Außenwelt zurück. Annaliese hatte eine Art, die großen Augen halb zu schließen, die ihrem jungen Gesicht einen seltsam weichen, träumerischen Reiz gab, und gerade das bildete einen anziehenden Gegensatz zu ihrem sonst so lebhaften Mienenspiel. Ihre langen, sehr dichten Wimpern warfen einen geheimnißvollen Halbschatten auf die blassen Wangen – sie hatte ein ganz neues Antlitz, wenn man sie so sah.

Eine ganze Weile blieb sie so, während die Generalin, durch irgend eine Bemerkung des jungen Mädchens angeregt, lebhaft sprach; offenbar beging Annaliese die Sünde, gar nicht hinzuhören, sie ließ die alte Dame einfach reden und träumte tiefsinnig vor sich hin – worüber? Es war dem Professor doch nicht mehr so ganz einerlei, er hätte es schon wissen mögen. Ihn reizte dieser auffallende Gegensatz zwischen der anfänglichen übermüthigen Lustigkeit und diesem nachdenklichen Ernst. Er verglich die beiden weiblichen Gesichter miteinander. War eine Aehnlichkeit da? Er fand keine heraus. Die alte Excellenz, wie sie dasaß mit ihrem eisgrauen, schlicht gescheitelten Haar und den regelmäßigen, etwas strengen Zügen, mußte in ihrer Jugend ein ganz anderer Typus gewesen sein. Sie hatte ihm oft gesagt, ihr verstorbener Sohn, Annaliesens Vater, sei ganz ihr Ebenbild gewesen – also glich das Mädchen wohl ihrer Mutter, und diese hatte sich schwer in die vorgeschriebenen Formen des militärischen Lebens gefügt – hm, ja!

„Herr Divisionsprediger Berghold!“ meldete Martin mit seiner leisen ehrerbietigen Stimme.

„Sie haben ihn nebenan in mein Arbeitskabinett geführt, wie ich Ihnen sagte?“

„Zu Befehl, Excellenz!“

„Es ist gut. Ich bin bald wieder da, unsere Unterredung wird nicht lange dauern. Paul, Du leistest wohl meiner Enkelin solange Gesellschaft?“

Der Professor verbeugte sich stumm. Die Generalin warf ihm noch einen verständnißinnigen Blick zu und rauschte würdevoll – sie trug stets Schleppkleider aus dem Zimmer, dessen Thür sie sorgfältig hinter sich schloß.

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 34, S. 565–570

[565] Annaliese nickte, als die alte Excellenz verschwunden war, dem Professor mit einem etwas boshaften Lächeln zu. „Ordre pariert, Herr Gevatter! Aber das kommt Sie heillos sauer an!“

„Sehe ich so sauer aus?“

„Ein bißchen – ja! Aber schadet nichts! Ich hab’ heute so viele Männer anschauen müssen, die süß aussahen, daß das Gegentheil einen gewissem Reiz für mich hat. Und wenn Sie die Großmama mitsamt ihrem Auftrag ins Pfefferland wünschen –“

„Auftrag?“

„Glauben Sie denn, ich hab den Blick nicht bemerkt, den sie Ihnen zuwarf – so bedeutungsvoll, so beredt! Sie will irgend etwas haben, was mit mir in Zusammenhang steht – was es sein kann, weiß ich nicht. Und dazu kam ihr der Divisionsprediger eben recht. Und nun sitzen Sie da und denken: was soll ich mit diesem aufgeputzten Ding in seiner unmöglichen Zigeunertracht anfangen? Ich kenne sie nicht, sie kennt mich nicht – ich bin hier ganz und gar nicht an meinem Platz und wollte, ich säße wieder zwischen meinen vier Wänden! Dachten Sie das nicht?“

Der Professor wiegte lächelnd den Kopf ein wenig hin und [566] her, sah dann mit einem offenen freien Blick, der seinem angenehmen Gesicht sehr gut stand, das junge Mädchen an und sagte: „Ungefähr so!“

Annaliese bog sich ein wenig vor und reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand. „Das ist recht, Sie sind ehrlich. Ach, wenn ich wüßte, daß Sie wirklich ganz, ganz ehrlich sind, dann möchte ich wohl –“

„Nun? Dann möchten Sie wohl?“

„Bitte, lassen Sie mich ein kleines Weilchen in Frieden! Ich muß erst nachdenken, ob das, was mir da eben durch den Sinn fuhr, auch geht.“

Sie lehnte sich tief in den Sessel zurück und drückte von neuem die Augen halb ein. Es blieb eine Zeitlang ganz still im Zimmer, nur ab und zu knisterte der Atlas an Annaliesens Kleid, wenn sie eine leichte Bewegung mit ihrem geschmeidigen Oberkörper machte. Aus dem Kabinett nebenan hörte man deutlich eine gedämpfte Männerstimme, sowie den sonoren Alt der Generalin.

„Ja, ich denke, es wird doch gehen,“ sagte endlich Annaliese langsam, aus ihren Gedanken heraus. Sie stützte den Ellbogen auf die Tischplatte und schaute den Professor mit einem langen prüfenden Blick ganz unbefangen an. „Warum sollte ich auch nicht? Was ist’s denn weiter? Und gerade, um Ihnen zu zeigen, daß Ihr Wort mir etwas gilt, trotzdem Sie kein sogenannter Kavalier sind! Dieser Unsinn übrigens! Als ob es das thäte! Aber Ihr Wort müssen Sie mir natürlich geben. Es ist so schlimm für mich: ich möchte jemand haben, der mir mit seinem Rath und Urtheil in einer sehr wichtigen Sache hilft, und da finde ich niemand, weder unter meinen Freundinnen, noch unter meiner ‚Garde‘ – ach, Sie wissen nicht, wer das ist – das sind Großmamas Hausfreunde, ihre Adjutanten – die sind alle zu sehr betheiligt, zu persönlich in ihrer Auffassung . . . es muß ein ganz Unbefangener sein, dem ich Vertrauen schenken soll!“

„Gerade wie die alte Excellenz!“ dachte Gregory für sich. „Freuen wir uns unserer Unpersönlichkeit und Unbefangenheit!“ Laut setzte er hinzu: „Und Sie haben von mir die gute Meinung, meine gnädigste Gevatterin, daß ich Ihnen mit meinem Rath und Urtheil nützen könnte?“

„Ich denke! Sie sind doch ein erfahrener Mann! Wie alt sind Sie?“

„Ich bekenne mich zu dem ehrwürdigen Alter von sechsunddreißig Jahren.“

„Sechsunddreißig? Das ist noch gar nicht ’mal so sehr alt. Und Erfahrungen werden Sie doch auch haben!“

„Es käme darauf an, was Sie darunter verstehen.“

„Ach!“ Annaliese zuckte ungeduldig die Achseln, „Menschenkenntniß und das alles!“

„Hm! Vielleicht nicht so viel, als Sie glauben. Ich lebe im ganzen ziemlich still für mich –“

„Soll das heißen, daß Sie also nicht wollen?“

„Nein, das soll es nicht heißen. Ich will ganz entschieden – nur möchte ich nicht, daß Sie sich übertriebene Vorstellungen von meiner Weisheit machen.“

„Ich werde mir Mühe geben – aber nun, wann und wo? Jetzt ist keine Möglichkeit dazu, Großmama kann jede Minute ins Zimmer zurückkommen, und die darf nicht einmal ahnen, um was es sich handelt.“

„Habelt Sie kein Vertrauen zu ihr?“

„Ich? Zu Großmama? Jetzt kommt es mir selbst so vor, als hätten Sie wenig Erfahrung und Menschenkenntniß, Herr Gevatter! Großmama hat nie mein Vertrauen haben wollen, sie wüßte überhaupt gar nicht, was damit anfangen – sie wäre die Letzte, der ich damit käme!“

„Aber sie hat Sie doch lieb.“

„Ganz lieb – ja – wie man solch ein verwaistes Enkelkind nicht umhin kann, liebzuhaben. Aber ich möchte einmal in meinem Leben ganz anders geliebt werden, als wie Großmama mich liebt!“

Ehe der Professor dazu kam, zu dem letzten Satz, der ihm sehr einleuchtete, seine unbedingte Zustimmung zu geben, öffnete sich die Thür und die Generalin sah herein.

„Annaliese, der Herr Divisionsprediger hat die Liste zu Unterschriften für den Kirchenbau in Unjamwesi gebracht. Wieviel soll ich in Deinem Namen zeichnen?“

„Nach Deinem Belieben, Großmama! Soviel Du willst!“

Es hatte sehr gleichgültig geklungen, Annaliese sah ungeduldig aus.

„Thun Sie das nicht gern?“ fragte Gregory, als sie wieder allein waren.

„Nein; gar nicht! Diese Art von Wohlthätigkeit läßt mich ganz kalt. Ich bitte Sie: Kirchenbau in Unjamwesi! Was hab’ ich davon? Ich werd’ ihn nie zu sehen bekommen. Wenn Großmama mich machen ließe, wie ich wollte, ich würde andere Wohlthaten ausüben, ganz andere. Ich wollte selbst zu Leuten gehen, die ich kenne, und denen Geld bringen und Sachen und ihre Kinder beschenken. Aber ich darf das nicht. Da heißt es, es sei unsauber und häßlich bei den armen Menschen – ja, ich glaub’ das schon, wie soll es denn anders sein in ihrer Noth? Und für die Enkelin der Excellenz von Guttenberg schicke sich das nicht, in solche Stuben zu gehen – höchstens erlaubt Großmama, daß ich ’mal unserer Wäscherin und unserer ehemaligen Köchin etwas bringe, aber die wissen dann im voraus, daß ich komme, und haben sich sanber angezogen und ihre Wohnung aufgeräumt. Die sind auch gar nicht so arm, die verdienen ein ganz gutes Stück Geld und kennen kein Elend, und wenn ich da mit dem Wagen vorfahre, das paßt mir nicht und paßt auch nicht für die Armen – zu Fuß aber darf ich nicht. Und nun kommt mir Großmama mit dem Kirchenbau in Unjamwesi! Ich bin vor einem Vierteljahr mündig gesprochen worden – Großmama hat das durchgesetzt, es handelte sich um allerlei dumme Vermögensgeschichten – nun fragt sie mich der Form halber; aber sie weiß recht gut, wie einerlei mir das ist. Ich klage meine Großmutter nicht an bei Ihnen, das denken Sie nur ja nicht – sie ist nur aus einer anderen Zeit wie ich und auch aus einem andern Stoff. Warum sehen Sie so verwundert aus? Sagen Sie offen, was Sie eben dachten; ich will das wissen!“

„Ich dachte, daß Sie ganz anders seien, als ich annahm.“

„Und was nahmen Sie – nein, nein, die Antwort erlasse ich Ihnen, ich kann sie mir gut genug vorstellen! Aber nun unsere Unterredung! Morgen ist der berühmte Polterabend, die Hochzeit übermorgen, also Sonnabend – was meinen Sie? Großmama hat da ihre Kartenpartie von alten Damen, und Sie kommen auf ein Stündchen in meine kleine Wohnung hinüber!“

„Wenn Tante Excellenz nichts dagegen hat –“

„Wie sollte sie? Ich habe oft drüben Besuch – Sie kennen ja auch meine Zimmer noch gar nicht. Können Sie abends sieben Uhr da sein?“

„Sie haben nur zu befehlen!“

„Das glauben Sie ja selbst nicht – warum sagen Sie es also? So feierlich und ironisch waren Sie schon vor Jahren zu mir, als ich noch ein kleines Mädchen war, und das hat mich immer geärgert.“

„Es thut mir jetzt sehr leid, Sie geärgert zu haben. Werden Sie mir das glauben?“

„Wenn Sie dieses Gesicht dazu machen – ja! Doch da kommt Großmama! – Ich habe Deinen Neffen, Herrn Prosessor Gregory, ersucht, Sonnabend meine Wohnung in Augenschein zu nehmen und ein Stündchen mit mir zu plaudern. Du hast nichts dagegen?“

„Durchaus nicht, mein Kind. Ihr trinkt dann abends den Thee mit mir und meinen Gästen. Du willst fort, lieber Paul?“

„Es ist die höchste Zeit für mich! Auf Wiedersehen, verehrte Tante – Sonnabend um sieben Uhr, meine gnädigste Gevatterin!“

Die Generalin lächelte dem Professor huldvoll zu, als er ihr die Hand küßte, und flüsterte ein kaum vernehmbares: „Das trifft sich günstig!“

Annaliese hob ihr Tamburin vom Teppich auf und summte ein Liedchen vor sich hin.


3.

Am nächsten Tage spielte der Novembermonat den guten Einwohnern von B. bös zum Tanz auf. Am Himmel erschienen drohende dunkle Wolken, die sich alsbald in einem schweren Hagelwetter entluden. Die weißen Schloßen sprangen hoch empor auf dem Straßenpflaster und hüpften lustig klappernd auf den Fenstersimsen, zum Jubel der Kinder, die gar zu gern die langsam schmelzenden Körnchen einfingen; Auf den Hagelschauer folgten heftige Regengüsse, die der sausende Nordost eisig und scharf wie Stahl den Leuten [567] ins Gesicht peitschte. Ein trübes Dämmerlicht hüllte Menschen und Dinge in ein unerfreuliches Grau, die Dachrinnen sandten ganze Bäche trüben Wassers auf die Straßen und die Köpfe der Vorübergehenben herab, die Regenschirme troffen, und auf dem Asphalt hatten sich Hagel, Nässe und Staub zu einem zähen Brei vermischt, der das Gehen erschwerte und sich den Damen zudringlich an die Kleidersäume hing. November!

Paul Gregory hatte ein freundliches Quartier in der Weinbergstraße im Hause einer ältlichen Witwe, die ihm das Essen schickte und ihrem Mädchen gestattete, ihn zu bedienen. Sie waren beide wohl miteinander zufrieden, namentlich pries der Professor sein Geschick dafür, daß die Witwe vorzüglich kochte und durchaus nicht redselig war. Sie hatte schwere Schicksale gehabt und war eine stille, gedrückte Frau, die mit ihrem Miether nur gerade die nothwendigsten Fragen und Antworten austauschte, natürlich im allerhöflichsten Ton, und dabei waren beide durchaus befriedigt.

Heute hatte der Professor sich einen Arbeitstag vorgesetzt und sich selbst einen feierlichen Eid gelelstet, daß ihn bei diesem Wetter keine zehn Pferde aus dem Hause brächten. Er mußte an die Tante Excellenz und ihre Enkelin denken, die heute zum Polterabend mußten – aber sie besaßen ja Equipage, und wenn einer zu bedauern war, so konnte das höchstens Martin auf dem Kutschersitz sein. Wie reizend das junge Mädchen in dem phantastischen Zigeunergewand ausgesehen hatte! Paul konnte sich nicht denken, daß irgend eine der Mitwirkenden sie überstrahlte. Das war gestern eine rechte Augenweide für ihn gewesen. Und mit diesem Gedanken setzte er sich an seinen Schreibtisch und nahm sein Wörterbuch vor. Die Arbeit ging ihm gut von statten, sein Geist erlaubte sich keine Nebensprünge, und die Zumuthung, Mittag essen zu sollen, erschien ihm als eine störende Unterbrechung. Sein Arbeitszimmer war ebenso wie sein Schlafgemach sehr hoch und geräumig, dagegen der Salon, in welchem er Besuche empfing, nur klein und lange nicht so behaglich ausgestattet. Das kennzeichnete recht Gregorys Gesinnung: er hielt es für seine Gesundheit zuträglich, in einem großen Raum zu schlafen und für seine Arbeiten war ihm das beste Zimmer nur gerade gut genug, Besuche aber empfing er nicht allzu oft, er hielt das für eine Art Zeitverschwendung, da dabei selten etwas Förderliches oder Anregendes gesagt wurde – mochten die Leute mit dem engen Salon vorlieb nehmen!

Von hohen Büchergestellen sahen ihm die Klassiker alter und neuer Zeit bei seinen Arbeiten zu – ein kleines Exemplar des Homer lag, mit vielen Zeichen versehen, jederzeit handgerecht auf einem bestimmten Platz seines Schreibtisches. Er behauptete, er könne besser denken und schreiben, wenn er sich von Zeit zu Zeit eine Seite dieses seines Lieblingsschriftstellers halblaut vorlese. Ein vorzüglicher großer Stich der Rafaelschen „Schule von Athen“ hing zwischen zwei Bücherrepositorien, ihm gegenüber das „Abendmahl“ van Lionardo. Das Arbeitszimmer lag nach einem stillen Hof hinaus; kein Laut von außen störte die Sammlung des Gelehrten. Seinen Studenten, die er sehr liebte, that er die Ehre an, sie hier in seinem Allerheiligsten zu empfangen – Wein und Cigarren standen jederzeit für sie auf einem kleinen Nebentisch bereit. –

Am Tage nach dem Unwetter strahlte eine goldene Sonne hernieder; der Himmel leuchtete in prachtvollem Blau, als schämte er sich seines gestrigen Ungestüms, und ein mildes Lüftchen, das ganz und gar nicht an den November erinnerte, fächelte sanft die Gesichter der Menschen, wie eine schmeichelnde Abbitte.

Auch Gregory fand, er habe gestern fleißig genug gearbeitet, um sich heute seinen gewöhnlichen weiten Spaziergang zu gönnen, den er mit großer Regelmäßigkeit festhielt und ungern aufgab. Seine Weinbergstraße lag ein wenig abseits vom großen Verkehr, ein Vorzug, den der Professor sehr zu schätzen wußte.

Als er jetzt ein Stück Weges gegangen war, traf er einen seiner Studenten, einen nicht mehr ganz jungen Menschen, der ihm vermöge seines sicheren Wesens und seines hingebenden Eifers für die Wissenschaft besonders angenehm war. „Nun, wohin?“ redete er ihn an und faßte ihn pertralltich unter den Arm. „Haben wir vielleicht denselben Weg?“

„Ich – ja – ich weiß nicht, Herr Professor.“ – der Student war etwas verlegen – „nämlich, ich wollte in die Kirche –“

„Der Tausend! Das ist ja ein ungewöhnliches Ziel für einen Philosophen!“

„Ja, es ist dort eine Trauung – ein Offizier heirathet, und unter den Brautdamen sind Bekannte von mir, lauter hübsche Mädchen, die sieht man nicht alle Tage so beisammen –“

Gregory erinnerte sich nicht mehr des Namens, den ihm seine Tante genannt hatte, allein da dieser eben erwähnte Bräutigam ebenfalls Offizier war, ebenfalls heute getraut werden sollte, so war zehn gegen eins zu wetten, daß es dieselbe Hochzeit war, bei der Annaliese von Guttenberg eine Rolle spielte.

Zum großen inneren Erstaunen des Studenten erklärte sein Lehrer sich bereit, mit ihm zu gehen. –

Vor der Schloßkirche war eine große Menschenmenge versammelt. Am Hauptthor wimmelte es schwarz, und wie ein einziger Blick belehrte, war es ein auserlesen feines Publikum, das sich hier, der guten Sache zuliebe, geduldig stoßen und drängen ließ.

Gregory hatte bei diesem Anblick Lust, sofort wieder umzukehren, aber sein Begleiter, der hier gut Bescheid wußte, führte ihn gewandt nach einer schmalen, wenig beachteten Seitenthür, durch ein paar Nebengänge der gewaltigen Kirche und eroberte glücklich mit ihm zwei gute Plätze in ziemlicher Nähe des Altars. Auf die geflüsterte Frage des Studenten: „Ich kenne fast alle, darf ich ein wenig den Cicerone spielen?“ nickte der Professor, und gerade jetzt setzte auch die Orgel ein, und der Brautzug bewegte sich, blumenstreuende Kinder voran, vom Eingang nach dem Altar.

Offiziere, nichts als Offiziere! Und die Damen, alt und jung, meist feine aristokratische Gesichter! Viel Orden, viel echter alter Familienschmuck – große Perlen und funkenwerfende Brilllanten, antik gefaßt, modern gefaßt, in die Locken gestreut, an den Schultern blitzend! Ein eigenes raschelndes und zischendes Geräusch, das die vielen schweren Schleppen auf dem Fliesenboden machten – und wie sie die armen Blumen mit sich fegten, welche die Kinder hingestreut hatten!

Die Braut war ein niedliches Persönchen mit einem halb lustigen, halb neugierigen Vogelgesicht; jetzt freilich schritt sie mit sittsam gesenkten Wimpern und langsam feierlichen Schritten, die ihr bei ihrem sonst munter hüpfenden Gang sehr sauer werden mußten, am Arm des Vetters und bereits standesamtlich angetrauten Gatten einher. Dieser sah recht unbedeutend aus, trotz seiner hübschen blauen Husarenuniform, er hatte gleichfalls ein Vogelprofil – es war dies der Frankenheimsche Familientypus – und schaute fast grimmig ernst drein. Der rauschende Orgelklang, die Kirchenluft und der jetzt aus dem Chor vollstimmig einsetzende schöne Gesang ergriffen ihn sehr, er wollte aber seine Rührung unterdrücken und seiner kleinen Wilma ein Beispiel männlicher Selbstbeherrschung geben.

„Die erste Brautdame ist die Schwester des Bräutigams mit Hauptmann Schönhoff!“ fing Gregorys Begteiter seine geflüsterten Erklärungen an. „Dann der Bruder der Braut mit Komteß Witte. Drittes <paar: der Lieutenant von Steinhausen mit der jungen Baroneß Guttenberg – für mich sieht dies Paar eigentlich am besten aus – dann kommen die beiden Töchter des Oberst von Heß mit ihren Kavalieren – –“

Er fuhr fort, zu sprechen, und der Professor hörte ihm zu und ließ die Fluth all dieser Namen und Titel an seinem Ohr hingleiten. Annaliese von Guttenberg konnte er gut sehen, Steinhausen gleichfalls. Eine wirklich außergewöhnlich gute Erscheinung, dieser Steinhausen. Sein hoher Wuchs überragte alle übrigen, die Haltung war vornehm, die Brust breit, der Kopf klein, die ganze lichtblonde Schönheit sprach von der Rasse dieses Sprossen aus edlem Blut, und im Blick lag offenbar Intelligenz. Seine Dame war ganz in Weiß gekleidet, es gefiel dem Professor sehr, daß sie in einem so einfachen Kleide erschien – er wußte ja nicht, daß diese Schlichtheit für ein geübteres Auge den Stempel großer Kostbarkeit trug. Sie hatte keinen Schmuck, nur eine Ranke von blaßrothen Heideröschen tief von der linken Achsel quer über die Brust, und im dunklen Haar lag ein kleines Kränzlein von den gleiche Blüthen. Ihr Gesichtsausdruck war weder der ausgelassen fröhliche, noch auch der träumerisch liebliche, den Paul neulich an ihr beobachtet hatte. Sie trug heute den Kopf hoch und sah entschieden hochmüthig aus, eine Eigenschaft, die dem Professor immer zuwider war, mochte sie haben wer wollte, und von der er Annaliese gern freigesprochen hätte . . . er konnte sich aber den Ausdruck ihres Gesichtes nicht anders deuten, und es tröstete ihn wenig, daß sie dabei doch so reizend aussah. –

Auch seine alte Tante Excellenz entdeckte er, in starrem [570] violetten Brokat, das Kleid oben mit einer wundervollen Brosche geschlossen – ein Stück aus dem berühmten Guttenbergschen Diamantschmuck, der nun schon die vierte Generation sah. In der Nähe der alten Dame, die noch würdevoller als sonst dreinsah, bemerkte Gregory einen sehr schönen jungen Mädchenkopf; mehr als eben diesen Kopf vermochte er nicht zu sehen, es schoben sich zuweilen Uniformen dazwischen, aber es war der Mühe schon werth, dies Gesicht zu studieren. Es war tiefbrünett, mit prachtvollen sammetdunklen Augen, in denen ein ergreifender Ausdruck voll stiller Schwermuth lag, eine ganz selbstvergessene Trauer, die hier, inmitten all des Glanzes, um so rührender wirkte.

Der Prosessor legte seine Hand leise auf den Arm des Studenten. „Wer ist die junge Dame dort links am Pfeiler, in der Nähe der Generalin Guttenberg?“

„Ich nannte sie Ihnen schon, Sie haben es wohl überhört – die schöne Erna von Torsten, leider ebenso arm wie schön, und man sagt, diese Armuth soll sie um ihr Lebensglück bringen. Sie und Steinhausen sollen eine leidenschaftliche Liebe füreinander gehabt haben – Genaues weiß freilich niemand darüber.“

Ah, Erna von Torsten! Paul entsann sich jetzt. Eben diesen Namen hatte ihm die Generalin genannt, eben diese kleine traurige Geschichte ihm erzählt. Armes schönes Geschöpf! Und auch Steinhausen sah ernster aus, als ein so gefeierter glänzender Offizier es sonst, selbst in einer Kirche, zu thun pflegt – war es auch ihm schwer ums Herz? Er hatte unrecht gethan, dem jungen Mädchen, dessen Armuth ihm doch nicht unbekannt war, sein Gefühl zu zeigen . . . aber verzeihlich war es immerhin! Es muß hart sein, bei soviel Jugendreiz sein aufflammendes Herz streng im Zügel halten zu sollen, zumal, wenn man merkt, daß auch die Geliebte von der Leidenschaft ergriffen ist! Aber wie grausam dann für sie, verzichten zu müssen, wie grausam auch für ihn, der noch dazu hinzugehen hatte und um eine andere zu freien! Um welche andere? Um Annaliese von Guttenberg!

Der Professor faltete unmuthig die Stirn. Dazu ist die nun aber auch hundertmal zu schade! sagte er sich. Die könnte wohl ein ganzes Mannesherz zu besitzen verdienen, nicht bloß das Bruchstück, das eine andere für sie übrig läßt und das sich nothgedrungen ihr zuwendet, weil sie Vermögen hat und jene andere nicht! Und doch, trotzdem die alte Tante Excellenz das alles weiß, hat sie nichts dagegen, wenn dieser Steinhausen ihre Enkelin heirathet, im Gegentheil, es würde sie freuen, denn er hat ja einen alten Namen, ist hübsch und begabt, wird Karriere machen . . . was thut da das kleine Zwischenspiel mit dem armen schönen Mädchen, das er unglücklich gemacht hat? Die einzige Sorge der guten Großmama ist nur die, ob ihr Enkelkind auch nichts weiß und nichts glaubt von dieser „fatalen Liebesaffaire“ – hätte sie noch diese Gewißheit, so wäre sie sicher ganz glücklich! Ob Annaliese wirklich nichts davon wußte?

Es waren keine sehr heiligen Gedanken, die Gregory während des Orgelspiels und des Gesanges fesselten, aber ihm waren sie heilig. Denn nichts konnte doch wichtiger und ernster sein als das Lieben und Leiden von Menschenherzen, und darüber nachzusinnen schien dem Professor durchaus mit dem Ort, an dem er sich befand, im Einklang zu stehen. Immer von neuem schweifte sein Blick von Steinhausen zu dem schönen brünetten Mädchen, von diesem zu Annaliese von Guttenberg mit dem stolzen Gesicht, um zuletzt finster auf der alten Excellenz haften zu bleiben, die ihm mit ihren Standesideen und Vorurtheilen ganz mittelalterlich erschien.

Als die Feier beendet war, unternahm der Professor mit seinem Schüler noch einen weiten Spaziergang beim schönsten Wetter, und der junge Mann vertraute ihm unter anderem an, daß er eine adlige Kousine habe, die heute auch mit im Brautzug gewesen sei und der er seine Kenntniß der aristokratischen Kreise verdanke. Diese Meta von Thielen schien ihrem Vetter nicht ganz ungefährlich zu sein, er sprach längere Zeit lebhaft von ihr und erwähnte auch, daß sie eine Freundin von Annaliese von Guttenberg sei. Das sei ein reizendes, geist- und lebensprühendes Geschöpf – die alte Excellenz ziehe nur ihrem Jugendübermuth und ihrer Eigenart viel zu enge Schranken – Kousine Meta sage oft, es sei kläglich, zu sehen, wie Annaliese darunter leide und umsonst gegen alle die aufgezwungenen gesellschaftlichen Rücksichten und Fesseln ankämpfe, und es sei noch ein Glück, daß ihr Humor ihr immer von neuem darüber hinweghelfe.

Der junge Mann hatte keine Ahnung, daß der Professor ein Neffe der so scharf kritisierten alten Dame sei, und dieser that auch nichts dazu, ihn über den Sachverhalt aufzuklären. Die beiden kamen dann von diesen weltlichen Dingen auf ein neu erschienenes philosophisches Werk, das viel von sich reden machte, und Gregory lud seinen Schüler ein, ihn des Abends für ein paar Stunden zu besuchen, sie wollten dann einige Abschnitte des Buches gemeinsam lesen und den Inhalt durchsprechen.

*  *  *

Am nächsten Tag um sieben Uhr abends saß die junge Baroneß Guttenberg einsam in ihrem Salon und wartete auf den Professor. Die alten Damen hatten sich pünktlich um halb Sieben bei der Generalin zur Kartenpartie eingefunden, es war aber Sitte, daß Annaliese erst zum Thee um Acht erschien, um sich drüben zu zeigen, falls sie nicht auswärts war, was sie am Tage des Kartenkränzchens mit Geschick und Vorliebe einzurichten wußte.

Anstrengende Tage lagen hinter ihr. Die Proben, das Besorgen und Anprobieren der verschiedenen Kleider, der Polterabend, die Hochzeit, heute vormittag eine lange Debatte über die genossenen Vergnügungen bei den Töchtern des Oberst von Heß, die alle an den Festlichkeiten Betheiligten zu einem solennen „Damenfrühstück“ eingeladen hatten, bei welchem es so lärmend und aufregend zugegangen war wie auf dem polnischen Reichstag im „Demetrius“.

Aber einer so jugendfrischen Natur, wie Annaliese von Guttenberg es war, machten ein paar durchtanzte Nächte nichts, und wenn sie jetzt regungslos dasaß und, die Hände im Schoß, vor sich hinsann, so war es keineswegs körperliche Ermüdung, die sie so gebannt hielt. Sie dachte darüber nach, ob es nicht doch übereilt von ihr gewesen sei, sich heute den Professor Gregory herzubitten, um ihm Dinge mitzutheilen, die sie nicht einmal ihren Freundinnen anvertraute. Sie kannte ihn doch so wenig! Aber eben weil sie ihn wenig kannte, hatte sie gerade ihn gewählt – er würde ihr am besten unparteiisch rathen, vielleicht helfen können, und schließlich hatte sie ihm ja kein zartes Herzensgeheimniß zu beichten, höchstens eine begangene Indiskretion. Und was sie von fremden Angelegenheiten in ihrer Erzählung berühren mußte . . . lieber Gott, das wußten so viele, darüber sprach die halbe Stadt – da konnte es auch noch der Professor erfahren! Annaliese wußte sich nicht zu sagen, wie es kam, aber sie vertraute ihm ganz und gar. Er sah aus wie die verkörperte Ehrenhaftigkeit! Sie vergegenwärtigte sich seine statttiche Gestalt, den kühn getragenen Kopf mit dem vollen schlichten Haar, dem hübschen braunen Bart und den blauen Angen – wenn solch ein Mann einmal sagte: „Ich verspreche es“, oder: „Ich will Ihnen helfen“, dann hielt er auch Wort, es komme wie es wolle! Eigentlich hatte sie sich nie recht um ihn bekümmert, als Kind und Backfisch ihn sogar nicht leiden können – aber was that das? Er war nicht kleinlich, er trug ihr das schnippische Benehmen in keinem Fall nach, sie fühlte das. Sie hatten sich jetzt zusammengefunden – aus dem naseweisen kleinen Mädchen war eine vernünftige junge Dame geworden, da konnte man doch gut ein ernstes Wort miteinander reden. Außerdem war Annaliese ein wenig gespannt, zu erfahren, was denn die Großmama mit Paul Gregory über sie zu verhandeln gehabt hatte. Daß dem so war, darauf hätte sie schwören mögen, die alte Excellenz hätte es ihr sonst sicher nicht gestattet, den Professor in ihren Zimmern zu empfangen, während sie selbst drüben mit ihren Damen Karten spielte. Freilich hielt sie den Neffen wohl für ganz ungefährlich – ein Mann, der kein Offizier war, nicht den Adel besaß und die Grenze der Dreißig bereits seit einigen Jahren überschritten hatte, kam für die alte Generalin ihrer jungen Enkelin gegenüber gar nicht in Betracht. Aber herausbekommen mußte sie ein Komplott, das zwei so verschiedene Naturen, wie ihre Großmama und Professor Gregory es waren, gegen sie schmiedeten! Und ihm dies zu entlocken, schien ihr nicht schwer – er war kein Diplomat und augenscheinlich in gesellschaftlichen Ausflüchten und Kniffen, um nicht Lügen zu sagen, gänzlich ungeübt ... Gott sei Lob und Dank!

„Herr Professor Gregory, Baroneß!“

„Ich bitte!“.

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 35, S. 581–586

[581] Professor Gregory blieb ein Weilchen an der Schwelle stehen, verneigte sich vor Annaliese und sah sich mit Interesse im Zimmer um. Das war nicht nur ein vornehm, sondern auch ein charakteristisch ausgestatteter Raum, den er da vor sich hatte: schöne alte Gobelins verdeckten die Wände, die Teppiche und Portieren stimmten gut zusammen mit den Bezügen der Sessel und Diwans und bildeten ein schön abgetöntes farbiges Ganzes[.] Die Möbel schienen bequem und geschmackvoll, sie standen nicht jedermann im Wege, waren aber auch nicht steif wie die Soldaten an den Wänden aufgereiht wie drüben in den Zimmern der Generalin. In einer Ecke befand sich eine mannshohe Stehlampe, mit einem viereckigen rosenrothen Spitzenschirm verhangen; in der [582] zweiten grüßte von schwarzem Sockel herab eine reizende Psyche. Eine schöne alte Uhr tickte langsam auf dem Kaminsims, an den Fenstern standen große Gruppen köstlicher hoher Palmen.

Annaliese, die sich jetzt erhob, paßte in ihrem weichfließenden dunkelrothen Hauskleide vortrefflich in das hübsche Bild hinein. Beifällig waren des Professors Augen rundum gegangen, beifällig blieben sie jetzt auf dem jungen Mädchen haften.

„Gefällt es Ihnen bei mir?“ fragte sie erfreut.

„Sehr! Guten Abend!“ Er schüttelte ihr freundschaftlich die Hand. „Was haben Sie hier für ein schönes Bild? Darf ich mir’s ansehen?“

„Natürlich dürfen Sie! Ich will nur den Lampenschleier abnehmen, das rosa Licht wirkt ja ganz dumm auf dem Bilde.“

Es war eine ziemlich große Landschaft, „Vorfrühling“ betitelt. Nur hohe Bäume, ein klarer Wasserspiegel, und gerade hinaus ein Blick in die Ferne – aber wie war dies Bild gemalt! Welch eigenartig kristallene Luft, welch zartes, schüchtern hervorbrechendes Laub, wie silbern der zitternde Wasserspiegel, in dem das Abbild der Bäume schwamm! Ein einsamer Vogel schwebte mit weit gespannten Schwingen darüber, und in mattblauen Duft gebadet verdämmerte im Hintergrund die verlockende Ferne.

Gregory stand lange, in stilles Bewundern versunken. „Das haben Sie selbst ausgesucht? Oder bekamen Sie es zum Geschenk?“

Annaliese lachte. „Welcher Mensch wird mir denn ein solches Bild schenken! Nein, ich hab’ es gekauft, nach einem harten Kampf mit Großmama, die zuerst überhaupt nicht wollte, daß ich mir ein Gemälde anschaffe – sie fand es ganz überflüssig – und wenn es denn schon sein mußte, sollte es etwas ganz anderes sein; sie sagte, an diesem Bilde könne sie nichts finden. Aber diesmal setzte ich mein Stück durch.“

„Thun Sie das nicht meistens?“

„Ach nein! Mir widersteht es, mich immer und immer mit Großmama herumzustreiten, sie ist doch eine alte Dame, die Rücksichten beanspruchen kann, und auf ihre Art hat sie mich auch lieb und ist gut zu mir. Manches freilich muß ich haben, das fühle ich, und das setz’ ich dann mit Gewalt durch, aber angenehm ist die Aufregung dabei nicht.“

„Sie haben nur dies eine Gemälde im Zimmer, Ihre Großmutter betonte aber immer mit Stolz, Sie malten selbst sehr hübsch. Ich wundere mich, daß Sie nichts von Ihren Sachen hier haben.“

Das junge Mädchen sah etwas verlegen aus. „Es waren ein paar da bis vor kurzer Zeit,“ sagte sie zögernd. „Ich habe selbst bis vor einigen Wochen geglaubt, ich malte sehr hübsch – aber wer weiß, ob nicht meine Lehrer und die anderen alle mir auch das bloß vorerzählt haben, weil – weil – – ja, das gehört nun aber schon zu dem, was ich Ihnen heute erzählen wollte – kann es jetzt sein? Wollen Sie sich setzen?“

Ihr Gast gehorchte mit einer Verbeugung; sie deckte den rothen Spitzenschirm wieder über die Lampe und nahm dem Professor gegenüber in einem niebrigen Sessel Platz. Ein paar große Palmenwedel bildeten über ihrem Haupt ein natürliches Schirmdach.

„Hier habe ich Cigaretten und Portwein für Sie – so, bitte! Nein, nein, Sie müssen unter jeder Bedingung rauchen und trinken, ich will Sie ganz gemüthlich stimmen!“

„Und wenn ich das schon wäre?“

„Dann wird es eben noch gemüthlicher!“ rief sie fröhlich, goß sich selbst ein zierliches Weingläschen voll und stieß mit ihm an: „Auf gutes Zutrauen, auf treue Kameradschaft! Da haben Sie auch ein brennendes Zündholz!“

„Zu liebenswürdig!“ Gregory that ein paar kräftige Züge, blaue. Wölkchen schwebten empor. „Ich bin nun in der allergemüthlichsten Verfassung und bereit, milde und gerecht zu sein wie Nathan der Weise in Person!“

„Sehen Sie, jetzt spotten Sie schon!“

„Keineswegs! Aber Sie müssen mir einiges zugut halten, verehrte Gevatterin. Sehen Sie, ich bin ganz und gar nicht an den Umgangston mit jungen Damen gewöhnt. Als junger Mensch war ich meiner Sprachstudien halber viel auf Reisen, und da war es um weibliche Bekanntschaften schlimm bestellt – ich muß Ihnen das barbarische Bekenntniß machen, daß ich sie damals auch nicht schwer entbehrte; ich wollte studieren und that das wirklich mit Hingebung. Die erste Universitätsstadt, in der ich lebte, war klein, ich blieb dort nur kurze Zeit und hatte überdies Trauer, die mir die Geselligkeit verbot. Hier nun in B. habe ich außer mit ein paar unverheiratheten Kollegen und meinen Studenten auch in einigen Familien Verkehr, ich werde dort zuweilen freundlich eingeladen, spreche auch gelegentlich ohne Aufforderung vor – es sind vier Ehepaare: das eine ist kinderlos, das zweite hat nur Söhne, das dritte besteht aus zwei alten prächtigen Leuten, die nur noch eine einzige Tochter in recht reifen Jahren im Hause haben, das vierte Ehepaar ist jung und hat ein siebenjähriges Zwillingspaar ... Sie sehen, es blüht mir keine einzige junge Dame auf meinem gesellschaftlichen Lebensweg! Allerdings laden diese meine guten Bekannten mich auch zuweilen zu kleineren geselligen Vergnügungen ein – die zu den großen schlage ich grundsätzlich aus – und da bin ich denn auch gelegentlich Tischnachbar eines jungen Mädchens und finde mich so leidlich mit der Unterhaltung ab; aber das alles ist ungeheuer vereinzelt, ist kein Verkehr zu nennen – daher verzeihen Sie es mir nur, wenn ich recht oft etwas sage, was Ihnen in Form und Ton mißfällt –“

„Abgemacht!“ fiel sie ihm heiter ins Wort. „Ich werde Sie also auf Ihren Inhalt prüfen, Form und Ton soll möglichst nebensächlich sein! Nun weiß ich doch auch, warum Sie nie auf unsere Gesellschaften kamen – da Sie sogar bei Ihren Kollegen keine großen Feste besuchen, so ist es klar, daß Sie ein Feind davon sind.“

„Offen gesagt, ich glaube meine Zeit nützlicher anwenden zu können als mit Tanzen und Konversationmachen!“

„Ist man nur auf der Welt, um nützlich zu sein?“

„,Man‘ ist entschieden noch zu vielen anderen Dingen da – ein Professor der alten Sprachen aber, ein Mann von gesetzten Jahren, hat vorwiegend dies Ziel ins Auge zu fassen, und wenn er fühlt, daß er nützlich ist, so ist er auch glücklich.“

„Hm!“ Annaliese schüttelte zweifelnd den Kopf. „Das Glück, das aus der Nützlichkeit hervorgeht, scheint mir eine bedenklich duft- und farblose Blüthe zu sein. Aber darüber wollen wir nicht rechten. Wir zwei müssen grundverschiedene Ansichten haben, das liegt ja auf der Hand. Also zur Sache! Zunächst Ehrenwort und Handschlag auf volle Verschwiegenheit und volle Wahrheit!“

„Was für mich Wahrheit ist, will ich gern sagen; ob das auch für Sie das Wahre enthält –“

„Sie sollen mich ganz beiseite lassen und bei der Sache bleiben! Habe ich Ihr Wort?“

„Sie haben es!“

„Dann kann ich anFangen – aber womit so recht? Es ist nicht hübsch, immer von sich selbst zu sprechen, und doch muß ich das thun. Ich war bis vor kurzem ungeheuer vergnügt, immer, immer, trotz aller Reibereien mit Großmama. Meine ewige Lustigkeit müssen doch sogar Sie bemerkt haben!“

„Ich sogar – ganz recht!“

„Ich meine, weil Sie mich so selten sahen. Schauen Sie, Herr Gevatter, man verwöhnte mich sehr; überall, wohin ich kam, spielte ich die erste Rolle, man fand alles gut und schön, was ich sagte und that, und war ich recht übermüthig und ausgelassen, so hieß es, das sei lauter Geist und Originalität. Mir gefiel das sehr gut, ich war ganz damit einverstanden und dachte, so müsse es sein. Wenn darin eine große Anmaßung lag, so war ich mir dessen nicht bewußt. Warum sollte ich mir diese Verwöhnung und Schmeichelei nicht gefallen lassen? Ich kannte es ja gar nicht anders, und über die Quelle, den Ursprung dieser Thatsachen nachzudenken, das fiel mir nicht ein. So viele Menschen hatten mir gesagt, ich sei schön – ich fand mich eigentlich bloß hübsch, aber als es immer wieder hieß: ,die schöne Annaliese von Guttenberg!‘ da fing ich allmählich an, es auch zu denken. Finden Sie mich schön?“

„Nun, das ist doch eine sehr bedenkliche Frage! Meine persönliche Meinung –“

„Ja oder nein!“

„Ich finde, Sie haben ein außerordentlich –“

„Keine Nebenwege, keine Seitensprünge! Schön?“

„Nein!“

Der Professor wollte, aus seiner ehrlichen Ueberzeugung heraus, den angenehmen Nachsatz folgen lassen, er finde eigentlich, Annaliese sei etwas Besseres als bloß eine Schönheit, sie sei reizend, graziös und vornehm, Eigenschaften, die bei ihm und vielen anderen mehr ins Gewicht fielen als die tadellose Regelmäßigkeit [583] der Züge – aber das junge Mädchen ließ ihn nicht weitersprechen. Ob sie ihm sein entschiedenes „Nein“ übelgenommen haben mochte oder nicht, soviel stand fest, sie zeigte nichts von Empfindlichkeit.

„Nun also!“ fuhr sie lebhaft fort, „Damit ist es nichts, denn über eine wirkliche Schönheit pflegen sämtliche Urtheile zusammenzutreffen, der persönliche Geschmack hat in solchem Fall nichts mitzureden. Weiter erzählte mir alle Welt von meinem Geist vor – nein, nein, rücken Sie nicht so unruhig auf Ihrem Stuhl hin und her, ich werde Sie nicht fragen, ob Sie mich geistreich finden, Sie dürften mir mit Recht erwidern, daß Sie mich dazu nicht gut genug kennten. Ich habe eine etwas tiefere Bildung bekommen als meine Freundinnen, die meistens die höheren Töchterschulen besuchten, Großmama hielt mir die besten Privatlehrer, weil sie das vornehmer fand, als mich in die Schule zu schicken; auch hatte ich lange Zeit Ausländerinnen im Hause – so kommt es, daß ich in manchen Punkten etwas mehr weiß als meine Gefährtinnen. Sie überschätzten das aber sehr, überließen mir bei Lesekränzchen und Theaterspielen die Auswahl der Stücke, die besten Rollen und trugen die Kunde von meinem großen Wissen und Können in ihre Familien. Mir behagte auch das sehr gut – warum sollte ich nicht gern geistreich sein? Und wenn auf Bällen und Gesellschaften meine Tanzkarte zuerst gefüllt war und die Cotillonsträuße mich beinahe erdrückten, dann fand ich das sehr amüsant und im ganzen selbstverständlich – Herr Gevatter, Sie lassen die Cigarette ausgehen, hier ist frisches Feuer! Schmeckt Ihnen der Portwein nicht?“

„Ausgezeichnet! Aber über Ihrer interessanten Erzählung vergesse ich diese Genüsse gänzlich.“

„Keine Ironie?“

„Nicht die Spur!“

„Gut! – Also hat es mich auch nicht zu sehr verwundert, daß gerade der hübscheste, begabteste und gefeiertste Offizier aus unserem ganzen Kreise mich vor allen anderen auszeichnete. Ich möchte seinen Namen nicht nennen –“

„Wenn er Ihr Kavalier bei der gestrigen Hochzeit war, so weiß ich ihn.“

„Ah! Waren Sie denn in der Kirche?“

„Ja!“

„Dann haben Sie ihn also gesehen. Er ist sehr unterhaltend, sehr liebenswürdig, schien mich unendlich zu verehren, eine glänzende Laufbahn soll ihm bevorstehen – er gefiel mir auch gut. Nicht daß ich ihn liebte – da ich mir aber auch keinen anderen wünschte, da er mir aus unserem ganzen Kreise am meisten zusagte, so war ich eigentlich entschlossen, mich mit ihm zu verloben, wenn er käme. Und das war nur eine Frage der Zeit und zwar der nächsten. Manchmal wunderte ich mich, daß er mir bei all seinen vielen Vorzügen nicht noch viel besser gefiel, als es wirklich der Fall war, zuweilen that es mir leid und schien mir auch nicht richtig, so ohne große echte Liebe einen Mann zu nehmen, bloß weil er mir gut zusagte – aber dann wieder fragte ich mich, worauf ich warten wolle, fand es zweifelhaft, ob die große echte Liebe überhaupt über mich kommen würde, und sagte mir, daß ich doch sobald als möglich von Großmama fort wolle – denn, je älter ich werde, desto mehr finde ich heraus, daß wir gar nicht füreinander passen. Im vergangenen Frühjahr nun machte ich mit Frau Oberst Heß und ihren beiden Töchtern eine Reise durch die Schweiz und Oberitalien, wir blieben acht Wochen fort, und in dieser Zeit hat sich hier einiges ereignet, worüber ich nur hier und da eine vorsichtige halbverständliche Andeutung zu hören bekam, was aber in der Gesellschaft sehr besprochen worden ist. Der Lieutenant von Steinhausen hatte einem sehr schönen aber armen Mädchen unseres Kreises, das eben dieser Armuth wegen nur selten in den Gesellschaften und Bällen auftauchte, große Aufmerksamkeiten erwiesen. Wie gesagt, ich bekam wenig genug davon zu hören, war auch viel zu sorglos, um mir Gedanken darüber zu machen. Ich ging dann noch mit Großmama auf viele Wochen ins Bad und war nur neugierig, wie sich mein bisheriger Verehrer beim Beginn der Saison mir gegenüber benehmen werde, weiter empfand ich nichts. Nun, die Saison begann, und der Lieutenant ließ alle Minen springen, um mich möglichst rasch und möglichst kühn zu erobern. Meine Freundinnen versicherten, wenn ich einmal fragte, einstimmig, die andere Geschichte sei längst vergessen, das sei nur so ganz vorübergehend bei Steinhausen gewesen, wie jeder Offizier doch ’mal ein hübsches Mädchen auszeichne, wenn er auch eine andere liebe – warum sei diese ‚andere‘ auch auf so lange Zeit verreist gewesen? Kurz, es war wie ein ausgegebenes Losungswort, das man mir überall zu hören gab – und ich dachte auch nicht lange darüber nach und nahm meinen feurigen Anbeter unbefangen wieder zu Gnaden an, woran ihm alles zu liegen schien. Ich hatte mich wohl auch erkundigt, wie die schöne Erna denn die Sache auffasse, ob man ihr, wie es so nahe lag , ein tieferes Interesse für Steinhausen nachsagen könne – aber auch darüber erfuhr ich so gut wie nichts. Sie kam, wie ich Ihnen schon sagte, selten in die Gesellschaft, von unseren gemüthlichen Kaffeekränzchen und den Leseabenden mit Herren schloß sie sich ganz aus, sie hatte kein Abonnement im Theater und keines in den Künstlerkonzerten – höchstens erschien sie ab und zu auf einem Ball in einem sehr einfachen billigen Kleide, was einige von uns taktlos genug besprachen: wer in unseren Kreisen nicht Geld genug zu Seide oder Atlas habe, der möge zu Hause bleiben! Das war natürlich Neid, sie war auch im schlichtesten Anzug immer die schönste von allen – aber was sie empfand und ob sie etwas empfand, das erfuhr ich von meinen Freundinnen nicht. Die eine hatte sie wochenlang nicht gesprochen, die zweite stand nicht ‚intim‘ genug mit ihr, die dritte sagte, es sei ja überhaupt nichts an der ganzen Geschichte . . . und so beruhigte ich mich, und es ist mir erst nachträglich eingefallen, daß meine guten Freundinnen mir wohl absichtlich ausgewichen sind, denn einige von ihnen werden recht gut gewußt haben, wie die Sachen eigentlich standen. Daß ich das auch zu wissen bekam, dafür sorgte ein ganz eigenthümlicher Zufall. Wir sollten zum Polterabend von Wilma Frankenheim die erste Kostümprobe haben, und diese sollte bei Oberst von Thielen sein – seine Tochter Meta ist meine beste Freundin, und hätte sie gewußt, wie alles gekommen war, sie würde mir’s offen gesagt haben, das weiß ich; sie war aber zu derselben Zeit, als ich in Italien herumreiste, mit ihrer kranken Mutter im Bade. Thielens hatten vor kurzem eine neue Wohnung bezogen, deren Eintheilung uns allen noch ganz unbekannt war. Ich fuhr dort als die erste mit meinem Garderobekorb vor, und da Meta wußte, daß ich es nicht liebte, wenn mir jemand beim Toilettemachen zusah, so steckte sie mich in ein ganz kleines Stübchen, das ziemlich abseits lag und nur durch eine dünne Tapetenwand gegen den Nebenraum abgeschlossen war. Meta hatte mir selbst die Thüre geöffnet, die Dienstleute hatten mich nicht kommen sehen. Ich war kaum zur Hälfte mit meiner Kostümierung fertig, da hörte ich Stimmen im Zimmer nebenan – Steinhausen mit seiner Schwester, die ihm ein wenig beim Auspacken und Drapieren helfen sollte; sie selbst wirkte nicht mit. Der Bursche nöthigte die Geschwister ins Zimmer, und ich hörte, wie Steinhausen fragte, ob schon jemand von den Mitwirkenden da sei. ‚Nein Herr Lieutenant,‘ hieß es, ‚bis jetzt ist noch niemand gekommen, die Herrschaften sind die ersten.‘ – Und kaum hatte die Thür sich hinter dem Menschen geschlossen, da fing auch schon Ina Steinhausen an: ,Ich habe bereits den ganzen Tag mit Dir sprechen wollen, Konstantin, aber Du warst ja nicht für eine Minute frei – sag’ um Gotteswillen, was hast Du mit der armen Erna von Torsten angefangen, es ist ja ein Jammer mit ihr!‘ –

Sehen Sie, Gevatter“ – Annaliese that einen tiefen Athemzug und warf sich so nachdrücklich in den Sessel zurück, daß die Palmenwedel über ihrem dunklen Köpfchen schwankten und zitterten – „nun wär’s Zeit für mich gewesen, hervorzukommen und zu zeigen, ich sei da, aber erstens hätte ich in dem Aufzug, in dem ich mich befand, gar nicht hervorkommen können, und zweitens machte mich dieser Anfang, der doch auch schließlich mich anging, so gespannt, daß ich alle Pflichten der Diskretion vergaß, blieb, wo ich war, und athemlos zuhörte. –

Steinhausen brauste gleich auf: ,Wie kannst Du sagen – was weißt Du? Was redest Du für Unsinn! Wo hast Du sie gesehen?‘ Seine Stimme klang ganz rauh, er muß innerlich furchtbar erregt gewesen sein. Seine Schwester antwortete ihm, sie sei gestern abend bei Erna gewesen – sie habe schon lange einen stillen Argwohn gehabt, da sie Erna so niedergeschlagen und gedrückt gesehen, habe sie aber nie geradezu fragen mögen. Gestern nun, als Erna ihr so schön und bleich, mit so trostlosen Augen gegenübergesessen, da habe sie sich ein Herz gefaßt, den Arm um die Unglückliche gelegt und sie gefragt, was es denn mit ihr sei und wie sie mit ihrem Bruder Konstantin stehe. Da habe das arme Mädchen ihre berühmte Selbstbeherrschung ganz und gar verloren, habe auch vielleicht geglaubt, [584] Ina sei eingeweiht – kurz, sie habe unter herzzerreißendem Schluchzen gesagt, sie sehe es ja ein. daß sie ihrer Liebe entsagen müsse, sie treffe nie mehr heimlich mit Konstantin zusammen, wechsle auch keine Briefe mehr mit ihm, und sie hatten einander das Wort gegeben, es solle alles aus sein, auch das Liebhaben und Treue halten. Das aber sei stärker als sie, als ihr guter Wille, sie habe Konstantin so über alle Maßen lieb und sei so grenzenlos unglücklich – und er sei das auch, denn er solle ja Annaliese von Guttenberg heirathen, und das sei ihr der schrecklichste Gedanke, denn nun dürfe sie ihn nicht einmal mehr im tiefsten Herzen lieb haben, nun sei auch das eine Sünde! – Zuerst sagte Steinhausen gar nichts auf diese Worte seiner Schwester und nachher sagte er auch nicht viel – er sprach ganz leise und gepreßt, als sei ihm der Hals zugeschnürt, ich hatte Mühe, ihn zu verstehen. Aber ich hörte doch ganz genug.

Ja, er hatte Erna leidenschaftlich geliebt, er liebte sie noch, er würde die Welt darum geben, sie die Seine zu nennen, aber es könne ja nicht sein, es sei unmöglich, undenkbar – es sei das größte Unglück seines Lebens, daß er sich damals im Frühjahr so weit habe hinreißen lassen, ihr seine Liebe zu gestehen und das Geständniß ihrer Gegenliebe zu empfangen. Wie elend er sich fühle, wie ihn das arme süße Geschöpf dauere, das könne er nicht sagen, aber es sei im Leben nicht daran zu denken, daß sie einander angehören könnten! Darum habe er ihr gesagt, es müsse alles aus sein und er müsse sich mit Annaliese von Guttenberg verloben, die sei eine reiche Erbin, sei die Enkeltochter der alten Excellenz und habe eine Menge von einflußreichen Verwandten, die ihm bei seinem Fortkommen sehr nützlich sein würden. Darum habe er jetzt der Annaliese auf Leben und Tod den Hof gemacht, darum wolle er sich mit ihr verloben, sobald wie irgend möglich; er müsse gewaltsam einen Strich ziehen unter die Vergangenheit. Als Ina bemerkte, eigentlich sei es doch auch ein Unrecht gegen Annaliese, mit der Liebe zu einer andern im Herzen um sie zu werben, entgegnete der Bruder, das werde sich schon machen, er habe ja nichts gegen das Mädchen, sie sei zwar sehr verwöhnt, alle Welt sage ihr Schmeicheleien und bewundere sie, weil sie doch nun einmal die Enkelin der berühmten alten Excellenz sei und mit ihrem vornehmen Namen ein schönes Vermögen verbinde – aber Annaliese sei ja sonst ein ganz hübsches pikantes Mädchen. er dürfe nur nicht daran denken, daß er anstatt Erna sie heirathen solle, denn dann könnte er sie hassen!

Das war es, was ich hörte!“

Annaliese lehnte sich ein wenig erschöpft gegen die Polster ihres Sessels und schwieg ein paar Augenblicke. Auch der Professor sagte kein Wort. –

„Wie ich endlich in meinen Zigeuneranzug hineingekommen bin, wie ich an dem Abend getanzt und deklamiert habe, das wissen die Götter – ich kann es nicht sagen! Unbändig lustig bin ich gewesen, es sollte doch um Gotteswillen keiner etwas merken! Das geschah auch nicht; es erfuhr keine Menschenseele, daß ich in dem kleinen Hinterzimmerchen gesteckt hatte, denn Meta flüsterte ich gleich zu, es nicht auszuplaudern, und außer ihr hatte mich niemand gesehen. Steinhausen behandelte ich so kordial, so kameradschaftlich, daß er etwas stutzig wurde und es nicht wagte, so ganz rasch die Verlobung in Scene zu setzen, wie er es sich wohl vorgenommen hatte – und auf diesem Standpuukt stehen wir noch heute, Mühe genug hat’s meinerseits gekostet. – Sie sehen unzufrieden aus, Herr Gevatter! Ihnen gefällt es nicht, daß ich horchte?“

„Nein,“ sagte Gregory ehrlich, „es gefällt mir wirklich nicht. Das Lauschen sollten Sie anderen überlassen! Und nachdem Sie es einmal gethan hatten, so mußten Sie wenigstens dem Lieutenant von Steinhausen offen bekennen, daß . . .“

„Sie kennen ihn nicht – er ist stolz wie Lucifer, er wäre außer sich, wüßte er, daß ich, gerade ich, sein Geheimniß kenne. Ich bereute es ja auch auf der Stelle, gelauscht zu haben – aber dann konnte ich es nicht mehr ungeschehen machen; was ich wußte, das wußte ich. Und als der erste Schreck, die erste Bestürzung überwunden war, da entdeckte ich eine Art von erleichtertem Aufathmen in meinem Innern. Ich sagte Ihnen schon, ich hatte für Steinhausen Wohlgefallen und Sympathie, aber keine Liebe, keine Leidenschaft, nicht einmal ein sehr starkes Interesse. Der Verstand hatte mir diktiert, seine Werbung anzunehmen. nicht aber mein Herz – im Gegentheil, dies Herz hatte mich zuweilen ganz ernstlich gewarnt. Nun konnte ich frei bleiben, und es wurde mir nicht schwer, diesen Entschluß zu fassen. Steinhausen und Erna thaten mir sehr leid – aber wie ihnen helfen? Abgesehen davon, daß ich meine geheime Mitwissenschaft nicht verrathen wollte ... ich konnte doch nicht plötzlich vor die arme Erna hintreten und sagen: ‚Hier sind sechzigtausend Mark, ich habe sie übrig und Du hast sie nicht – nun heirathe Deinen geliebten Konstantin!‘ – Die beiden würden das auch gar nicht annehmen! Da ich Ihnen aber alles ehrlich sagen will, so muß ich gleich gestehen, daß das Schicksal der beiden mich nur vorübergehend beschäftigte – ich selbst war mir die Hauptperson. Bis dahin hatte ich nicht gedacht, daß ich sehr viel Eigenliebe und Eitelkeit besaß, nun sah ich, es war doch eine ganz gehörige Portion davon vorhanden. Ich war ungeheuer betroffen, daß all die Liebenswürdigkeiten und Schmeicheleien, die ich genossen hatte, nicht meiner Person, sondern dem Stand und Rang meiner Großmutter, meinen hochstehenden militärischen Verwandten und meinem Vermögen galten. Steinhausen ist klug, ein guter Beobachter und in unseren Kreisen sehr bekannt – er muß das wissen! Von meinen etwaigen guten Eigenschaften, von meinem Charakter hatte er nichts gesagt, das zählt also nicht mit. Und ich habe ganz naiv bis dahin gedacht, daß man mich um meinetwillen gern habe und den anderen vorziehe! Meine Unbefangenheit, die, glaub’ ich, das Beste an mir war, meine harmlose Lebensfreude und Genußfähigkeit ist ganz dahin – ich habe sie bis heute noch nicht wiederfinden können, und was das Schlimmste ist, ich fürchte, sie wird sich überhaupt nie mehr zu mir zurückfinden. Daß ich auch jetzt oft ausgelassen lustig bin, ändert gar nichts, das ist eine Komödie, die ich mir selbst und den Leuten dann und wann vorführe – und hinterher ist mir doppelt elend zu Sinn! Früher, wenn ich in einem hübschen neuen Kleide auf einen Ball oder ins Theater kam, machte es mir Spaß, zu sehen, wie die Menschen mich wohlgefällig anschauten, wie die Offiziere mir entgegenstürmten, um einen Tanz zu erobern, wie ich immer einen kleinen Hofstaat um mich herum hatte. Jetzt muß ich denken: wärst Du nicht die Enkelin der alten Excellenz Guttenberg und eine Erbin, kein Mensch würde sich um Dich bekümmern, würde Dein Aussehen reizend, Deine Unterhaltung amüsant und Deinen Witz sprudelnd finden – Du säßest dort hinten in irgend einer verlorenen Ecke und wärst glücklich, wenn Dich der gutmüthige Lieutenant von Groß, der immer die armen Mauerblümchen auffordert, gelegentlich einmal zum Tanz holte! Alles ist in mir bitter, alles im Zwiespalt. Jede Freundlichkeit, die mir erwiesen wird – und ich will einräumen, daß manche echte darunter sein mag – bring’ ich sofort auf Rechnung meiner Großmama Excellenz, meines Onkels Divisionschef, meines Geldes – ich habe den Maßstab für die Menschen verloren, und so lange ich hier bin, finde ich auch keine Ruhe und keinen Frieden. Ich muß fort, ich muß Steinhausen aus dem Wege gehen, denn obgleich ich bis jetzt geschickt genug seinen Annäherungsversuchen, seinen Andeutungen und Aufmerksamkeiten ausgewichen bin, einmal wird er mich doch zu stellen wissen und mir seinen Heirathsantrag machen – und was soll dann werden? Wie soll ich ihm den Korb, den ich ihm geben muß, erklären? Deshalb will ich alles, alles hinter mir lassen, in eine Stadt gehen, wo mich keiner kennt, unter fremde Menschen, die nicht ahnen, wer meine Großmama und mein Onkel ist und daß ich Geld habe – und dann will ich sehen, ob ich Menschen finde, welche Annaliese Guttenberg schlechtweg gern haben und mich gelten lassen – um meinetwillen!

Gregory sah das aufgeregte junge Mädchen, das eine Pause eintreten lassen mußte, weil ihm der Athem ausgegangen war, theilnehmend, aber kopfschüttelnd an. „Und wohin wollten Sie?“ fragte er endlich.

„Das eben sollen Sie mir sagen!“

„Ich?“

„Sie! Wozu hätte ich denn Ihnen, und gerade nur Ihnen, die ganze Geschichte erzählt, als um Ihren Rath zu haben? Sie kennen doch ein gutes Stück von der Welt, Sie müssen doch Verbindungen haben, weit fort von hier, unter Leuten, die keine Ahnung von der Rang- und Quartierliste, von Kommißvermögen und sonstigen militärischen Dingen haben! Zu solchen Leuten möcht’ ich eine Zeitlang, bis Steinhausen von hier wegversetzt ist – es ist stark die Rede davon – und bis ich hoffentlich ein [586] wenig ruhiger denke und nicht hinter jedem Menschen einen Mitgiftjäger wittere. Ach, Sie sehen ganz bankerott aus – fällt Ihnen denn nichts ein für mich?“

„Abgesehen davon – was würde Ihre Großmama sagen – unter welchem Vorwand wollten Sie –“

O, wenn sich nur die Hauptsache findet, um den Vorwand ist mir nicht bange, ich finde zehn für einen! Gleich meine Malerei! Meine Lehrer preisen mein Talent, und Großmama ist tief davon durchdrungen; auch ich war es bis vor einiger Zeit, aber jetzt – Sie wissen – kann nicht auch das der ,gut zahlenden jungen Dame aus den besten Kreisen‘ gelten, deren Name so hübsch Reklame macht, die dem Lehrer schon ein halbes Dutzend adliger Freundinnen zugeführt hat? Früher wäre ich auf etwas Derartiges nicht gekommen – ich bin eben klüger, wenn auch nicht glücklicher geworden! Nun, ich sage dann Großmama einfach, da und da gebe man vortrefflichen Malunterricht, weit besseren als hier, ich würde mich gern vervollkommnen, einige Kurse nehmen – und so weiter! Sie wäre mich ohnehin gern für diesen Winter los, sie sagte noch vorgestern zu mir, sie hoffte sehr auf meine Verlobung und Verheirathung; denn diese aufreibende Geselligkeit sei zuviel für ihre Jahre. Ueberdies erwartet sie in nächster Zeit Besuch, ihre Kousine Kunigunde Freifräulein von Wettersbach – ein stolzer Name, wie? – die bis zum Frühjahr bei ihr bleiben will und ihr sehr lieb ist. Die beiden haben tausend Jugenderinnerungen miteinander aufzufrischen und tausend Partien Bézique miteinander zu spielen – dabei bin ich ihnen nur im Weg, und Großmama fragte mich schon, wenn ihr Lieblingswunsch nicht in Erfüllung geht, ob ich dann nicht eine verheirathete Freundin in Wien besuchen und einige Monate bei ihr bleiben wolle. Sie sehen, sie kann mich entbehren. Und wenn Sie wüßten, wie unbehaglich mir hier zu Muth ist, wie schrecklich mich der Gedanke quält, überall diesen Steinhausen zu treffen und mich beständig feiern lassen zu müssen, und das alles ist Lug und Trug –“

„Halt, halt!“ Der Professor legte beschwichtigend seine kraftvolle warme Hand auf die kalte des Mädchens. „Hier gehen Sie zu weit! Alles Lug und Trug! Aber um Gotteswillen, das ist ja eine sträfliche Uebertreibung! Eine Erscheinung, ein Wesen wie Sie braucht doch wahrhaftig nicht nur durch seine Großmutter, seinen Namen und seine Börse zu wirken! Sie müssen sich ernstlich zusammennehmen, um diesen Gedanken nicht in sich zur fixen Idee ausarten zu lassen – schließlich ist der Lieutenant von Steinhausen kein Orakel.“

„In unseren Kreisen, gesellschaftlich, ist er eines, und so lange ich hier bleibe, werde ich auch meine fixe Idee nicht los! Ich will in andere Verhältnisse, unter andere Menschen – um jeden Preis, und wenn Sie mir nicht helfen, so muß ich es eben selbst thun, obgleich ich nicht ahne, wie!“

„Daß Sie Steinhausen hier nicht auf Schritt und Tritt begegnen wollen, finde ich am begreiflichsten, es käme immer zu unangenehmen Scenen – so oder so.“

„Sehen Sie!“

„Aber warum wollen Sie nicht zu der verheiratheten Freundin nach Wien reisen?“

„Mein Gott, die hat einen Oberlieutenant geheirathet – da säße ich erst recht im Militär, würde erst recht als junge Erbin von auswärts gefeiert werden! Sie hörten es doch, ich will inkognito sein!“

„Das ist romanhaft und abenteuerlich!“

„Warum in aller Welt? Will ich denn jemand einen Fallstrick legen, will ich Menschen belügen oder betrügen? Ich will bloß nicht sagen, daß ich Geld habe und aus altadliger Familie bin; ich will thun, als ob ich mir später meinen Unterhalt selbst verdienen müßte, sagen wir einmal durch Malen, und will sehen, ob mich trotzdem die Leute gern haben und sich um mich kümmern. Es ist ein Experiment, ja, das ist es! Gelingt es, so komme ich nach ein paar Monaten mit frischem Lebensmuth und heiterer Seelenstimmung hierher zurück – gelingt es nicht, so habe ich mich zu resignieren . . . warum lachen Sie?“

„Verzeihen Sie, Fräulein Annaliese, aber, aber – Sie – und Resignation!“ Gregory lachte herzhaft und er sah jung und hübsch aus, wenn er lachte.

„Pfui, wie unrecht von Ihnen! Und ich hatte so fest auf Ihren Rath, Ihren Beistand gerechnet –“

Hier öffnete sich, nach leisem Anklopfen, die Thür; Martin stand stramm neben der Portiere und meldete: „Excellenz lassen Baroneß und Herrn Professor zum Thee bitten.“

„Schön, Martin, wir kommen! Nun passen Sie bloß auf, welch feierlicher militärischer Geist sogar bei diesem harmlosen Kartenkränzchen herrscht! Gott, hab’ ich die ewigen Rücksichten und Formen satt! Auch bei den Damenkaffees: hier die Frau Oberst, da die Frau Major – aber beileibe nicht da die Frau Oberst und hier die Frau Major! Und dort die Hauptmannsfrauen erster und zweiter Klasse – und so eine arme kleine Sekondelieutenantsfrau darf gar nicht mitreden, trotzdem sie oft im kleinen Finger mehr Verstand hat als die berühmte Frau Oberst und Major in ihrem Kopf! Meine Mutter, die muß auch so ketzerische Gedanken gehabt haben wie ich, Großmama läßt das oft durchblicken und findet es empörend – ich weiß leider nichts von ihr, ich war zwei Jahre alt, als sie starb. Auf meinen Vater besinne ich mich sehr gut, er war ein richtiger Militär, stramm und schneidig – und ich bin ihm so gar nicht nachgerathen! Jetzt kommen Sie, mein Herr Gevatter . . . aber glauben Sie nicht, daß ich Ihnen mein Vertrauen für nichts und wieder nichts geschenkt habe! Ihren Beistand muß ich haben – ja, ich muß, muß, muß! Ich hoffe auf Sie. Bei Tisch haben Sie angestrengt und erfolgreich darüber nachzudenken, wie mein Wunsch zu erfüllen sein wird. Capito, Signore? Verstanden, mein Herr?“

Capire non e udire! Verstehen ist noch nicht Befolgen!“ entgegnete Paul achselzuckend und bot seinem anmuthigen Gegenüber den Arm zum Gang nach den Wohnzimmern seiner gestrengen Tante.

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 36, S. 597–602
[597]
4.

Die Damen hatten im Boudoir der Generalin gespielt, im Salon war der Theetisch gedeckt worden, neben welchem Martin in dienstlicher Haltung wartend stand

Es war noch eine Excellenz vorhanden, aber eine von allerneuestem Datum, deren Adel zudem erst in der dritten Generation bestand – mit den Guttenbergs also gar nicht zu vergleichen! Die neue Excellenz trug braune Puffenscheitel und eine vornehme Miene zur Schau. Dann war noch eine Frau Generalmajor von Bienenfeldt mit weißen Löckchen und einem schwarzen Atlaskleide da und endlich Frau Oberst von Reisewitz, die eine auffallende Aehnlichkeit mit der Treffdame hatte und auch ebenso frisiert war.

„Mein Neffe, Universitätsprofessor Gregory,“ wurde mit geziemender Feierlichkeit diesen Würdenträgerinnen vorgestellt, und er hatte sich dreimal tief zu verneigen, sowie seiner Tante einen Handkuß zu leisten, was er übrigens alles mit guter Manier zustande brachte.

„Guten Abend, Annaliese!“ wandte sich darauf die Generalin zu dem jungen Mädchen. „Meine Damen, meine Enkelin schätzt sich glücklich, Ihnen zum Willkommen die Hand küssen zu dürfen.“

Es sah dem Professor nicht danach aus, als ob das Glück überwältigend groß sei, im Gegentheil, er fing einen unliebsam erstaunten Blick auf, den Annaliese ihrer Großmutter zuwarf und der, in Worte übersetzt, bedeuten konnte: das ist gegen die Abmachung, Du weißt, wie zuwider mir ein derartiger Akt ist! Aber die alte Excellenz lächelte gleichmüthig, im Innern froh, einen solchen moralischen Zwang ausüben zu können, und sah zu, wie die frische Lippen ihrer „Kleinen“ nacheinander die wohlwollend hingehaltenen Hände der Gäste berührte. Man gruppierte sich unter peinlichster Wahrung des Ranges um den Theetisch, Martin servierte tadellos. Frau Generalmajor von Bienenfeldt, die älteste Freundin des Hauses, gab der „neuen Excellenz“ flüsternd einige Weisungen – diese wünschte zu wissen, wo in aller Welt die liebe theure Excellenz Guttenberg diesen Neffen her habe.

„Nicht wahr?“ fragte die Generalin, die alles gehört hatte, leise, während Paul gerade in lebhaftem Gespräch mit Annaliese war, „er kann sich immerhin sehen lassen? Ich versichere Sie, er wirkt sogar im Salon unter meinen Offizieren, er macht eine so gute Figur, und ich kann es meiner verstorbenen Kousine noch heute nicht verzeihen, daß sie den hübschen aufgeweckten Jungen nicht ins Kadettenhaus gab. Er hätte wirklich Anlagen zum Offizier gehabt und könnte jetzt in kurzer Zeit Major sein, wenn mein Vetter Guttenberg sich für ihn interessiert hätte. Statt dessen nun … Gott, ja, ein Professor ist nichts Schlechtes, es hätte schlimmer kommen können – aber glauben Sie, liebe Excellenz, er ist zu meinen Gesellschaften zu haben? Kein Gedanke! War zweimal da, wurde gut behandelt, ich möchte sage bevorzugt [598] von meinen Offizieren – sie haben ja nun ’mal ein Monopol auf die tadellosesten Manieren, unsere Herren! – aber wer nicht wiederkam, war mein Herr Neffe. Na, schließlich ist es sein eigener Schade, wenn er nicht in die besten Kreise hinein will!“

Excellenz von Rosen holte ihren Zwicker hervor und sah sich den merkwürdigen Menschen, der solch ein Glück verschmähen konnte, unverwandt an. Der Professor fand dies Anstarren unpassend, er neigte sich ein wenig gegen die Dame vor und sagte in verbindlichem Ton: „Excellenz befehlen?“

„Ich, o, nichts!“ Die Generalin ließ das Augenglas fallen und wandte sich lebhaft an ihre Nachbarin. „Liebste Frau Oberst, wir sprachen vorhin von dem entzückenden Menschen, dem kleinen Geyer – wo ist er doch geblieben?“

„Zu den rothen Husaren nach Straßburg versetzt!“

„O, o, meine beste Frau Oberst!“ ließ sich Excellenz Guttenberg in strafendem Ton vernehmen. „Wie können Sie die rothen Husaren nach Straßburg bringen? Die stehen ja in Rathenow!“

Beschämt sah die Frau Oberst diesen bösen Irrthum ein.

„Der kleine Geyer hat neuerdings wieder geerbt. Sein Vetter George ist beim Derbyrennen mit dem Pferde gestürzt und Ulrich war der nächste Anverwandte.“

„Was Sie sagen! Ueberdies heißt es, der Kleine soll demnächst Bräutigam werden – die schwarze Lulu F . . . . Sie wissen! Wirklich kolossal!“

„Wenn es wahr ist!“

„Ich pflege aus sehr guten Quellen zu schöpfen.“ Excellenz Guttenberg richtete sich noch steifer im Rücken auf als bisher. „Ich stehe ja im Briefwechsel mit der Tante des kleinen Geyer, ich sollte meinen, daß die genau unterrichtet ist!“

„Wer ist denn eigentlich dieser kleine Geyer?“ fragte der Professor dazwischen, den das lange Gespräch über eine ihm gänzlich unbekannte Persönlichkeit verdroß.

Seine Tante Guttenberg fand den nachlässigen Ton dieser Frage unstatthaft. „Ein sehr distinguierter junger Mann aus vorzüglichem Haus. Die Geyers von Geyerstein sind eine sehr alte Familie – verschwägert mit den Grafen Trutzberg, nahe verwandt mit den Falkenaus – Ulrichs Mutter ist eine Komtesse Falkenau –“

„Von der Wartenburgischen Linie,“ schaltete die neue Excellenz ein, um ihre Kenntnisse zu beweisen.

Die alte Excellenz sah sie mitleidig an. „Von der Hillsdorfischen Linie, Beste, ich weiß es genau!“

„Sollte ich mich da irren? Verzeihung, liebe, liebe Excellenz, aber ich fürchte, diesmal behalte ich recht!“

Die Generalin hatte nur ein mildes, überlegenes Lächeln. „Martin – holen Sie den Gothaer! Sie wissen, wo er liegt, dicht neben der Rang- und Quartierliste!“

„– Befehl, Excellenz!“

Eine feierliche Pause. Der Gothaische Almanach wurde gebracht, mit kundiger Hand blätterte die alte Excellenz nach.

„Geyer – Geyer-Trutzberg, Geyer-Falkenau . . . bitte, wollen Sie sich überzeugen: hier – Falkenau-Hillsdorf, da haben Sie es Schwarz auf Weiß!“

Die neue Excellenz murmelte eine demüthige Entschuldigung, und Frau von Bienenfeldt bemerkte lächelnd: „Ich hätte es Ihnen zum voraus sagen können, Liebe, daß Sie sich da eine Niederlage bereiten würden; in solchen Dingen, wie in vielen anderen, ist unsere theure Excellenz Guttenberg einfach Autorität. Sie weiß von jedem Avancement, jeder Versetzung, jedem Abschied – und nun gar die Familienbeziehungen, die Stammbäume. – erstaunlich! Der selige General, ein so herrlicher Militär er war, konnte da nicht mit, er nannte seine liebe Frau immer sein militärisches Gedächtniß.“

Paul Gregory räusperte sich unmuthig – was war das für eine alberne Unterhaltung! Er dachte bei sich, wenn doch den kleinen Geyer samt seiner ganzen hochgeborenen Verwandtschaft der Geier holen wollte! Zum ersten Mal saß der Professor heute so im kleinen Kreise an seiner Tante Theetisch, und er würde es sich selbst ohne weiteres zugeschworen haben, daß es auch zum letzten Mal sein werde, wenn nicht Annaliese dagewesen wäre. Armes Geschöpf! Das war nun ihr Heim; mit solchen Menschen wie diese verkehrte sie, Gespräche wie diese mußte sie mit anhören und selbst weiterführen helfen! War es ihr zu verdenken, wenn sie hinwegstrebte mit aller Kraft, wenn sie hinaus wollte aus diesem enggezogenen Kreise, zu Menschen, bei denen eine andere freiere Luft wehte? Wie reizend sie war! Und nicht bloß reizend – sie besaß Geist, Beobachtungsgabe, Humor, hatte auch Gemüth, die Kleine . . . Gregory leugnete sich’s gar nicht, sie gefiel ihm ausnehmend, und er wollte ihr gern helfen; aber wie?

Die alte Excellenz hatte sich inzwischen mitleidig darauf besonnen, daß ja ihr Neffe, der gute Paul, leider keine Ahnung von „ihren Kreisen“ habe und daß es ihm verwehrt sei, mitzureden, und er that ihr leid. „Nun, mein lieber Paul,“ begann sie in etwas gönnerhaftem Ton, der ihr sehr leicht kam, „was machen die Wissenschaften? Wie steht’s mit Deinen Arbeiten?“

Dem Professor sagte diese Art und Weise wenig zu. „Danke, Tante!“ entgegnete er trocken. „Die Wissenschaften regieren die Welt, und meine Arbeiten gehen ruhig ihren Gang weiter.“

Die militärischen Kränzchendamen lächelten einander zu, ihnen kam dieser Respekt vor den Wissenschaften, welche „die Welt regieren“ sollten, komisch vor. „Also steht nichts Neues auf Deinem Programm?“ examinierte die Generalin weiter.

„O doch, auf meinem Programm steht eine Reise!“ erwiderte Paul kurz, in einem nicht gerade verbindlichen Ton. Es widerstand ihm, diesem „Kränzchen“ etwas von sich selbst, seinen Plänen sagen zu sollen, aber erfahren mußte es ja die Generalin so wie so, daß er die Reise machte, er mußte sich doch zuvor von ihr verabschieden.

„Eine Reise? Sieh, sieh! Wohin denn, wenn man fragen darf? Ist es weit?“

„Ziemlich weit – Königsberg in Ostpreußen!“

„Um Gotteswillen!“ Alle Damen waren erschrocken, die Frau Oberst lieh dem Schrecken Worte. „Das ist ja dicht an der russischen Grenze!“

„Nicht so ganz dicht, meine Gnädigste!“

„Aber es soll ja eine greuliche Stadt sein, ganz reizlos und entlegen – und so kalt! Müssen Sie denn dorthin?“

„Im Interesse meiner Arbeit, ja!“

„Was wollen Sie dort thun?“ Annaliese, die bisher ziemlich theilnahmlos dagesessen hat, wurde aufmerksam und fragte – sehr freundlich und voll Antheil.

„Es giebt dort in der Nähe ein sehr interessantes Land.“ Gregory sprach jetzt höflich und wandte sich unmittelbar an das junge Mädchen. „Litanen heißt es, ist auch an und für sich nicht ohne Reiz, und seine Bewohner stellen einen ganz eigenen Menschenschlag dar. Die Sprache ist im Aussterben, das deutsche Element greift mächtig um sich, und in nicht allzu ferner Zeit dürfte es kaum mehr eine lebende litauische Sprache geben. Ich bin Sprachforscher, wie Sie wissen, war schon einmal dort und sammelte Stoff, finde ihn aber nicht genügend und eine zweite Reise immer der Mühe und des Gegenstandes werth, der ein wichtiger Bestandtheil meiner Arbeit sein soll – zumal, da mein bester Freund in Königsberg lebt und ich ein Wiedersehen mit ihm und seiner Familie freudig begrüße.“

„Was ist Ihr Freund dort?“

„Oberlehrer. Er hat arm und jung geheirathet, besitzt vier Kinder und muß sich ein bißchen quälen, um durchzukommen. Die Frau kommt ihm dabei zu Hilfe – sie ist aus adliger Familie, und dieser Umstand erleichterte ihr bedeutend das Unternehmen, junge Damen in Pension zu nehmen, die, theils zu ihrer Ausbildung, theils zu ihrem Vergnügen, sich für längere Zeit in der alten Krönungsstadt aufhalten.“ Hier entstand eine Pause, und der Professor befand sich in einiger Verwirrung, denn aus Annaliesens Augen hatte ihn ein so großer leuchtender Blick getroffen, daß es ihm eigenthümlich zu Muthe wurde; er war nur so schnell und flüchtig gewesen wie ein Blitz, aber dieser Blitz . . . hm!

„Es giebt dort vorzügliche Lehrer und Lehrerinnen für den Malunterricht, nicht wahr?“ fragte Annaliese laut, und ohne die Lippen zu regen, raunte sie, heftig mit ihrer Theetasse klappernd: „Sagen Sie ums Hilnmelswillen ja!“

„Gewiß – natürlich – vorzügliche!“ Gregory begann zu begreifen.

„Die Königsberger Malerakademie ist ja weit und breit berühmt,“ fuhr Annaliese mit einer Siegesgewißheit fort, die etwas Verblüffendes hatte. „Und hier lernt man so bitterwenig – um mein Talent ist’s wirklich schade! Und die Frau Ihres Freundes hat mehrere adlige junge Damen in Pension, nicht wahr?“ Wieder leise: „Bitte ja, ja!“

Der Professor hatte keine Ahnung, ob und wieviel junge Damen sich zur Zeit im Hause seines Freundes befanden, und [599] noch viel weniger, ob sie adlig oder bürgerlich waren, aber solchen großen prächtigen Augen zuliebe, die so beredt blicken konnten, mußte man schon ein Uebriges thun.

„Gewiß, mehrere – aus den besten Familien! Ich sagte Ihnen schon, die Frau meines Freundes ist selbst aus sehr gutem Haus, eine Freiin von Berg.“ Hiermit wenigstens hatte es seine Richtigkeit.

„Wie konnte sie diese Heirath machen?“ fragte die junge Excellenz naiv.

„Sie hatte sich sonderbarerweise in ihren Mann verliebt,“ entgegnete Paul ernsthaft.

Um Annaliesens Lippen zuckte es, sie griff wieder zu ihrer Tasse. Die älteren Damen geriethen über allerlei wunderliche Heirathen junger Aristokratinnen mit Hauslehrern, Verwaltern und Geistlichen in ein lebhaftes Gespräch, und unterdessen flüsterte das Freifräulein dem Professor zu: „So – das war schön! Vielen Dank! Der Boden ist jetzt vorbereitet!“

„Sie glauben alles Ernstes, daß –“

„Natürlich! Lassen Sie mich nur machen! Ich sagte Ihnen ja schon, Großmama würde glücklich sein, mich für diesen Winter mit guter Art loszuwerden. Warum soll ich nicht in Pension nach Königsberg kommen? Heute und morgen findet sie diesen Gedanken ungeheuerlich, aber ich kenne sie: der stete Tropfen höhlt den Stein! Sehen Sie, wie gut meine Ahnung mich geleitet hat, als ich dachte, Sie, gerade Sie, könnten mir helfen! Wie heimtückisch von Ihnen, mir nicht gleich alles von Königsberg zu sagen!“

„Es fiel mir nicht sofort ein, und wenn auch . . . wie hätte ich denken sollen – es wird ja auch nichts daraus werden.“

„Warum aber nicht?“ Annaliese sah so unternehmend aus, daß Frau von Bienenfeldt zu der neuen Excellenz sagte: „Sie ist boch bildhübsch! Diese herrlichen Augen und die prachtvollen Zähne! Aber den Prosessor muß sie nicht leiden können, sehen Sie, liebe Exeellenz, wie herrisch sie ihn anschaut!“ –

„Wie wollen Sie es denn durchführen?“ fragte Paul leise und reichte seiner Nachbarin die Schalmandeln und Traubenrosinen hin. „Gesetzt, Ihre Großmutter ginge wirklich auf Ihren Plan ein, sie müßte sich doch mit Frau Oberlehrer Claassen in Verbindung setzen, Ihre Verhältnisse klar legen, und wenn Sie an Ihrem Plan festhalten –“

„Natürlich halte ich fest – und Sie sollen bei der Ausführung wacker mithelfen! Großmama leidet oft an Händezittern, sie kann die Feder nicht gut halten, kennt ja auch Ihren Freund nicht weiter – da werde ich ihr einreden, daß am besten Sie selbst die Anfrage nach Königsberg richten, und dann müssen Sie Ihren Freund bitten, in seiner Antwort Großmamas Gefühle zu schonen und nichts über meinen zukünftigen Beruf und Erwerb zu schreiben! Nur getrost, ich bekomme das alles fertig. Ach, Gevatter, bei dem Gedanken, daß ich von hier fort komme, fort von all den beobachtenden, intrigierenden, berechnenden Menschen –“

„Von wem sprichst Du, Kleine?“ fragte die Generalin über den Tisch herüber, sie hatte die letzten Worte gehört. „Ueber wen hättest Du nöthig, Dich so zu ereifern?“

„Ueber die Mitspieler eines Theaterstücks, Großmama, in dem ich durchaus eine Rolle übernehmen soll und nicht will!“

„Wo und wann soll denn das gespielt werden?“

„In unseren Kreisen – und sehr bald.“

„Und die anderen sind lauter beobachtende, intrigante, berechnende Menschen – sagtest Du nicht so?“

„Ja, so sagte ich! Aber ich spiele nicht mit, durchaus nicht!“

„Sehr richtig, mein Kind! Dies fortwährende Theaterspielen nimmt Zeit und Kräfte ungemein in Anspruch, und wenn man es recht bedenkt: wo ist der Nutzen davon zu sehen? Ich habe diese ewigen Vergnügungen für die Kleine schon recht satt und wünsche aufrichtig, ich hätte einmal einen Winter hindurch Ruhe.“

„Sehen Sie, Gevatter! – Sie wünscht es sich!“

„Meine liebe Excellenz, daran kann für Sie doch kein Gedanke sein, Ihre Enkelin gehört ja zu den gefeiertsten Damen der ganzen Stadt, und wenn nun gar noch, wie man munkelt, in kurzem ein freudiges Ereigniß –“

Die Generalin zog die Brauen hoch und winkte abwehrend mit der Hand, während die Frau Oberst leise zu der neuen Excellenz sagte: „Es ist ja in aller Leute Mund – kaum glaublich: Annaliese soll plötzlich anderen Sinnes geworden sein – einem Menschen wie Steinhausen gegenüber!“

„Er wollte sie doch offenbar haben.“

„Und sie ihn auch! Alle Welt wartete schon auf die Verlobung – die Vorbereitungen zum Frankenheimschen Polterabend sollten die Sache reif machen; aber eine Probe nach der anderen ging vorüber, und es kam nichts. Annaliese soll etwas gezwungen vergnügt gewesen sein und Steinhausen ganz anders behandelt haben wie früher, so kameradschaftlich kühl und ruhig, daß er ganz scheu geworden ist und offenbar keinen Antrag gewagt hat. Das ist denn doch stark!“

„Ja, meinen Sie denn nicht, daß ihr etwas von der Geschichte mit Erna von Torsten zu Ohren gekommen sein kann, so sehr auch Steinhausen und sein ganzer Anhang bemüht gewesen sind, alles zu vertuschen?“

„Ach, ich bitte Sie, was wäre denn da zu vertuschen? Welche Geschichte meinen Sie? Es ist ja überhaupt gar nichts gewesen, nichts als eine harmlose Courmacherei, die Steinhausen aus reiner Langeweile bei dem einen hübschen Mädchen in Scene gesetzt hat, solange das andere verreist war. Wer will ihm das verdenken! Nein, es wäre an der Zeit, Annaliese ’mal den Uebermuth ein bißchen auszutreiben – man hat sie allzusehr verwöhnt, den hübschen Wildfang, weil sie unserer lieben alten Excellenz Enkeltochter und Erbin ist, das ist ihr zu Kopf gestiegen und sie denkt, sie kann mit Leuten wie Steinhausen nach Belieben umspringen! Das sind Launen, nichts als Launen, und die sollte man bei einem so jungen Mädchen nicht dulden! Wenn sie dieser entzückende Mensch, der Steinhausen, jetzt zur Strafe sitzen ließe, es geschähe ihr ganz Recht!“

„Er wird nicht, dessen bin ich sicher. Mädchen mit solchem Vermögen läßt ein armer ehrgeiziger Lieutenant nicht so ohne weiteres sitzen wegen etwas ungleicher Behandlung – und schließlich ist die Kleine wirklich reizend. An dieser Verwöhnung übrigens ist sie unschuldig – wer hieß alle Welt, sie zu verziehen?“

„Wie ich Ihnen schon sagte – das hat sie doch nur ihrer Großmutter, ihrem allen Namen und ihrem Erbe zu verdanken!“

„Meinen Sie wirklich?“ Die Sprecherin sah zu dem lebensvollen Gesichtchen hinüber und schüttelte ungläubig den Kopf. Wäre Annaliese langweilig und reizlos, ja dann hätte jene Annahme recht; so aber war sie das gerade Gegentheil von beidem. Wie vortheilhaft sie heute wieder aussah! Und was sie doch immer mit dem Professor zu flüstern hatte! Da, eben jetzt wieder!

Ja, wenn die Kränzchendamen das gehört hätten!

„Den ersten Schritt müssen Sie thun – bitte, kein so erschrockenes Gesicht – es hilft Ihnen doch alles nichts! Was Sie sollen? Sie sollen die Güte haben, vorerst ’mal an Ihren Freund dort ganz hinten auf der Landkarte zu schreiben und bei ihm anzufragen, ob er in seinem Hause noch Platz für ein armes – verstehen Sie wohl, armes adliges Fräulein Ihrer Bekanntschaft habe, welches sich in der Malerei ausbilden wolle, um später damit sein Brod zu verdienen. Die Großmama besagten armen Fräuleins sei eine etwas empfindliche, sehr vornehme alte Dame, die man schonen müsse . . . Himmel, Excellenz Großmama hebt die Tafel auf! Ich verlasse mich ganz fest auf Sie – Sie schreiben in meinem Sinn, und wenn Sie die Antwort haben, dann melden Sie sich, bis dahin werde ich hier schon etwas Boden gewonnen haben. Ich habe Ihr Versprechen? Vielen Dank! Ich wußte es ja, Sie würden mir helfen!“


5.

In Königsberg, oben in Ostpreußen, machte wieder einmal der Winter Gebrauch von seinem alten Vorrecht, früher da zu sein, als er im Kalender stand. Man schrieb den fünften Dezember und hatte bereits klingenden Frost, dem ein wildes Schneegestöber und ein steifer Nordwest vorangegangen waren. Jetzt lag es weiß und still auf Häusern und Straßen der alten Festungsstadt, ein hellblauer Frosthimmel spannte sich darüber aus, und eine fast spöttisch lachende Wintersonne warf ihren grellen Glanz in die Schneepracht und entlockte ihr ein augenblendendes Flimmern und Funkeln wie van Milliarden haarscharf geschliffener Brillanten.

Oberlehrer Claassen schritt auf seine Wohnung zu. Er kam aus dem Gymnasium, hatte einen Pack Hefte, mit einem Lederriemen zusammengeschnürt, unter dem Arm und den Bibekragen seines Pelzes hoch um sein Gesicht aufgeschlagen. Sein Athem ging wie eine kleine Dampfwolke vor ihm her – wenn sie sich zertheilte, [602] sah man sein heiteres Gesicht mit dem bereiften blonden Backenbart und der goldgefaßten Brille. Zuweilen riß ein Schüler die Mütze vor ihm ab, dann hob er die Rechte bis zum Rand der Biberkappe und nickte freundlich. „Morgen, Morgen, mein Jungchen!“

Das Haus, in dem er wohnte, lag in der Burgstraße; ein hübsches Haus war’s mit einem geräumigen Treppenflur, bunt gestreiften Läufern über den Stiegen und stattlichen Spiegelglasscheiben. Im untersten Stock wohnte ein Graf zu Woyna, Rittmeister bei den Kürassieren, mit seiner Familie. „Brauch’ ich alles!“ pflegte der Oberlehrer zu seinen guten Bekannten zu sagen. „Ich brauch’ die gute Gegend, die geräumige Wohnung im ersten Stock, die bunten Decken, die Spiegelglasfenster, ich brauch’ auch den Grafen. Wer höhere Töchter aus den besten Familien des Landes in Pension nehmen will, der muß auch etwas dransetzen können, den betreffenden Müttern und Tanten Sand in die Augen zu streuen. Mein Graf ist feudaler Goldsand, Sie glauben nicht, wieviel er mir nützt, obwohl er die Ehre meiner persönlichen Bekanntschaft nicht genießt und wir höchstens ’mal einen Gruß im Flur austauschen: er als vornehmer Kavalier, ich als gekrümmter Wurm! Wenn er einmal auszieht, zieh’ ich auch aus – ich bin entschlossen, mich an seine Fersen zu heften, solange er unsere gute Stadt mit seiner Anwesenheit beehrt!“

Doktor Claassen war eine humoristisch angelegte Natur. Seine Schüler wußten das zu würdigen, sie nannten ihn einen „gemüthlichen Kerl“, ein „famoses altes Haus“ und lernten im Ganzen gern „für ihn“ – denn der Untertertia, in welcher er Klassenlehrer war, wollte es immer noch nicht recht einleuchten, daß man für sich selbst und nicht für den Lehrer lerne. Auch in einer Mädchenschule unterrichtete der strebsame Herr, und er erlebte den Triumph, mit der schwer zu behandelnden Menschengattung der „höhern Tochter“ ebenfalls gut zurechtzukommen. Er ließ hier weniger seine launige Gemüthlichkeit als das feinere Kaliber der geistreichen Ironie, der schlagfertigen Andeutungen und Vergleiche spielen und galt allgemein für einen Mann, dessen Kritik man zu fürchten, um dessen Beifall man zu ringen habe. Oberlehrer Claassen hatte kein leichtes Leben, aber er trug nicht schwer daran und konnte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, „aus der unscheinbarsten Blume seinen Honig schlürfen“.

Er war jetzt in seinem Hause und schritt die Treppe empor. Während er die Vorthüre mit einem Schlüssel öffnete, lauschte er dem Klavierspiel, das aus dem Salon zu ihm herüberklang; die erste Nummer der Schubertschen „Moments musicals“. Der Anfang ging gut – aber schon nach sechs, acht Takten kam ein böses Stolpern und Stocken; unentwegt jedoch fing die Spielerin wieder von vorne an, um abermals an derselben Stelle festzusitzen.

„Das ist die Elfriede Braun!“ murrte der Doktor vor sich hin. „Uebt nichtswürdig! Alle üben sie so!“

In diesem Augenblick erhob sich ein großer Lärm im Wohnzimmer, die Thüre that sich auf und heraus stürzten, purzelten und kegelten drei Jungen im Alter von vier bis sieben Jahren, alle drei gleich in dunkelblaue Matrosenanzüge gesteckt, alle drei mit blondem rundverschnittenen Haar und rosigen Apfelgesichtern.

„Du, Papa, heute giebt’s Chokoladenspeise!“ – „Ach, Du, Papa, denk’ Dir, die Mama hat uns nicht erlaubt, auszugehen!“ „Du, Papa, wie kalt ist’s denn aber draußen?“

So kalt!“ entgegnete Papa, griff sich den fünfjährigen Fragesteller heraus, hob ihn hoch und drückte dessen warmes flaumiges Gesichtchen gegen seine eiskalten Wangen und den nassen bereiften Bart.

„Pfui, Papa!“ Das Bübchen zappelte heftig mit Armen und Beinen, während der Kleinste im Triumph rief: „Siehst! Was fragst Du!“

„Nun los, Jungens! Eins – zwei – drei!“

Auf dies Kommando entwickelte sich eine lebhafte Thätigkeit. Der Vater mußte sich bücken und wurde aus dem Pelz geschält, die Mütze wurde ihm vom Kopf, das Heftpaket aus der Hand genommen, Hausrock und warme Schuhe erschienen mit märchenhafter Schnelligkeit, der älteste lieh mannhaft seine Schulter als Stütze her, während Papa sich die Stiefeln auszog – kurz, die „Heinzelmännchen,“ wie Oberlehrer Claassen seine Söhne gern nannte, thaten ihre Schuldigkeit.

„Wie lange Zeit noch bis Mittag, Kurt?“

„Eine Viertelstunde, hat Mama gesagt!“

„Schön! Briefe für mich da?“

„Einer! Liegt auf Deinem Schreibtisch!“

Bonus! Abtreten!“

Die Heinzelmännchen verschwanden mit einigem Lärm.

In seinem gemüthlichen Studierzimmer, das, wie die Hausfrau zu sagen pflegte, „meistens mit Büchern möbliert war“. schritt der Hausherr zunächst zum Ofen, hauchte in die kalten Hände und wärmte sich. Dann nahm er seinen Brief vom Schreibtisch.

Die Lektüre verursachte ihm einiges Kopfschütteln; er las, las noch einmal – „er muß verrückt geworden sein“, sagte er zuletzt vor sich hin.

„Wer denn, um Gotteswillen?“

Frau Melanie Claassen hatte sich geräuschlos im Zimmer eingefunden – eine kleine zarte Frau mit einem feinen Gesicht, das einen etwas bänglichen sorgenvollen Ausdruck zu tragen pflegte, recht im Gegensatz zu ihrem Gatten, der immer so vergnügt und zufrieden dreinsah, als sitze er ganz breit dem Glück im Schoße. Es war zu verwundern, daß das Freifräulein von Berg vor nunmehr zehn Jahren den muthigen Entschluß gefaßt hatte, sich lieber mit ihrer ganzen Familie – Vater, Bruder und zwei hochmüthigen Schwestern – zu überwerfen, als von ihrem Gustav zu lassen. Sie hatte aber daheim wirklich kein beneidenswerthes Dasein geführt; ihr Vater hatte ungeheuer hohe Begriffe von seinem Rang und Namen und wünschte, „standesgemäß“ auf Schloß Berg zu leben, während das Gut so tief verschuldet und die Kunde davon so weit verbreitet war, daß es mit dem Kredit des Freiherrn schlimm aussah – es gab Leute in der Nachbarschaft, die mit allen Eiden schworen, in diese festgefahrene Karre, wie sie sich respektlos genug ausdrückten, auch nicht einen Pfennig zu stecken. So saß der Freiherr beständig in peinlichen Verlegenheiten, aber seine großen Ansprüche und seinen sprichwörtlich gewordenen Hochmuth aufzugeben, das fiel ihm darum doch nicht ein, ebensowenig seinen zwei ältesten Töchtern, die ein starkes Standesbewußtsein im Busen trugen und beständig an Melanie, der jüngsten, herumtadelten, weil sie „demokratische Neigungen“ zeigte. In diese schwüle Luft kam der junge Kandidat Claassen, der bei dem einzigen Sohn und Erben des Freiherrn die ehrenvolle Stellung eines Hauslehrers auszufüllen berufen war, wie ein frischer kräftiger Windstoß. Der Freiherr und die beiden ältesten Töchter entsetzten sich über diesen Wirbel, der junge Detlev aber und die pflichtvergessene Melanie wirbelten lustig mit, ja, letztere trieb die Geschichte so weit, sich sterblich in den jungen Dozenten der allgemeinen Menschenrechte zu verlieben und ihm zu gestatten, ihr gegenüber dasselbe zu thun. Dann gab es schreckliche Auftritte auf Schloß Berg; Auftritte, in welchen der empörte Hausherr umsonst versuchte, dem „plebejischen Menschen“ begreiflich zu machen. daß es ihm gar nicht erlaubt sei, sich so ohne weiteres in die Freiin Melanie zu verlieben. Der „Plebejer“ hatte die Keckheit, zu entgegnen, ob erlaubt oder nicht, es sei einmal geschehen, sein Gefühl werde erwiedert, und er gedenke die Unverschämtheit so weit zu treiben, das hochgeborene Freifräulein von Berg zur einfachen Frau Oberlehrer Claassen zu machen. Darauf erfolgte ein väterliches Entweder – Oder. Die ungerathene Tochter wählte das letztere und zog einstweilen zu Gustavs alter Mutter, einer gemüthlichen Kanzleirathswitwe. Da der junge Mann als tüchtige Lehrkraft galt und gute Verbindungen hatte, so konnte sie nach Jahresfrist den neuernannten Oberlehrer heirathen, um sich an seiner Seite schlecht und recht durchs Leben zu schlagen. Bei der Geburt des ersten Kindes hatte es eine Art von Versöhnung mit der Familie der jungen Frau gegeben, die indessen sehr oberflächlicher Natur war – der Vater war nicht dazu zu bewegen, seinen freiherrlichen Fuß in die bürgerliche Wohnung des Eidams zu setzen, und so bildete nur ein äußerst spärlicher Briefwechsel zwischen Melanie und ihren Schwestern einen losen Zusammenhang. Keine Minute bereute es die junge Frau, ihrem Gatten gefolgt zu sein, sie liebte ihn und war glücklich; allein sie machte sich endlose Sorgen um ihre Zukunft und die ihrer Kinder, ängstigte sich leicht und nahm den heitern Trost ihres Gatten, der nie den Kopf verlor, etwas reichlich in Anspruch.

Auch heute mußte sie ähnliches wollen, denn trotzdem sie den Liebling der ganzen Familie, das kaum zweijährige Gretchen, ihr Nesthäkchen und einziges Töchterlein, auf dem Arme trug, blickten ihre Augen sorgenvoll, und auf der glatten Stirn unter dem schllcht gescheitelten Haar saß eine Kummerfalte.


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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 37, S. 613–618

[613] Als Oberlehrer Claassen seine Jüngste auf dem Arm seiner Gattin sah, eilte er mit strahlendem Gesicht auf die beiden zu. „Hurra, die Grete!“ rief er fröhlich, nahm die Kleine, die ihm mit allen Gliedern entgegenzappelte, und schwang sie hoch durch die Luft. „Du Taugenichts – Du Unband – Du loser Strick! Mehr, immer mehr? Wir gehen doch noch ’mal unter die Kunstreiter, ich seh’ es kommen, wir verrathen eine ganz bedenkliche Neigung zu körperlichen Kraftübungen!“

„Ach Gott, Gustav,“ unterbrach ihn seine Frau, „laß’ doch das Kind, es ist so schon wild genug mit den drei Jungen! Ich bin so in Sorge –“

„Theures Weib, gebiete Deinen Thränen! Was denn nun wieder für Sorgen? Wirf sie getrost auf meine starken Schultern, ich fahr’ damit ab wie mit der Grete. Reiß’ mir nicht die Haare vom Kopf, Wildfang! Na, also – heraus damit!“

„Ach, denk’ Dir, die Eleonore von Schmieden, vielmehr ihre Mutter, hat die Pension aufgekündigt, sie soll schon zu Neujahr –“

„Herrlich, mein Frauchen, prachtvoll! Ist nicht die Eleonore von Schmieden jederzeit das schwarze Schaf unseres sonst mustergültigen Pensionats gewesen und war nicht ihre Mutter, mit Respekt zu vermelden, eine alte Gans, die uns hundertmal mit ihren lächerlichen Anmaßungen das Leben sauer gemacht hat?“

„Das wohl, das schon – aber nun so schnell – es ist ja kein Gedanke daran, daß ein Ersatz …“

„Hier haben wir ihn!“ Der Oberlehrer schlug mit der flachen Hand so kräftig auf den Brief, daß er mitten durch riß. „Hier in diesem verrückten Brief meines alten Gregory steckt der Ersatz drin! Hör’ mir zu! Grete, lauf’ spielen – Du kannst den großen Atlas ansehen; wenn Du eine Seite entzweireißt, kriegst Du auf die Finger! Also hier: junge Dame seiner Bekanntschaft, alter Adel, arm, Malstudien behufs späteren Erwerbs – lieber Gott, was will sie damit erwerben? – alte adelsstolze Großmutter, sehr schwierig zu behandeln, soll nichts von Sparen und Geldverdienen hören, man soll ihr schreiben, wie wenn die Enkeltochter ein reiches Mädchen wäre, das etwa nur zum Vergnügen … na, die Alte hat also einen Sparren zu viel, das ist sicher. Daß Gregory sich zu solchen Geschichten hergiebt!“

„Ach, Gustel, das ist ja alles egal – wenn ich einen Ersatz bekäme –“

„Bekommst Du! Hier steht es doch schwarz auf weiß! Wenn wir der verdrehten alten Schraube den Willen thun –“

„Wie heißt sie denn?“

„Die Alte? Wart’ mal, hier: verwitwete Generalin, Excellenz von Guttenberg.“

„Bei uns zu Hause war zuweilen von einer Familie von Guttenberg die Rede, die war aber sehr reich!“

„Wird ein anderer Zweig gewesen sein, ein grüner, während dies vermuthlich ein dürrer ist! Das junge Fräulein heißt Annaliese.“

„Solch hübscher Name!“

„Natürlich, der ganze alte Dessauer und seine Liebste stehen einem da vor Augen! Was thut übrigens der Name? Name ist Schall und Rauch – und so weiter.“

„Und wann will sie kommen?“

„Ja, denk’ Dir, noch vor dem Weihnachtsfest! Scheint es ungeheuer eilig zu haben, scheint es gar nicht erwarten zu können, die Welt als eine zweite Rosa Bonheur zu verblüffen. Ich werde mich also sofort nach meinem wohlverdienten Mittagsschlaf niedersetzen und, ehe ich meine Tertianer-Aufsätze [614] korrigiere, den diplomatischen Brief an die merkwürdige Großmutter verfassen. Hoffentlich hat Paul mir die Adresse – ja, hier steht sie, und hier haben wir auch noch eine Nachschrift: ‚Vielleicht freut es Dich und Deine Frau ein wenig, wenn ich Euch bald nach Neujahr meinen Besuch ankündige – ich muß wieder nach Litauen, und daß ich damit einen längeren Aufenthalt in Königsberg verbinde, versteht sich wohl von selbst. Vale‘ – und so weiter! Dieser Duckmäuser! Das schreibt er so ganz beiläufig zuletzt! Muß wieder nach Litauen! Sieh’ mal! Ob wir uns freuen! Was meinst Du, Melly? So viel gute Bekannte und angenehme Kollegen ich auch habe, mein Freund ist doch bloß immer dieser gewesen!“

„Ach, Gustav, ich bin so froh, daß Gregory kommt – und auch über die neue Pensionärin, obgleich man da nie wissen kann, was man übernimmt! Wenn ich an Eleonore von Schmieden denke –“

„Na, solch ein Grasaff’ wie die wird unser neuer Stern am Himmel der Kunst doch nicht sein!“

„Schreibt Paul denn gar nichts über ihr Aussehen, ihr Wesen? Er kennt sie ja, da müßte er es doch thun!“

„Er müßte es, aber er thut es nicht. Der ganze Brief ist fürchterlich einsilbig gehalten, nur über die verrückte Großmutter verbreitet er sich des näheren, die legt er uns warm ans Herz! ‚Was die junge Dame betrifft, so werdet Ihr ja selbst sehen und urtheilen,‘ sagt er hier. Ja, so klug wären wir am Ende auch! Nun bitt’ ich mir aber ein freundlich lachendes Gesicht aus und einen Kuß für meine guten Nachrichten. So, das lob’ ich mir! Ob es bald ein Mittagessen giebt? Ich hab’ mich schon heiser geredet –“

In diesem Augenblick erhob sich ein Gepolter hinter der Thür, die drei Heinzelmännchen stürmten herein und riefen im Chor: „Angerichtet! Angerichtet! Die Suppe steht auf dem Tisch!“

„Zu den Waffen!“ kommandierte der Hausherr. Damit griff er seine Grete vom Boden auf und setzte sie auf seine Schulter, bot seiner kleinen Frau ritterlich den Arm und überschaute mit einem leuchtenden Blick seine Truppen.


6.

In B. war soeben die Parade beendet. Auf dem schönen weiten Leopoldplatz wogte es von Uniformen – Militär, Militär, soweit das Auge reichte! Dazu das köstlichste Wetter: ein ganz leichter Frost, ein klein wenig Schnee, der die entlaubten Bäume rings um den Platz wie mit Streuzucker überpulvert hatte, und eine freundliche Sonne, die über all die hübschen Uniformen hinweglachte, sich in den blanken Knöpfen spiegelte und die Helme wie Gold funkeln machte. Langsam wanden sich ein paar Equipagen durch die dichten Gruppen; die schönste unter ihnen gehörte ohne Zweifel der alten Excellenz Guttenberg. Schon allein ihr Kutscher war eine Sehenswürdigkeit – ein bärtiger Riese von überwältigender Würde. Er regierte die prachtvollen schweren Braunen, mit denen die alte Gnädige stets fuhr – die junge Gnädige hatte zwei schlanke feurige Rappen ohne jedes Abzeichen – mit tadelloser Geschicklichkeit, jeder Zoll ein hochherrschaftlicher Kutscher; sein vielbewunderter Patriarchenbart fiel ihm auf die halbe Brust nieder und erhöhte nur noch die Würde seines Aussehens. Martin saß mit gekreuzten Armen neben ihm auf dem Bock, auch er vom Scheitel bis zur Sohle ein vollkommenes Bedientenexemplar.

Die alte Excellenz lehnte in ihrem Zobelpelz in den Seidenkissen und erwiderte huldvoll nach rechts und nach links die vielen Grüße, die ihr zutheil wurden. Neben ihr, sehr reizend, eine duftige lange Boa von weißen Straußenfedern um den Hals, ein Mützchen von dunkelrothem Sammet keck auf dem Kopf, saß Annaliese und spähte ungeduldig vorwärts, ob denn gar keine Aussicht sei, einmal aus diesem Dickicht von Offizieren herauszukommen. Vergebens! Wohin sie sah, flogen weißbehandschuhte Hände an den Helmrand, grüßten respektvolle und erfreute Augen, die Säbel und Sporen vollführten das ihr so wohlbekannte Geklirr, und jeden Augenblick mußte sie erwarten, daß der Wagen stillhielt und ihre Großmutter irgend einen ihrer „Adjutanten“ ausführlich begrüßte.

Diese „Paradefahrten“ waren ihr früher so hübsch erschienen, hatten ihr Vergnügen gemacht – was hatte ihr nicht Vergnügen gemacht vor drei, vier Monaten? – jetzt verursachten sie ihr nur Pein, und während sie den Freundinnen zunickte, die gleich ihr in ihren Wagen saßen oder zu Fuß vorbeipromenierten, um sich die Osffiziere anzusehen und von ihnen angesehen zu werden, hatte sie nur den einen Wunsch: „Wär’ ich erst wieder zu Haus! Wer weiß, wen man noch trifft und sprechen muß!“

Da richtig! Die Großmama gab das Zeichen zum Halten und winkte freundlich einen schönen lichtblonden Offizier zu sich heran. Annaliese zuckte zusammen. „Warum läßt Du halten, Großmama?“

„Warum soll ich nicht halten lassen? Dort ist ja Steinhausen, ich will ihn doch begrüßen!“ Ganz harmlos sagte das die alte Excellenz. Sie hatte das Zusammenzucken der Enkelin recht gut bemerkt und hielt es für ein günstiges Zeichen. Sie muß sich doch etwas aus ihm machen, für nichts und wieder nichts zuckt man nicht so, dachte sie. Inzwischen war Steinhausen herangekommen; Annaliese grüßte kurz und drehte den Kopf nach der anderen Seite – erschien ihr denn kein Retter?

Gott sei gedankt – da kam es durch die bunten durcheinanderwimmelnden Uniformen daher, schlicht und schwarz, keinen strahlenden Helm auf dem Kopf, sondern nur einen dunkeln breitgerandeten Filzhut, keinen Schleppsäbel unter den Arm hinausgezogen, sondern einen dickleibigen Folianten – es war sonderbar, daß das für Annaliese von Guttenberg, die Soldatentochter, ein so erfreulicher Anblick war! Mit Auge und Hand winkte sie ihn, der sich mit einem höflichen Gruß begnügen und weitergehen wollte, näher heran, und als er es nur zögernd that, setzte sich ein ungeduldiges Fältchen zwischen ihren geraden Brauen fest und ihr funkelnder Blick schien dem Unschlüssigen zuzurufen: „Schneller, schneller – merkst Du denn nicht, daß ich Hilfe brauche?“

Der Professor sah jetzt den blonden Offizier, und nun beschleunigte er seinen Schritt bedeutend; es war ja eine peinliche Lage für das Mädchen, ewig in Erwartung eines Heirathsantrages dazusitzen, den es doch ablehnen mußte!

„Mein lieber Steinhausen, ich muß Sie schelten!“ rief die alte Excellenz mit ihrem liebenswürdigsten Ton. „Warum in aller Welt kommen Sie denn nie mehr zu meinem Montagabend? Ich empfange noch immer am Montag, müssen Sie wissen. Annaliese – – ah so, Du bist es, Paul? Guten Tag!“ Sie hatte sich ahnungslos umgewendet, um ihre Enkelin mit ins Gespräch zu ziehen, und gewahrte nun erst ihren lieben Neffen, der wie aus der Erde emporgewachsen dastand und in demselben Augenblick seine Hand auf den linken Wagenschlag legte, in dem Steinhausen die seine auf den rechten stützte. Das verbindlich lächelnde Gesicht der Generalin wurde kälter, und ihre Begrüßung des Neffen hatte nichts Erfreutes. Sie mochte Paul sonst gern, aber eben jetzt, wo sie eine geschickte militärische Rekognoscierung vornehmen wollte, kam er ihr ganz ungelegen. Daß Annaliese ihn herangewinkt hatte, war ihr zum Glück entgangen.

„Guten Tag, verehrte Tante, wie geht es Ihnen?“ Der Professor lüftete höflich den Hut und lehnte sich gemächlich an den Wagenschlag, augenscheinlich zu einer längern Unterhaltung bereit.

„Ich danke, so leidlich! Aber wir wollen aussteigen, Annaliese, und ein paar Minuten promenieren! – Die Herren kennen sich doch? Nicht? Herr Lieutenant von Steinhausen – mein Neffe, Professor Gregory. So, und nun geben Sie mir den Arm, Steinhausen, Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig!“

„Exzellenz sind zu gütig!“ Der Offizier zögerte einige Augenblicke, um zu warten, bis Annaliese und der Professor in ein Gespräch gekommen waren, was merkwürdig rasch geschah, dann ging er mit der Generalin voran. „Ich weiß ja“ – Steinhausen dämpfte vorsichtig seine Stimme – „daß Excellenz mir stets das gleiche Wohlwollen bewahrt haben, ich habe diese für mich sehr beglückende Thatsache aus verschiedenen Umständen ersehen, und Excellenz dürfen mir glauben, daß ich aufrichtig dankbar dafür bin. Allein ich erfahre von – von – anderer Seite leider so wenig Ermuthigung, daß ich es in der That nicht wagen kann –“

„Aber sagen Sie mir, seit wann ist denn das? Und woran liegt denn das? Es war doch früher anders!“

„Daß es anders gewesen ist, macht mir die Sache noch unendlich peinlicher und schmerzlicher. Hätte ich nie eine Hoffnung hegen dürfen ... aber es wollte mir doch scheinen, als ob eine Zeitlang, wenn auch nicht Erwiderung meines Gefühls, so doch ein gewisses aufkeimendes Interesse, das mich sehr beglückte ... Excellenz verzeihen, wenn ich ganz offen rede –“

„Bitte, lieber Steinhausen! Habe mir das schon lange gewünscht! Aber ich muß meine Frage wiederholen: seit wann ist das, und woran kann es liegen?“

„Ich hatte gerade gehofft, Excellenz würden mir einen [615] Fingerzeig geben können, wie diese mir völlig unerklärliche und unvermuthete Wandlung –“

„Ich? Nein, mein Lieber! Eine alte Frau von siebenundsechzig Jahren ist für ein junges Mädchen von zwanzig nicht die Vertraute. Ich habe wohl einer Persönlichkeit, die ich für geeignet hielt; Auftrag gegeben, das kleine launenhafte Ding auszuforschen . . . aber ich habe diesen Jemand seither noch nicht allein gesprochen, fürchte auch, daß er ebenso klug ist wie wir, denn was junge Mädchen nicht freiwillig sagen wollen, das sagen sie einmal nicht, und wenn man sie auf die Folter spannt. Wer wird aus ihren Ueberspanntheiten klug? Neuester Plan der Kleinen ist nun, fortzugehen und das Malen aus dem Fundament zu erlernen – und wenn sie nicht bald Vernunft annimmt und mit sich reden läßt, dann habe ich nicht übel Lust, ihr den Willen zu thun. Mag sie die Strafe für ihren Eigensinn haben und sehen, wie sie in der Fremde zurechtkommt!“

„In der Fremde? Wo ist’s denn?“

„Königsberg in Ostpreußen!“

„Um Gotteswillen – das ist ja die Verbannung! Das Schreckgespenst aller Kameraden – Königsberg! Und da hinein will sich das gnädige Fräulein freiwillig begeben?“

„Denken Sie sich: ja! Ich kann allerdings nicht leugnen, daß ich es der Kleinen mehrfach nahegelegt habe, den Winter auswärts zu verbringen, falls sie mir nicht die Freude machen wollte, sich zu verloben. Man wird alt, mein lieber Steinhausen – nein, nein, widersprechen Sie nicht! – und das gesellige Treiben bis in die Nacht, oft bis in den hellen Morgen hinein, fängt an, mir schwer zu werden, Ich hätte gern einmal Ruhe – so oder so! Würde das Kind vernünftig sein, so könnte ich Ihre liebe Mama bitten, sie für diesen Winter unter ihre Flügel zu nehmen – sie ist bedeutend jünger als ich, und jedermann würde es natürlich finden, wenn sie die zukünftige Schwiegertochter zu den Gesellschaften begleitet. So aber . . . eine Entfernung wäre am Ende ganz heilsam, Ortswechsel und Zeit haben schon manchem eigensinnigen Mädchenkopf gut gethan. Sie hat eine Einladung zu einer sehr lieben Freundin nach Wien – Sie wissen, die reizende Komtesse Minnie Rödern, die den Oberlieutenant Wallbach geheirathet hat – aber wenn Annaliese sich durchaus weigert, dahin zu zu gehen, was soll, was kann ich dann thun?“

„Aus welchem Grunde weigert sich die Baroneß, wenn man fragen darf?“

„Ach, es ist gar kein eigentlicher Grund – wer wird aus all den Gründen klug! Noch heute früh hieß es: ,Zu Minnie fahr’ ich in keinem Fall – Militär hier, Militär dort; Schaustück hier, Schaustück dort!‘ Sagen Sie selbst, liegt da irgend ein Sinn drin?“

Steinhausen sah beunruhigt aus und strich mechanisch sein weiches blondes Bärtchen. Er hatte keinen bestimmten Verdacht, aber es war ihm sehr unbehaglich zu Sinn. Die „Partie“ mit Annaliese von Guttenberg war nachgerade eine Art Lebensfrage für ihn geworden, seine Gläubiger hatten sich so hübsch darauf hin vertrösten lassen ... in neuester Zeit lebte er sehr solide, aber er hatte einige alte Schulden, die ihm allmählich ungeheuer lästig wurden. Und welch eine Karriere würde er machen können, welch einen Sporn für seinen Ehrgeiz würden diese weit hinaufreichenden Verbindungen seiner Braut für ihn abgeben! Dann dies stolze Vermögen – wie sicher und geborgen man sich fühlen, welches Haus man machen und wie man den Seinigen das dürftige Leben erleichtern könnte! Auch für sein Herz, das ihn immer noch gewaltig zu der schönen Erna von Torsten zog, für sein Gewissen, das ihm doch oft recht böse Stunden bereitete, wäre diese Verlobung der sicherste Damm gewesen! Und es wußten so viele davon, man erwartete das Ereigniß allgemein – die Kameraden fingen schon an, schnöde Bemerkungen zu machen. Fatal! Und das alles vielleicht nur um einer kindischen Laune willen, und zwar ihm, Konstantin von Steinhausen gegenüber, dem elegantesten Kavalier, dem begabtesten Offizier, dem Liebling aller Damen – ihm, der die Großmutter des Mädchens, die einflußreiche alte Excellenz, ganz und gar auf seiner Seite hatte! Mit finsterem Vorwurf warf er einen Blick über die Schulter zurück und seine Augen blieben auf dem reizenden Profil Annaliesens haften – mehr konnte er nicht sehen. Aber das Gesicht des Herrn, in den sie eben so eifrig hineinredete, war ihm voll zugewendet; es war ein kluges, energisches Gesicht, nicht gerade schön, aber –

„Ihr Neffe scheint eine vorzügliche Unterhaltungsgabe zu besitzen,“ sagte Steinhausen mit zusammengezogenen Brauen zu der alten Excellenz und deutete mit einer leisen Bewegung des Kopfes rückwärts zu dem nachfolgenden Paar.

„Nicht daß ich wüßte – er ist ja ein sehr guter, achtungswerther Mensch, ich habe sogar eine Vorliebe für ihn – aber was ist denn dabei so sorgenvoll auszusehen? Ah so, Sie meinen, die Unterhaltung sei zu angelegentlich? Da können Sie sehr ruhig sein, mein Lieber – das hat keine Konsequenzen!“

„Excellenz haben sicher recht – ich – ich – bin nur etwas nervös und entmuthigt –“

„Schämen Sie sich, Steinhausen, so etwas nur auszusprechen! Nervös und entmuthigt, ein Mann wie Sie – ist es erhört? Zu meiner Zeit kannte man das nicht, da gab es keine Offiziere, die Nerven hatten und entmuthigt waren! Guter Gott, haben denn die Herren Offiziere von heutzutage gar kein Selbstvertrauen mehr?“

„Doch, Excellenz, doch, sie haben! Und ich für meine Person – man hat mir sogar oft gesagt, ich hätte zuviel davon. Indessen – in diesem besondern Fall – das gnädige Fräulein hat ein Benehmen mir gegenüber, das eigentlich sonnenklar beweist, wie sie gesonnen ist, und nur die Erinnerung an frühere Zeiten sowie die Größe und Tiefe meines Gefühls ... ich meine, mein inniges Bestreben – die wichtigste Frage meines Lebens –“ Steinhausen hatte sich beim Betonen des großen und tiefen Gefühls verwirrt – „das alles läßt mich die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgeben. Die Baroneß ist mir gegenüber von einer Unbefangenheit, einer kameradschaftlichen Vertraulichkeit, die mich unter anderen Verhältnissen sehr erfreuen würde, die mich aber jetzt schmerzlich niederdrückt. Sehe ich doch deutlich daraus, daß, wenn jemals ein flüchtiges Interesse für mich vorhanden war, dasselbe jetzt spurlos verflogen ist. Ich bin nicht ohne Erfahrung auf solchem Gebiet –“

Die Generalin drohte leicht mit dem Finger. „Ist man wirklich ein solcher Don Juan gewesen, wie Frau Fama behauptet?“

„Frau Fama pflegt in solchen Dingen gründlich zu übertreiben – das Studium des weiblichen Herzens ist indessen ein so anziehendes und vielgestaltiges –“

„Und man hat Ihnen dieses Studium nicht allzusehr erschwert, nicht wahr, mein guter Steinhausen?“

„Ich hätte nie gedacht, daß Excellenz so satirisch werden könnten!“

„Wir werden noch mancherlei Neues an einander entdecken, wenn wir in nähere Beziehungen treten, ein Gedanke, den ich durchaus nicht aufgebe, Wenn es aber so ist, wie Sie sagen – dann – hm – ich schicke dann alles Ernstes die Kleine nach Königsberg. Mag sie da Vergleiche ziehen zwischen den Offizieren dort und einem Konstantin Steinhausen – nun, ich will Ihnen keine Komplimente machen. Ob sie übrigens dort viel mit Offizieren verkehren wird, scheint mir fraglich; ich habe, auf eine vorläufige Anfrage, einen Brief von Königsberg erhalten – sonst nicht übel geschrieben – der mir über diesen Punkt nicht genügende Auskunft giebt.“

„Excellenz meinen bestimmst bei der Baroneß käme nur das militärische Element in Betracht?“

Die Generalin lachte ihr tiefes, etwas rauhes und kurz abgebrochenes Lachen. „Wie kommen Sie mir vor, mein lieber Steinhausen? Sie wissen, wie weit zurück die Guttenbergs datieren, ich brauch’s Ihnen nicht erst zu sagen. Nun, die gerade Linie hat auch nicht eine einzige nichtmilitärische Heirath aufzuweisen . . . nicht eine einzige! Diese Stammtafel ist meine ganze Freude, mein ganzer Stolz. Und Annaliese hat nicht ein versprengtes Tröpfchen unmilitärischen Blutes in ihren Adern, auch ihre Mutter stammte aus einem alten Soldatengeschlecht, mein Sohn hatte diesen Umstand bei seiner Wahl besonders berücksichtigt. Nein, in diesem Punkte bin ich sicher. Und eben darum mag sie ihre Vergleiche anstellen.“

Unterdessen war bei dem andern Paar das Gespräch nicht minder eifrig geführt worden.

„Bis jetzt geht alles nach Wunsch!“ hatte Annaliese mit strahlendem Gesicht begonnen. „Großmama ist halb und halb entschlossen, mich nach Königsberg zu schicken; sie wird sich ganz entschließen, ich weiß es, denn sie ist ärgerlich auf mich, daß ich ihr nicht den Willen thue – Sie wissen schon, was ich meine – und darum will sie mich los sein. Ihr Freund hat an Großmama einen herrlichen Brief geschrieben, ich hab’ ihn gelesen – er ist so famos, so zweckentsprechend, Sie müssen ausgezeichnet vorgearbeitet haben! Schönsten Dank!“ Aus dem kleinen Muff schlüpfte ein niedliches Händchen hervor und schmiegte sich warm in des Professors Rechte – es war ein angenehmer Augenblick, leider nur, wie das meiste Angenehme im Leben, sehr kurz!

[616] „Also Sie sind zufrieden? Freut mich ungemein! Mein Freund hat auch an mich geschrieben, wenn auch nur wenig . . . cr wünscht von mir einige vorbereitende Einzelheiten.“

„Ueber was denn?“

„Ist das eine Frage! Ueber Sie natürlich!“

„Geben Sie ihm keine, gar keine, ich bitte Sie! Er und alle sollen einen ganz unmittelbaren Eindruck bekommen – kein Vorurtheil, kein Einfluß! Denn wenn ich auch nicht denke, daß Sie mich sehr loben würden –“

„Wer weiß!“

„So sind Sie doch,“ fuhr sie unbeirrt fort, „Kavalier genug, um nichts Unvortheilhaftes über mich zu schreiben.“

„Hm, also Sie wollen ganz persönlich wirken wie Cäsar: ich kam, ich sah, ich siegte!“

„Pfui, nun sind Sie schon wieder mit Ihrem spöttischen Gesicht und Ihren sarkastischen Redensarten da!“

„Sie thun mir großes Unrecht! Wie würde ich mir erlauben –“

„Damit können Sie sich mir ganz verleiden!“

„Aber ich habe es nicht spöttisch gemeint, im Gegentheil!“

„Schweigen Sie nur still, ich glaub’ Ihnen kein Wort! Ich bin ganz böse!“

„Ganz und gar?“

„Ja!“ Der Professor seufzte so schwer, daß Annaliese gegen ihren Willen lachen mußte. „Für diesmal will ich Ihnen noch verzeihen, weil Sie den Königsberger Plan so schön gefördert haben!“

Gregory hoffte, daß zum Zeichen der Versöhnnug wieder das Händchen aus dem Muff schlüpfen werde, aber nein – es blieb, wo es war.

„Ich kann es nämlich kaum mehr abwarten,“ fuhr das junge Mädchen fort, „bis ich hier die ganze Stadt und alles, was damit zusammenhängt, im Rücken habe. Sie werden wieder von meiner fixen Idee sprechen, und vielleicht mit Recht, wenn ich Ihnen sage, daß ich es gar nicht mehr ertragen kann, einen Offizier zu sehen!“

„Glauben Sie denn, daß Sie in Königsberg keinen einzigen Offizier –“

„Mein Himmel, natürlich glaub’ ich das nicht, ich bin ja nicht ohne Menschenverstand! Aber die dort gehen mich nichts an, während hier alles, aber auch alles, was in zweierlei Tuch steckt und den Degen trägt, mich kennt und sich für verpflichtet hält, mir zu huldigen und zu schmeicheln!“

„Und Sie wollen wirklich schon zu Weihnachten fort? Das Fest fern von den Ihrigen –“

„Sie denken sich das wohl anders, als es ist!“ Annaliesens bewegliches Gesichtchen verlor den unmuthigen Ausdruck und wurde ernst, beinahe traurig. „Was ist denn das für ein Weihnachtsfest, das ich habe? Großmama ladet so und soviele Menschen ein, die mir gleichgültig sind – es ist nicht ein einziger darunter, den ich lieb habe, denn meine Freundinnen sind natürlich alle in ihrer Familie, Dann wird im großen Tanzsaal ein pomphafter riesengroßer Tannenbaum, der vom Boden bis zur Decke reicht, mit hundert Kerzen und glänzenden Ketten und Sternen geschmückt und kostbare Geschenke für alle werden hingelegt. Die Leute dürfen nicht hereinkommen, sie erhalten ein reiches Geldgeschenk, und damit sind sie abgefunden. Armen Menschen wird nicht beschert, Großmama zeichnet in ihrem und in meinem Namen einige hundert Mark für die verschiedenen Vereine, und damit ist auch das abgethan. Kein vergnügtes Kind tanzt bei uns um den Weihnachtsbaum, kein Choral wird gespielt, keine feierliche Stimmung herrscht. Jeder nimmt seine eleganten unnützen Dinge in Empfang und bedankt sich bei der theuern Excellenz und sagt ihr Komplimente; nebenbei steht die Chmnpagnerbowle bereit, und im Eßsaal ist ein feines Souper hergerichtet – das ist Weihnachten bei uns!“

„Sie möchten es anders haben?“

„Ganz anders! Ich weiß doch, wie manche von meinen Freundinnen das Fest feiern – Meta von Thielen zum Beispiel. Je älter ich werde, um so trauriger bin ich am Heiligen Abend.“

Gregory nickte ihr ermuthigend zu. „Im Hause meines Freundes sind Kinder, herrscht ein glückliches Familienleben, ich hoffe, dort wird es Ihnen behagen, dort wird Ihnen auch das Weihnachtsfest zur wirklichen Feier werden.“

„Nun, ich muß Ihrem Freunde und den Seinigen natürlich störend sein als fremdes Element, aber ich kann wirklich nicht helfen. Sehen Sie, unter Großmamas eingeladenen Gästen würde sich auch zweifellos ein gewisser Jemand befinden, der das Fest und den Lichterbaum zum Vorwand nehmen würde, um eine Aussprache herbeizuführen. Und wenn ich auch genau weiß, was ich antworten müßte, so bleibt es immer peinlich, und Sie wissen, ich möchte das bestimmt vermeiden, daher geh’ ich ja eben so weit fort – daher habe ich Sie ja auch vorhin so eifrig herangewinkt!“

Der Professor mußte das ebenso gut wissen, dennoch machte er ein enttäuschtes Gesicht. „Also das war der einzige Grund?“

„Der einzige, das hab’ ich nicht gesagt – ich wollte Sie noch so gerne wegen Königsberg ausfragen, ob Sie auch schon einen Brief bekommen hätten, was darin stünde, und so weiter!“

„Sie sind sehr aufrichtig, Fräulein Annaliese!“

„Gewiß bin ich das, aber wenn Sie mir etwas Angenehmes sagen wollen, dann, bitte, machen Sie auch das betreffende Gesicht dazu!“

„Ist Ihnen mein Gesicht so unangenehm?“

„Wer spricht nun wieder davon? Sie hätten Jurist werden sollen – Sie drehen einem ja die Worte im Mund herum, Sie empfindlicher Herr!“

„Ich empfindlich? Das hat mir noch niemand gesagt!“

„Dann bin ich der erste, der es mit vollem Recht thut! Aber genug Gezänk – das können wir dort oben in Ostpreußen bequemer haben! Sagen Sie mir lieber, was Ihr Freund Ihnen sonst noch schreibt!“

„Ich wiederhole: viel ist es nicht. In der freudigen Hoffnung des baldigen Wiedersehens begnügt sich der gute Gustav mit einer zierlichen Karte. Ja doch, eines noch: er schrieb mir, in Königsberg herrsche scharfer Frost und der Schnee liege fußhoch!“

„Prachtvoll!“ Annaliesens schillernde Augen leuchteten auf vor Freude. „Sagen Sie schnell, giebt es gute Eisbahn dort und kann man Schlitten fahren?“

„Die Eisbahn auf dem Schloßteich gilt für ausgezeichnet, und Schlitten kann man schon fahren – es ist nur recht theuer!“

„Das schadet ja nichts!“

„Wenn man als ganz unbemitteltes Mädchen dort auftreten will, das die Malerei als Broterwerb betrachten muß –“

„Ach so!“

„Ich fürchte, Sie werden noch sehr oft: ,Ach so!‘ sagen müssen, denn Sie werden bei jeder Gelegenheit vergessen, daß Sie dort eine kleine Komödie zu spielen haben. Ich erlaubte mir gleich, den ganzen Plan abenteuerlich und romanhaft zu nennen, aber davon mochten Sie nichts hören.“

„Mag ich noch nicht! Es ist doch so einfach: ich will die Probe machen, ob man mich, der Mensch den Menschen, gern haben kann, ohne den Firlefanz von Geld und Ahnen und einflußreichen Verwandten, und zu dem Zweck werfe ich besagten Firlefanz von mir und zeige mich, wie ich bin! Ist das nun ein Verbrechen?“

„Ein Verbrechen nicht, wohl aber ein schwer durchzuführendes Wagestück! Sie werden, fürchte ich, in hundert kleine Verlegenheiten kommen und der Aufgabe nicht gewachsen sein.“

„Doch, ich werde! Sie kennen mich wenig, daher trauen Sie mir nichts zu. Ich werde mich mit Glanz aus der Sache ziehen, Sie sollen sehen! Und außerdem – warum denn Verlegenheiten? Worin sollten die bestehen?“

„In vielen Dingen! Gleich Ihre Reise zum Beispiel! Wie gedenken Sie die in Scene zu setzen?“

„Nun, ganz einfach! Ich setze mich mit der Kanapé in einen Wagen erster Klasse und fahre nach Königsberg!“

„Hm! Eine arme Malerin, die mit ihrer Kammerfrau erster Klasse fährt!“

„Sie meinen, es gehe nicht, man würde sich wundern? Ja, aber allein läßt Großmama mich in keinem Fall reisen. – Wissen Sie, was – zwei Stationen vor Königsberg steige ich in einen Wagen zweiter Klasse, die Kanapé in einen anderen, ich nehme zuvor Abschied von ihr, und gut ist’s!“

„Dritter Klasse wäre noch besser!“

„Ach nein, das wäre doch zu hart . . . in jedem Sinn!“

„Und in einem Aufzug wie heute können Sie sich doch auch dort nicht sehen lassen!“

Annaliese blickte betroffen an sich herunter. „Aufzug? Wieso?“

„Glauben Sie, daß arme junge Mädchen, die sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen, in einem solchen Mantel, in einer solchen – wie nennt man dies Ding doch gleich?“

„Meinen Sie die Boa?“

„Ja, die meine ich – also in solch kostbarer Boa und in so eleganten Kleidern einhergehen?“

[618] Das junge Mädchen schwieg eine Minute, sie war ganz nachdenklich geworden. „Soll ich gar nichts Hübsches mehr anziehen dürfen?“ fragte sie endlich fast kleinlaut.

Gregory zuckte mit ernster Miene die Achseln. „Es ist Ihr Plan – wollen Sie den durchführen, dann müssen Sie auch die Folgen auf sich nehmen! Von Eleganz und Pracht müssen Sie einstweilen Abschied nehmen!“

Sie lachte ihn schon wieder ganz fröhlich an. „Es giebt auch für wenig Geld hübsche Sachen,“ entschied sie zuversichtlich, „und die kauf’ ich mir dann. Aber ein bißchen kleidsam müssen sie sein! Ich will mich noch nicht absichtlich zur Nachteule machen!“

„Das sollte Ihnen wirklich schwer werden!“

„Meinen Sie? Wie drollig es Ihnen zu Gesicht steht, wenn Sie ein Kompliment sagen! So wie etwas ganz, ganz Ungewohntes kommt das heraus!“

„Sehr fein und richtig beobachtet! Ich sagte Ihnen neulich schon, der Verkehr mit jungen Damen sei mir ein ganz fremdes Gebiet – Sie würden einen Bären an mir finden, den Sie auszulachen haben!“

„Auslachen – Sie, bei Ihrer Empfindlichkeit? Nein, das würde ich nicht wagen, vollends bei meinem Respekt vor Ihnen!“

„Respekt? Um Gotteswillen!“

In diesem Augenblick drehte sich die Generalin mit ihrem Begleiter um und kam rasch näher. „Annaliese, verabschiede Dich jetzt, wir fahren weiter! Adieu, Paul! Man sieht Dich wohl noch vor Deiner nordischen Reise? Wann gedenkst Du denn zu fahren?“

„Etwa Mitte Januar – selbstverständlich komme ich vorher noch – leben Sie wohl, verehrte Tante! Ich empfehle mich Ihnen, gnädiges Fräulein!“

Die Damen stiegen ein, grüßten nach rechts und links, der würdevolle Kutscher lockerte ein wenig die Zügel, und die Equipage

rollte davon.
(Fortsetzung folgt.)
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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 38, S. 629–634
[629]
7.

Professor Gregory, obgleich weit davon entfernt, eingebildet zu sein, war bisher im ganzen mit sich zufrieden gewesen. Er beobachtete gern und nicht ohne Geschick, er sah, wie zahllose Menschen, die es ganz gut hätten haben können, sich ihr Dasein vergällten durch kleinliche Eitelkeit, übergroße Empfindlichkeit, Ehrgeiz und Neid, ganz zu schweigen von anderen großen Leidenschaften, die aus den vernünftigsten Leuten oft lächerliche oder bedauernswerthe Narren machten; er sah, wie die Menschen sich aus diesen oder jenen Gründen, die tief in ihrem Charakter wurzelten, Gesundheit und Karriere, Lebensfreude und Behagen zerstörten, wie sie oft kaum anders konnten, als dies thun, weil ihr Dämon, ihr Verhängniß, eine Macht in ihnen, die stärker war als ihr Wille, sie vorwärts trieb – und Paul Gregory hatte selten ein verdammendes Wort für solche, seine Bekannten meinten sogar, er urtheile zu mild und finde für alles eine Entschuldigung. Der Professor pflegte dann mit den Achseln zu zucken und zu sagen: Homo sum! Nichts menschliches acht’ ich mir fremd! Wenn ich selbst gewissen Versuchungen nicht unterliege, so kommt das eben daher, weil es für mich keine Versuchungen sind – die Steine, über die andere zu Fall kommen, kann ich mit Seelenruhe umgehen, ich habe kein heißes Blut, keine brausenden Leidenschaften, kein zügelloses Temperament. Dinge, von denen mir meine Vernunft sagt, daß sie mir versagt seien, strebe ich nicht an – es giebt aber Menschen, denen gerade die verbotene Frucht, das unerreichbare Ziel eine Lockung ist. Sie thun mir leid, aber verdammen kann ich sie darum nicht, es liegt ihnen im Blut. Ich habe körperlich und geistig normale, verständig denkende Eltern gehabt, und ich bin ihnen für das Erbtheil, das sie mir an Veranlagung und Gesinnung hinterlassen haben, noch dankbarer als für das kleine Vermögen, das sie für mich sammelten. Himmelstürmende Genies und große Talente werden aus solchen Naturen, wie ich eine bin, nicht hervorgehen, aber es ist immerhin etwas werth, ein anständiges Mittelmaß zu erreichen, vielleicht noch etwas darüber hinauszuwachsen – und diejenigen, die ganz oben sind, neidlos bewundern, Gott sei Dank, das kann ich!“

Diese Philosophie, verbunden mit einem ehrlichen Respekt vor der Wissenschaft und einer nicht gewöhnlichen Kraft und Freudigkeit zur Arbeit, hatte dem Professor bis jetzt sehr gute Dienste gethan und ihm glatt durchs Leben geholfen. Mit unklaren Gefühlen hatte er sich nie abgegeben, er sah in seinen inneren Menschen hinein wie in ein offenes Buch, das überall mit einer leserlichen Schrift versehen war. Wenn er jetzt auf einmal an dunkle Stellen kam – sollte er darüber nicht verblüfft sein?

Irgend etwas stimmte da nicht, irgend etwas war aus dem Gleichgewicht gekommen! Seit wann? Wodurch? Er wußte es nicht [630] zu sagen. Zunächst empfand er es mit Unbehagen, daß er nicht mehr so ruhig unb stetig bei seiner Arbeit sitzen konnte wie sonst. Es war doch keine Arbeit, die eine blühende Phantasie, einen schwungpollen Stil erforderte – sie verlangte nur Sammlung. Aber diese eben hatte er nicht. Das unbedeutendste äußere Ereigniß vermochte ihn jetzt abzulenken, ihn, von dem seine Wirthin sonst behauptete, es könnte im Hause brennen, ohne daß er sich von seinem Schreibtisch rühren würde. Wenn es an der Hausglocke läutete, fuhr rr auf und lauschte hinaus, ob jemand käme, ob er einen Brief, eine Botschaft erhalten würde, und er zürnte der Störung schon im voraus, um, wenn es keine war, sich selbst zu zürnen, daß er sich hatte stören lassen. Kam Militärmusik durch seine Straße, so stand er auf und sah zum Fenster hinaus, um festzustellen, welches Regiment es sei, das da vorbeiziehe, und setzte er sich wieder zum Studium hin, so war der Faden abgerissen unb ließ sich entweder schwer oder gar nicht wiederfinden. Kurz, der Professor kam aus dem Verwundern und Kopfschütteln über sich selbst nicht mehr heraus. Er hatte sich bei seinen Arbeiten selbst das Gesetz aufgegeben, bis zu dem und dem Punkt müsse er kommen; war das geschehen, dann konnte die Reise nach Litauen, zunächst nach Königsberg, angetreten werden. Es war förmlich, als hätte er sich selbst diese Reise zur Belohnung ausgesetzt: wenn Du hübsch fleißig arbeitest und das und das zur Zeit fertig hast, dann darfst Du nach Königsberg! Wenn Gregory daran dachte, dann mußte er über sich selber lachen. Ein paarmal hatte er sich auch schon gefragt, ob er am Ende verliebt sei, aber dieser Gedanke war ihm so thöricht, so unglaublich erschienen, daß er ihn nicht weiter verfolgt hatte. Freilich war eigentlich kein Grund vorhanden, warum eine solche Thatsache so unglaublich sein sollte, aber der Professor hatte es sich einmal in den Kopf gesetzt, er müsse eine komische Figur spielen, wenn er, in seinen reifen Jahren, sich jetzt noch verliebe . . . und eine komische Figur wollte er nicht spielen, um keinen Preis. Zudem konnte er sich in die Rolle eines verheiratheten Mannes und Hausvaters, wie zum Beispiel sein Freund Gustav Claassen einer war, gar nicht hineindenken. Gustav, ja, bei dem war’s etwas anderes, der hatte sich in jungen Jahren leidenschaftlich verliebt und dann frischweg geheirathet, sobald die Verhältnisse es irgend zuließen. Er, Gregory, war auch in jungen Jahren recht verliebt gewesen und hätte gern geheirathet, aber das Mädchen zog einen anderen Bewerber vor – Paul hatte so lange gezögert, sich offen um sie zu bemühen und trug in seiner zurückhaltenden Weise sein Gefühl so wenig zur Schau, daß das Mädchen sich kurz entschlossen und den anderen genommen hatte. Damals war ihm das sehr nahe gegangen und seine Reisen und Studien waren ihm ungemein gelegen gekommen, um neben allem Dienst der Wissenschaft die Kunst des Vergessens zu üben. Verbittert war er nicht, er hatte auch keinen Haß auf das weibliche Geschlecht geworfen und aus diesem einen Fall kein vernichtendes Urtheil über die Frauen im allgemeinen gewonnen, aber er kam sich ungelenk vor im Verkehr mit jungen Damen, er verstand es nicht, über ein Nichts sich zu unterhalten, Komplimente zu sagen und die Wahrheit zu umgehen – Dinge, die von galanten Herren im gesellschaftlichen Leben sehr oft verlangt werden. Daher zog er sich mehr und mehr zurück, hielt sich überhaupt für vorherbestimmt zum ewigen Junggesellen und Familienonkel. „Ich habe den richtigen Anschluß verpaßt,“ sagte er sich zuweilen, nicht ohne Bedauern.

Daß ihm Annaliese von Guttenberg ausnehmend gefiel, daraus machte er sich kein Hehl. „Ich wäre ja ein hoffnungsloser Narr, wenn mir dies liebreizende Geschöpf Gottes nicht in die Augen stechen würde!“ philosophierte er für sich. „Und sie sticht nicht bloß in die Augen, sie hat auch Geist und Anmuth, sie ist entschieden eine Individualität! Glücklich der Lieutenant, der sie ’mal bekommt! Steinhausen wird’s nicht sein – nun, so ist’s eben ein anderer! Nach meinen Begriffen ist sie aber fürs Militär viel zu eigenartig, zu selbständig, mit einem Wort: zu schade. Aber meine Begriffe haben dabei nichts mitzureden.“ –

Und nun endlich war es Mitte Januar, und nun endlich war die Arbeit auf dem Punkt, auf dem sie sein sollte – Mühe genug hatte es gekostet – und nun endlich konnte der Professor sich „belohnen“ und nach Ostpreußen dampfen, ein Vergnügen, um das ihn gewist wenige beneidet hätten.

Zuvor aber galt es noch, der Tante Excellenz den schuldigen Abschiedsbesuch zu machen, und der liebenswürdige Neffe rüstete sich nicht ungern dazu – hoffentlich würde die alte Dame ihm mancherlei erzählen können, was für ihn nicht ohne Interesse war!

Er fand die Generalin sehr behaglich mit ihrer Kousine, dem Frei- und Stiftsfräulein Kunigunde von Wettersbach. Die beiden Damen saßen tagaus tagein bei wohlthätigen Wollstrickereien, Bézique-Partieen und den schönsten Erinnerungen an eine gemeinsam verlebte Vergangenheit – außerdem prangte das übliche Kartenkränzchen im schönsten Flor, die „Adjutanten“ flogen ein und aus und meldeten sich zum Rapport der Tagesneuigkeiten, die alten und jungen Damen machten der „lieben theueren Excellenz“ um die Wette den Hof, kurz, die Generalin war in zufriedenster Stimmung und schien die Enkelin nicht im geringsten zu vermissen.

Ein paar Offiziere verabschiedeten sich gerade, als Gregory kam, und als sie fort waren, blieb er mit den beiden Damen allein.

„Es ist mir ganz lieb, Paul, daß ich Dich noch ohne Zeugen spreche,“ begann die alte Dame sodann. „Ich hoffe nämlich, Du wirst mir, wenn Du nach Königsberg gehst, brieflich Bericht über Annaliese abstatten.“

„Ich, Tante? Bericht? Thut denn das die junge Dame nicht selbst?“

Die Generalin schüttelte den Kopf. „Sie thut es, aber sie thut es nicht in einer Art, die mir genügt. Sie bewegt sich in allgemeinen Redensarten; das, was mir am Herzen liegt, berührt sie gar nicht.“

„Was liegt Ihnen am Herzen, Tante?“

„Mein Gott, die Rolle, die sie dort spielt, die Offiziersfamilien, mit denen sie verkehrt – sie hat Briefe von hiesigen höheren Militärs an dortige höhere Militärs mitbekommen! Von dem Eindruck, den ihre Malereien dort machen, möchte ich auch etwas wissen – sie besitzt ja ein großartiges Talent, wie ihre Lehrer mich versicherten. Ueber das alles huscht sie so hinweg, spricht von Schlittschuhlaufen, von Kindern – als ob es auf solche Dinge ankäme! – von der Weihnachtsfeier – Gott, mir scheint das alles so kleinbürgerlich, so beschränkt! Mir sind schon Zweifel aufgestiegen, ob ich recht that, das Kind überhaupt nach diesem Königsberg zu schicken. Da Du Dich aber für die Familie dieses Herrn – wie heißt er gleich? – Claassen, ach ja! – verbürgtest –“

„In jeder Hinsicht, Tante!“

„Nun siehst Du – in jeder Hinsicht! Also daher ließ ich es zu und weil es mir auch sonst rathsam schien, die Kleine eine Zeitlang von hier zu entfernen. Uebrigens, Paul, was hat denn damals Deine Unterredung mit Annaliese über Steinhausen zu Tage gefördert? Wahrscheinlich nichts, denn wäre es etwas gewesen, dann hätte ich es doch erfahren müssen.“

Der Professor räusperte sich. „Mir schien die junge Dame fest entschlossen, den Lieutenant von Steinhausen nicht zu heirathen.“

„Aber warum in aller Welt? Warum?“

Gregory zuckte rathlos die Achseln.

„Siehst Du, Kunigunde! Glaub’ mir, sie weiß es selbst nicht – es sind Launen! Und solchen Nichtigkeiten soll ein Mensch wie Steinhausen, soll mein langgehegter Lieblingsplan zum Opfer fallen? Es ist ein zu albernes Kind! Auch diese Briefe jetzt von dorther! Wäre es nicht unerhört, ich müßte denken, sie flunkert mir etwas vor!“

„Beste Tante!“

„Theure Klementine!“

Beide Zuhörer protestierten lebhaft.

„Ich sage nicht: sie thut es, ich sage: es will mir so scheinen! Jedenfalls, Paul, beauftrage ich Dich, sie zu überwachen, sie zu beobachten – mit wem sie Umgang hat, wie sie sich benimmt, ob sie Beifall in den Offiziersfamilien findet, an die sie empfohlen ist –“

„Verehrte Tante – dieser Auftrag – ich fürchte, ich bin so gar nicht die geeignete Persönlichkeit dafür – ich halte mich auch nur vorübergehend in Königsberg auf –“

Die Generalin setzte ihr imposantestes Excellenz-Gesicht auf.

„Paul, ich gestehe, ich muß mich über Dich wundern! Wenn ich, die Tante, Dich, den Neffen – wenn ich, die alte Frau, Dich, den jungen Mann, um etwas ersuche ...“

„Aber selbstverständlich, beste Tante! Ich meinte ja nur, ob meine Persönlichkeit – und meine Zeit –“

„So muß,“ fuhr die Rednerin unbeirrt und strafend fort, [631] „nach meinen Begriffen jeder Einwand hinfällig werden, so hast Du Deine Persönlichkeit den gegebenen Verhältnissen anzupassen und hast die nothwendige Zeit zu beschaffen, um Deinen Auftrag durchzuführen!“

Das hieß diktatorisch gesprochen! Der Professor fühlte sich ganz klein werden angesichts dieser willenskräftigen Dame; er betheuerte seine Bereitwilligkeit und versprach, Annaliese zu überwachen und der Tante brieflich Bericht über sie zu erstatten.

„Nun siehst Du,“ sagte die alte Excellenz in gnädigem Ton, „ich wußte es, Du würdest Vernunft annehmen. Der Sohn meiner guten Kousine Hedwig kann ja kein ungalanter Mensch ohne Einsicht sein! O, mein Lieber, ich habe ganz andere Leute zu ganz anderen Aufträgen herangezogen und es ist mir geglückt! Was ich mir vornehme, das setze ich durch – nicht wahr, Kunigunde, Du kannst das bestätigen?“

„Das kann ich, liebste Klementine – ich wäre imstande, es mit zahlreichen Beispielen zu belegen!“

„Und so habe ich es mir in den Kopf gesetzt, daß das thörichte Kind, meine Enkelin Annaliese, diesen in jeder Hinsicht so vortrefflichen Steinhausen zum Mann bekommen soll, und Ihr werdet es beide sehen, ich bringe es dahin! Mein Plan ist fix und fertig, und daß er gelingt, ist meine Sorge. Annaliese wird Freifrau von Steinhausen, und damit Punktum!“

Diese beruhigende Versicherung im Ohr, nahm Paul Gregory Abschied von seiner gestrengen Tante, nachdem er noch vergebens versucht hatte, etwas Näheres von dem fix und fertigen „Plan“ zu erfahren, um Annaliese, seine heimliche Verbündete, davor zu warnen. Die Excellenz sagte kein Wort davon, sie nickte ihm nur beruhigend zu und versicherte in feierlichem Ton: „Sie bekommt ihn! Verlaß’ Dich felsenfest darauf, sie bekommt ihn!“ – – –

Des Professors Reise war recht langweilig. Die Gegenden, welche die Eisenbahn durchquerte, waren schon in der guten Jahreszeit nicht schön zu nennen, um wieviel weniger jetzt, da das Auge in absehbare Weiten auf Schnee und nur auf Schnee traf – hier grau und zerwühlt von Wagenspuren und Menschentritten, dort fleckenlos, bläulich weiß hingebreitet über das Flachland, endlos, endlos, höchstens einmal von Krähenschwärmen belebt, die hier einen Kongreß zu halten schienen, um plötzlich, mit mißtönendem Krächzen, gegen den bleigrauen Himmel aufzufliegen.

Nach einiger Zeit schüttete es aus den schwerhinziehenden Wolken herab, es schüttete dicht und dichter und wurde ein Flockenwirbel, der wie Rauchwolken niederstob, die Aussicht in einen milchweißen Nebel hüllte, sich an die Fensterscheiben festklebte und in die Fugen klemmte. Die Reisenden wurden unruhig, man fürchtete schon, der Zug werde im Schnee stecken bleiben, aber tapfer bahnte die keuchende Lokomotive sich ihren Weg und schleppte den langen Zug mit, und gegen sechs Uhr abends lief man, freilich mit dreiviertel Stunden Verspätung, in Königsberg ein.

Gregory hatte seine Ankunft nicht gemeldet – wozu den armen geplagten Schulmeister noch mit Abholen und Empfangen stören? Er hatte sich im Gasthof zum „Schweden“ ein Unterkommen bestellt – er kannte das Haus von früher her; und es hatte ihm wohl darin gefallen, Meistens kehrten ostpreußische Gutsbesitzer dort ein, alte Stammgäste, welche immer wiederkamen, die Kellner mit freundschaftlichem Schmunzeln beim Taufnamen anredeten und ihre feststehenden Lieblingsgerichte hatten. Die Zimmer alle solid und behaglich eingerichtet, die Speisen, mit Rücksicht auf das eben erwähnte Stammpublikum, größtentheils aus landesüblichen „Spezialitäten“ bestehend, die Preise mäßig – das Ganze auf einem gemüthlich-patriarchalischen Fuß, der auch einem Mittel- und Süddeutschen gut zusagen konnte.

Im „Schweden“ ließ sich der Professor sogleich auf sein Zimmer führen, in dem der Ofen eine wohlthuende Wärme aushauchte. Die rothen Vorhänge an den Fenstern waren niedergelassen, auf dem runden Sofatisch lagen die Tageszeitungen neben der brennenden Lampe – so wenig vom Gasthof wie nur möglich!

Der Reisende bestellte sich einen „steifen Grog“, kleidete sich um, rauchte und las eine kleine Weile – dann überfiel es ihn wie Unruhe. Der ganze Abend lag noch vor ihm – kaum sieben Uhr – wie, wenn er noch heute zu Freund Claassen ginge? Er freute sich, ja, er freute sich auf das Wiedersehen!

Der Begrüßungshauch, den die Provinzialhauptstadt auf der Straße dem Professor entgegenblies, war allerdiugs nichts weniger als einladend. Ein steifer Südwest trieb die Schneeflockenschwärme durcheinander, daß man kaum einen Schritt vor sich sehen konnte. Gregory schlug den Pelzkragen in die Höhe, der festgefrorene Schnee pfiff und knirschte unter seinen Tritten. Die Menschen eilten wie Schatten an ihm vorüber, die spärlichen Laternen brannten in einem Dunstkreis; hier und da goß elektrisches Licht eine fahlblaue Bahn in den schimmernden Schnee. Lustige Schlittenglocken bimmelten ohne Aufhören; schwerfällig dröhnten die Pferdebahnwagen vorbei.

Gregory hatte nicht weit zu gehen bis zu Claassens Haus; er glaubte den Weg noch im Gedächtniß zu haben, verlor aber im Schneegestöber die Richtung und mußte fragen. Als er die Schloßteichbrücke erreicht hatte, blinzelte er links hinüber, wo die Tannen und bunten Fahnen des Schlittschuhklubs vermuthlich wie einst ihren Stand hatten. Zu sehen war nichts von ihnen, aber Gregory mußte denken, ob Annaliese von Guttenberg wohl hier schon sich mit Eislaufen vergnügt habe – und mit wem . . .

Das Haus in der Burgstraße war hell erleuchtet, die Hausthüre war angelehnt. Anf der Treppe hörte der Ankommende lautes vielstimmiges Kinderlachen, Händeklatschen und Jubeln – jetzt ein Kinderliedchen:

„Wer die Gans gestohlen hat,
0 Der ist ein Dieb,
Und wer sie mir dann wiedergiebt,
0 Den hab’ ich lieb!“

Der Kehrreim kam einige Mal wieder: „Den hab’ ich – den hab’ ich – den hab’ ich lieb!“ und dann ein triumphierendes:

„Da steht der Gänsedieb!
Den hat kein Mensch nicht lieb!“

Der Professor horchte lächelnd. Es eilte ihm gar nicht mit dem Eintreten, denn sobald er es that, hatte es doch mit dem Singen und Spielen ein Ende, und das hätte ihm leid gethan – man amüsierte sich ja da drinnen offenbar ausgezeichnet! Es mußte Gesellschaft dasein, denn die vier Kinder seines Freundes, von denen Gretchen noch nicht einmal recht mitzählte, konnten unmöglich einen so vollen Chor abgeben. Freilich waren auch Stimmen herauszumerken, die keinem Kind angehören konnten. Der Lauscher griff in die geräumige Seitentasche seines Pelzes: ja, die große Düte mit Süßigkeiten, die er Gustavs Kindern mitgebracht, war an ihrem Platz. Ein wenig wehmüthig war ihm zu Sinn; konnte er nicht auch eine so gemüthliche eigene Häuslichkeit, so lustig lachende singende Kinder haben wie Gustav? Er lebte ja ganz gut in B., er hatte seine Freiheit und sein Studium, aber wenn er an die Zukunft dachte und das Bild eines alten, einsamen und hilflosen Junggesellen sich vor Augen stellte, so überlief ihn ein unangenehmes Frösteln.

Sie hatten drinnen aufgehört zu singen und bahnten offenbar ein neues Spiel an; man hörte mit großem Geräusch Stühle rücken, durcheinanderrufende Stimmen, bittende Töne, Lärm und Widerspruch, endlich allgemeine Zustimmung auf irgend einen neuen Vorschlag – und nun verhältnißmäßige Ruhe, nur durch halblautes Kichern und unterdrückte Laute unterbrochen. Ewig konnte Paul da draußen nicht stehen, er drückte also sacht den Thürgriff nieder und trat ein.

Dicht vor sich sah er ein schlankes Mädchen in einem schlichten weißen Wollenkleid, die Hände unsicher tastend vor sich hingestreckt, eine weiße Binde über den Augen. Hinter ihr war ein großer Halbkreis von Kindern, ein paar erwachsene Mädchen darunter; eines von ihnen, eine zarte Blondine, duckte sich eben unter den tastenden Händen der Suchenden und wich beim unerwarteten Eintritt des neuen Gastes mit einem leisen Aufschrei zurück.

Es trat eine plötzliche Stille ein.

Die Kinder sahen verdutzt, mit großen Augen, auf den fremden Herrn im Pelz – die jungen Mädchen blickten einander verlegen an. Nur die Suchende, der die Augen außerordentlich gut verbunden sein mußten, blieb völlig unbefangen. „Welch heilige Stille mit einem Mal!“ rief sie mit einer hellen Stimme, die dem Eindringling einen frohen Schreck verursachte. „Das bedeutet irgend eine Teufelei! Dahinter komm’ ich schon!“

Die tastend vorgestreckten Hände gerieten an den Pelz des Professors und wichen etwas zurück.

„Wer von Euch hat sich denn so rasch in den Knecht Ruprecht verwandelt? Das ist doch Pelz, was ich da fasse! Nur Geduld – ich rathe doch, wer drin steckt!“

[634] Wieder kamen die weißen Hände vorsichtig heran – ein ganz eigenes heißes Gefühl durchrieselte den neuen Gast, als er die leichte Berührung auf seiner Brust fühlte, das Herz fing ihm an rasch zu schlagen, und er wußte jetzt mit einem Mal, warum er sich die ganze Zeit so kindisch auf diese Königsberger Reise gefreut hatte. Regungslos stand er da und hatte alles um sich her vergessen, er hatte nur Augen für das Mädchen, das da vor ihm stand und keine Ahnung hatte, während er sehen konnte – ja, sehen!

„Annaliese, nehmen Sie doch die Binde ab!“ sagte plötzlich jene zarte Blondine in bestimmtem Ton.

Und nun kam es ihm zum Bewußtsein, daß er diese Lage, so reizvoll sie auch für ihn war, nicht ausnutzen durfte, und während die lieben kleinen Hände rasch zurückzuckten, beugte er sich vor und löste mit einer zarten und geschickten Raschheit, die er sich selbst nie zugetraut hätte, die Binde von des jungen Mädchens Augen.

Sie konnte sich nicht mit einem Schlage an das helle Licht gewöhnen und blinzelte unter ihren dichten Wimpern hervor verschüchtert zu ihm empor. Dann erkannte sie ihn und erröthete jäh bis unter die krausen Stirnhaare – war das Schreck, Empörung – war es vielleicht Freude?

„Annaliese!“ Er sagte es leise und abbittend und streckte ihr mit einem aufleuchtenden Blick die Hand hin.

Da aber schlug der Blitz des Erkennens in Claassens Aeltesten, den siebenjährigen Kurt, ein, und er stürzte mit dem Jubelruf: „Das ist ja Onkel Paul!“ auf den Professor los, um gleich darauf mit aller Kraft seiner Lungen in das Nebenzimmer, dessen Thür offen stand, hineinzuschreien: „Du, Papa, Onkel Paul ist gekommen!“

Nun gab es einen allgemeinen Aufstand, ein Reden und Begrüßen, Fragen und Antworten ohne Ende. Gregory drehte sich nach allen Seiten oder vielmehr, er wurde gedreht. Hier war Frau Melanie und wollte sehen, ob er von der Reise angegriffen sei und ob er sich in den verflossenen zwei Jahren verändert habe; hier packte ihn Freund Gustav mit einem derben Griff bei den Schultern, schüttelte ihn tüchtig und rief dazwischen: „Kinder, laßt ihn doch den Pelz ausziehen! Kommt her, Heinzelmännchen, helft dem Onkel – eins, zwei, drei!“ Dort hielt Kurt des Gastes Hand fest und triumphierte laut, daß er, er ganz allein, Onkel Paul erkannt habe; klein Gretchen umklammerte des Reisenden Knie und wünschte in einem ziemlich unverständlichen Deutsch, hoch gehoben zu werden, „wie Papa immer kann“; die fremden Kinder drängten allmählich näher und näher heran, da ihnen die Erscheinung dieses plötzlich hereingeschneiten Onkels doch zu interessant war. Nur die jungen Mädchen, vier an der Zahl, standen abseits neben einem der Fenster, und des Professors Blick flog immer von neuem dorthin und fand die eine in dem weißen Kleide heraus, die ihm das Profil zukehrte – welch reizendes Profil sie hatte und wie das Kleidchen weich und schmiegsam die feinen, graziösen Linien ihrer Gestalt hervorhob! Sie hatte die Haartracht geändert – eine dicke Flechte fiel ihr über den Rücken herab und zeigte die zierliche Bildung des Kopfes. War Annaliese gewachsen in den wenigen Wochen? Kaum, aber sie schien ihm größer geworden; sie überragte ihre drei Gefährtinnen um ein beträchtliches.

„So!“ sagte Gregory endlich, als er von seiner Pelzausrüstung befreit war. „Jetzt kann es werden, vorausgesetzt, daß diese jungen Herrschaften so thun, als ob ich gar nicht gekommen wäre, und ruhig in ihrem unterbrochenen Spiel fortfahren! Geschieht das nicht, dann fahre ich fort und begebe mich in meinen ‚Schweden‘, denn hier als Störenfried zu erscheinen, das geht mir gegen Ehre und Gewissen!“

„Goldene Worte!“ sagte Claassen lachend und nahm den Freund gemüthlich unter dem Arm. „Du hast recht, Alter – wir retten uns hier nebenan in mein Arbeitszimmer, die Thür bleibt offen, damit hier nicht zuviel Unfug geschieht – Du mußt wissen, heute ist Heinzens, meines Zweiten, Geburtstag, der Schlingel ist sechs Jahr alt geworden, daher diese festliche Veranstaltung. Spielt weiter ‚Blindekuh‘, Kinder!“

Gregory holte noch, ehe er am Arm des Hausherrn davonging, seine gewaltige Düte Konfekt hervor und erzielte damit einen großen Erfolg. Von dem laut ausbrechenden Jubel der kleinen Gesellschaft begleitet, traten die Freunde über die Schwelle zum Studierzimmer des Oberlehrers, und der Gast wußte sich so zu setzen, daß er durch die weit zurückgeschlagenen Flügelthüren einen vollen Ueberblick über den anstoßenden Raum gewann.

„Prosit!“ Der Hausherr goß Wein in zwei Gläser und stieß wohlgemuth mit seinem Freunde an. „Steck’ Dir eine Cigarre ins Gesicht, Alterchen – ’s ist eine ganz genießbare Sorte, Du brauchst keine Angst zu haben, Dich zu vergiften! Und jetzt vor allen Dingen erst ’mal: schönsten Dank!“

„Wofür denn?“

„Mensch, sei kein Frosch! Wofür denn? fragt er. Na, wofür denn sonst als für Deinen Schützling, Deine Anverwandte, Kousine oder was sie sonst ist, diese kleine Guttenberg! Habt Ihr beide Euch denn eigentlich schon vernünftig begrüßt?“

„Etwas flüchtig – ich fiel da so hinein – später hoff’ ich noch das Vergnügen zu haben!“

„Hör’, das klingt heillos steif und förmlich: ‚hoffe noch das Vergnügen zu haben‘! So kann man von jeder Großtante sprechen, aber dies hier, dies Mädel –“

„Sie gefällt Euch also?“

„Auch ‚gefällt‘ ist kein Ausdruck für sie. Weißt Du, was sie ist? Man liest so oft in Büchern von ‚verkörperten Sonnenstrahlen‘ und ich hab’ das immer ein bißchen albern gefunden und gedacht: Gott im Himmel, Du hältst nun schon seit acht Jahren ein Pensionat für junge Mädchen und hast in der langen Zeit ja auch manches recht angenehme Exemplar dieser Menschengattung zu sehen bekommen, aber ein Sonnenstrahl war nicht dabei! Diese Annaliese von Guttenberg ist einer, da kannst Du mir vorreden, was Du willst!“

„Ich rede Dir nichts vor!“

„Würde auch nichts nützen! Du wolltest wissen, wie mir’s geht? Ich kann nicht klagen, Alter, aber manchmal wird es mir doch nicht so leicht, wie es allen scheint, den Kopf oben zu halten. Ich muß ihn aber oben haben, denn sonst klappt mir mein Frauchen ganz hilflos zusammen – Du weißt, sie ist ein bißchen zaghaft von Natur, und ich hab’ sie wohl auch etwas verwöhnt, kurz, sie kennt es nicht anders, als beständig von mir getröstet und aufgemuntert zu werden. Daß mir das manchmal sauer wird, daß ich mich freuen würde, wenn mich ’mal einer aufmunterte, darauf kommt hier kein Mensch, und ich mach’ es auch keinem zum Vorwurf; sie können es ja nicht wissen. ‚Papa – der ist immer fidel!‘ sagen die Kinder. ‚Ach, mein Mann, der kommt über alles hinweg mit seinem prachtvollen Temperament!‘ sagt meine Frau. Es ist so ’ne Sache mit dem prachtvollen Temperament bei mir, aber wenn ich den Kopf hänge, dann ist eben alles aus! – Und nun kommt mir dies wildfremde, wunderhübsche Menschenkind ins Haus – schon so eine Augenweide zu haben, ist ’was werth – sieht sich bei uns um mit diesen klugen sonnigen Augen und thaut mein stilles, zurückhaltendes Frauchen auf, eins, zwei, drei, gewinnt die Kinder im Sturm und fragt dies und will jenes wissen und ist mit allem zufrieden, findet unser altes Königsberg, das die Fremden immer so herunterreißen, anziehend und alterthümlich und eigenartig, läuft meiner Frau nach in die Küche, schleppt sich mit der Grete herum, arbeitet mit Kurt und Heinz und ist fidel, fidel wie eine kleine Lerche, wenn sie mit jauchzendem Getriller aus dem Getreidefeld aufsteigt. Poetisch werd’ ich, nicht wahr? Schadet nichts! Was für Zierpuppen hab’ ich hier in Pension gehabt, die häßlichsten waren meist die schlimmsten! Und dies Mädchen, mit diesem Gesicht, ist die reinste lauterste Natürlichkeit, ein unbefangenes Wesen zum Entzücken! Früher, wenn ich so aus der Schule nach Hause kam – oft brummte mir der Kopf von all dem Aerger mit den Jungens und nun gar erst mit den höheren Töchtern! – dann trat mir meine gute Melanie entgegen, mühselig und beladen, das Herz übervoll von Sorgen, von Fragen und Klagen ohne Ende. Jetzt – das reine Gegentheil! ‚Wir machen das so und so, Annaliese meint, es sei das Beste,‘ oder: ‚Heut’ ist mir das und das passiert, aber ich mach mir nichts daraus, Annaliese sagt, das komme schon wieder in Ordnung!‘ Na, wenn einen das nicht freuen soll!“

Den Professor freute es auch. Er hatte einen sehr eifrigen Zuhörer abgegeben und dazwischen ebenso aufmerksam durch die offene Thür gespäht, um zu dem Bericht seines Freundes gleich die Illustration zu haben. Sie spielten nebenan jetzt Thalerwandern, und die weiße Mädchengestalt gaukelte in dem goldigen Lampenlicht hin und her wie ein Schmetterling. Ein anmuthiges Bild!


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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 39, S. 649–654

[649] Annaliesens Großmutter,“ fuhr Claassen nach einer Weile fort, „ist ja wohl eine Verwandte von Dir – sag’ ’mal, die ist doch offenbar verrückt?“

Gregory mußte lachen. Wenn die alte Excellenz dies Urtheil gehört hätte! „Verrückt? Erlaube ’mal, das ist ein bißchen stark –“

„Aber Mensch, wie willst Du sonst diese Art von Erziehung erklären? Nicht einen blanken Heller im Vermögen, lediglich auf ihre Pension angewiesen – das deutet die Kleine wenigstens so an – und läßt dies Geschöpf aufwachsen wie eine Blume des Feldes, in der naiven Zuversicht, der himmlische Vater werde sie schon ernähren. Es ist ja ein bildhübsches Ding, und als ich sie neulich fragte, ob sie schon ’mal hätte heirathen können, da blitzten ihr die Augen vor solchem Uebermuth, daß ich denken mußte: holla, dahinter steckt etwas, wenn sie auch nicht mit der Sprache herauswollte. Aber sie hat viel Besonderes an sich, den ersten Besten, der nach ihrem reizenden Persönchen die Hand ausstreckt, nimmt die noch lange nicht, bloß weil sie arm und ohne Zukunftsaussichten ist. Also, was soll werden. Mit der Malerei ist das nichts, sie pinselt ganz niedliche Sächelchen zusammen, wie es all die Mädel thaten, die wir bei uns hatten, aber Broterwerb, Beruf – kein Gedanke dran! Von praktischer Thätigkeit sonst keine Ahnung! Sie ist ja riesig gefällig und will überall beispringen, aber dabei kommt es dann heraus: sie weiß nicht, wie kochendes Wasser aussieht und wie man Kartoffeln behandelt, sie kann keine Naht nähen und keinen Strumpf stricken, sie muß sich das Haar in einen herunterhängenden Zopf flechten, weil sie es nicht gelernt hat, sich selbst zu frisieren. Nun bitte ich Dich! Ein armes Mädchen zu erziehen wie eine Prinzessin, und nach dem Tode der Großmutter kann sie sehen, wo sie unterschlüpft! Unverantwortlich ist das, und bei der Alten ist ’ne Schraube los, dabei bleib’ ich! Klug ist die Kleine, scheint auch ganz hübsch gelernt zu haben, namentlich in Sprachen – deshalb machte ich ihr vor einigen Tagen den Vorschlag, ob sie nicht ein Seminar besuchen und das Lehrerinnenexamen machen wolle … hat sie mich ausgelacht! Sie ließ mich gar kein Wort weiter dazusetzen … immer gelacht und gelacht, beinah’ bis zu Thränen – ich bin ganz verdutzt gewesen, sag’ ich Dir! Und jetzt lachst Du auch! Was in aller Welt –“

„Entschuldige!“ Paul suchte sich zu sammeln. „Es kommt mir nur so wunderlich vor – Annaliese von Guttenberg als Lehrerin!“

„Herrgott, ja, mir scheint sie auch die geborene Salondame, aber damit ist es doch nun einmal nichts! Die Kinder lieben sie, hängen sich an sie wie Kletten; man hat seine Noth, sie von ihr abzuwehren. Würde hat sie freilich keine, aber sie ist noch so jung, und das kann ich aus Erfahrung sagen: mit der Würde allein kommt man auch nicht weit. Die Kinder müssen ein Herz für uns haben, wie wir [650] für sie – da steckt das Geheimniß! Meiner Ansicht nach wäre der Lehrerinnenberuf das Beste für sie – red’ Du ihr nur auch noch tüchtig zu!“

„Ich?“

„Du, gewiß! Du machst ein Gesicht, als hätt’ ich Dir gerathen, sie umzubringen. Ist denn ein Beruf wie der meine etwa eine Herabwürdigung für irgend einen Menschen, sei er, wer er wolle?“

„Aber, alter Kerl, sei doch nicht so empfindlich! Wer spricht denn davon? Es ist ja nett von Dir, Dich so um die Zukunft des Mädchens zu kümmern, aber –“

„Aber – was: aber? Willst Du sie vielleicht heirathen?“

„Ich?“

„Schon wieder dies Gesicht des blassen Schreckens! Ist denn das so unerhört? Könntest Du nicht eine Frau ganz gut ernähren?“

„Ernähren schon! Ob aber auch ganz gut kleiden –“

„Ach, hör’ mit den schlechten Witzen auf! Wenn Du keinen Mann für sie weißt, dann bleibt doch schließlich wieder bloß die Hoffnung mit den Lilien des Feldes –“

„Ganz recht!“

„Und das scheint mir eine heillos unsichere Karte zu sein – sieh da, ich glaube, es rückt eine Deputation gegen uns vor!“


8.

Wirklich kamen zwei kleine Mädchen und Claassens ältester Junge Kurt als Abgesandte der übrigen Gesellschaft: es sollten Pfänderspiele vorgenommen werden, ob die Herren nicht mit dabei sein wollten. „Nämlich, Papa hat sonst immer mitgespielt,“ erklärte Kurt dem Onkel, für den er sofort eine große Freundschaft gefaßt hatte, „und jetzt sagt Annaliese, wir müßten uns abkühlen, denn beim Thalerwandern haben wir uns natürlich alle ganz furchtbar gebalgt. Prachtvoll ist das gewesen, Onkel – denk’ Dir bloß, Annaliese kannte kein einziges Spiel, alles mußten wir ihr zeigen!“

„Habt Ihr sie lieb?“

„Die? Aber ja! Am liebsten von allen! Du kennst sie doch, Onkel Paul? Du hast sie doch selbst lieb?“

Onkel Paul nickte und strich dem harmlosen Fragesteller über das kurzgeschorene harte Blondhaar. Dann folgte er mit seinem Freund den Kindern ins Wohnzimmer, wohin sich die Gesellschaft zurückgezogen hatte.

„Jetzt giebt sich jedes einen Blumennamen –“

„Nein – Gott, es sind doch Herren dabei! Die können doch keine Blumen sein!“

„Also Küchengeräthschaften –“

„Nein, Speisen! Allerlei zu essen!“

Der Streit war in vollem Gang. Und währenddessen fand Gregory Zeit, Annaliese von Guttenberg endlich regelrecht zu begrüßen. Sie standen ein wenig abseits von den anderen, und der Professor schüttelte warm die schmale Hand, die sich ihm hastig entzog.

„Also doch böse?“ fragte er leise.

Sie schüttelte mit gesenkten Wimpern den Kopf. „Nein, böse nicht!“

„Also was sonst? Warum sehen Sie mich nicht an?“

Einen Augenblick schaute sie in das männliche treuherzige Gesicht mit den zärtlich bittenden Augen; sie war ärgerlich auf sich selbst, aber ableugnen konnte sie sich’s nicht: sie fühlte sich verlegen.

„Ich habe Ihnen so viel zu sagen.“

„Und ich Ihnen.“

„Aber jetzt wird das schwerlich gehen.“

„Doch, doch, es muß! Kinder, fangt ohne uns beide an, Herr Professor soll mir etwas von zuhause erzählen!“

Das gab einen großen Sturm der Entrüstung. Ohne Annaliese ginge es nicht – und sie wollten dann lieber warten, und eines von den jungen Mädchen erklärte trotzig, dann spiele sie auch nicht mit. Sie alle umringten Annaliese, und wenn diese gleich in der ersten halben Stunde ihrem Gevatter einen Beweis ihrer Beliebtheit hätte geben wollen, so würde sie das nicht günstiger haben treffen können. Kleine derbe Händchen klammerten sich an ihr Kleid, zärtliche Arme umschlangen ihre Taille, bittende Gesichter wandten sich zu ihr empor – sie wurde geküßt, gedrückt, gestreichelt und gequält – und über die hellen und dunklen Kinderköpfe weg flog ein halb lachender, halb gerührter Blick zu Gregory hinüber, der ihm deutlich sagte: sieh, hier hast Du nun ein Beispiel! Diese Kinder, all diese unschuldigen kleinen Herzen, lieben mich „um meinetwillen!“

Es half den beiden nichts, sie mußten sich zu dem Kreise gesellen und Pfänderspiele spielen. Zwar setzten sie sich nebeneinander, aber es dauerte keine Minute, so waren sie geschieden, und das bewegte Spiel wirbelte sie gleich losen Blättern hierhin und dorthin. Annaliese war ganz Kind mit den Kindern. Wie herzlich konnte sie lachen, wenn ein drolliges Mißverständniß vorkam, wie sich ängstigen, wenn eines den richtigen Platz nicht fand, wie triumphieren, sobald die Kinder durch eine treffende Antwort ihren Scharfsinn bewiesen! Während der Professor den Blick nicht von ihr ließ und sich an dieser jugendlichen Frische erbaute, war auch sie mit ihrem Freunde zufrieden. Er hatte weder etwas Ironisches noch Ueberlegenes heute – ungezwungen und verguügt schwamm er im Strom der Lustbarkeit mit, erkundigte sich mit Eifer nach den Regeln des Spieles und ließ sich gutmüthig auslachen, wenn er irgend eine Dummheit machte. Die jungen Mädchen, Aunaliesens Pensionsgefährtinnen, fanden ihn „reizend“ und erkundigten sich angelegentlich, ob er lange hier bleibe – er war zwar schon ein bißchen alt, aber eigentlich schwärmten sie insgesamt für reife Männer und behandelten „ungeschickte Jungen“ von achtzehn bis vierundzwanzig Jahren mit Verachtung, Der Professor sprach auch so hübsch fremd, ähnlich wie Annaliese von Guttenberg, die ihr weibliches Ideal war; er sagte „Grüß’ Gott“ statt „Guten Tag“ – das klang so nett, und dann sah er recht gut aus und hatte so sprechende Augen; vor allem aber war er unverheirathet, und das war die Hauptsache. –

„Jetzt ist die rechte Stunde,“ sagte Gregory nach Tisch mit einem tiefen Aufathmen zu Annaliese, als die Kinder nach einem mehr oder weniger wortreichen Abschied gegangen waren und die übrigen Hausgenossen eine Gruppe für sich bildeten. So hatte der Hausherr selbst es haben wollen; er hatte bei Tisch seinen Gast ein bißchen ausgefragt, noch mehr ihn von seiner lieben Frau ausfragen lassen, er hatte ihm dies und das von sich selbst, seinem Beruf, seinem Familienleben erzählt – nun war die erste Wißbegier gestillt, das „Woher?“ und „Wohin?“ erörtert worden, nun mußte man doch endlich die beiden „Verwandten“ eine Weile allein lassen, damit sie Gelegenheit hatten, sich auszusprechen.

Die Hausfrau kramte geschäftig in den etwas wüst aussehenden Zimmern umher – Kindergesellschaften sind kein Spaß – der Oberlehrer spielte mit den drei jungen Mädchen in seinem Arbeitszimmer Karten, und in dem kleinen Eckstübchen Frau Melanies, einem gemüthlichen, nur durch eine rosig verschleierte Lampe erhellten Winkel, saßen die beiden „Verwandten“ einander gegenüber.

„Sagen Sie, erzählen Sie, bitte – wie geht’s Großmama? Was denkt sie, was sagt sie von mir?“

„Das will ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie sagt, aus Ihren Briefen sei nicht klug zu werden, sie behandelten Nebensächliches und verschwiegen das Wichtige. Ich habe daher die Aufgabe, Sie genau zu beobachten und über Sie Bericht abzustatten!“

Annaliese lachte hell auf. „Also mein Spion! Eine würdige Aufgabe für einen Professor der alten Sprachen! Und dazu geben Sie sich her?“

„Dazu gab ich mich her – ich kann ja meine eigenen dunklen Nebenwege dabei verfolgen! Hauptfrage der Großmama-Excellenz ist übrigens die: wie ist es mit den Empfehlungsbriefen bei den verschiedenen Offiziersfamilien geworden, an die man Sie gewiesen hat?“

„Sehr einfach, ich hab’ sie gar nicht abgegeben!“

„Wirklich nicht?“

„Was ist dabei Verwunderliches? Ich bitte Sie, hätt’ ich das gethan, so wäre mein ganzes Inkognito dahingewesen. Man hätte mich eingeladen, mir Besuche gemacht – all meine Beziehungen und Verhältnisse wären ans Tageslicht gekommen, und das will ich doch nicht. Es ist ohnehin schon schwer genug, einen solchen Plan, wie ich ihn mir in den Kopf gesetzt habe, durchzuführen.“

„Sehen Sie, ich prophezeite es Ihnen gleich, Sie würden auf Schwierigkeiten stoßen.“

[651] „Daran hab’ ich oft denken müssen! Und dabei sind Sie ein Mann und haben von vielen Dingen, die uns Damen wichtig sind, kaum eine Vorstellung. Gleich mein Haar! Daheim frisierte mich natürlich die Kanapé, in knapp zehn Minuten war’s fertig. Sie hätten den Bau sehen sollen, den ich mir hier am ersten, zweiten Tage auf den Kopf setzte! Und wie lange das dauerte und wie ich mich zausen mußte – entsetzlich! Dabei war natürlich allgemeines Erstaunen, daß ich etwas so Selbstverständliches nicht konnte, daß ich nicht einmal mit meinem Anzug allein zurechtkam. Meine arme Großmama muß hier jeder für geistesgestört halten, daß sie sich in ihren beschränkten Verhältnissen eine so verwöhnte Enkelin großziehen konnte. Auch meine Kleider scheinen immer noch nicht einfach genug zu sein, obgleich ich wahrhaftig schon in Sack und Asche gehe. Meinen sämtlichen schönen Schmuck habe ich zu Hause gelassen, auch die Straußenfederboa, die Sie so kostbar fanden, und meinen Blaufuchspelz – dennoch sieht mich Frau Claassen bei allem und jedem, was ich kaufen möchte, warnend an und fragt, ob das nicht meine Verhältnisse übersteige. Haben Sie denn damals geschrieben, ich sei so arm wie eine Kirchenmaus?“

„Kirchenmaus? Ich kann mich nicht entsinnen, diesen Ausdruck gebraucht zu haben. Sie wollten, ich solle Ihre Armuth betonen –“

„Mein Gott, ja, gewiß wollte ich das, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie es thaten – aber – aber – ich muß deswegen so viele Freuden entbehren, und das ist doch hart!“

Gregory zuckte die Achseln. „Das läßt sich ja alles später doppelt und dreifach nachholen!“ Es klang ein wenig scharf – sie war doch ein gefallsüchtiges, genußdurstiges Persönchen!

„Ja, was für Freuden meinen Sie denn? Bälle und Theater und ähnliches? Das meine ich nicht! Es sind ganz andere Dinge, um die mich meine Vermummung bringt – meine selbstgewollte Vermummung, ich weiß es wohl, Sie brauchen mich nicht so grimmig anzusehen! Also gleich Weihnachten! Welch ein reizendes Fest gab es hier! Besinnen Sie sich vielleicht, wie ich mich beklagte, bei Großmama sei alles so förmlich und kalt, und wie ich mir alles anders wünschte? Ja? Nun, hier gab es ein Fest nach meinem Herzen. Sie hätten die Kinder sehen sollen, wie sie um den Baum tanzten und aufschrieen vor Jubel und von einem zum andern liefen und alle umarmten – und wie das Gretchen seine Puppe küßte und jedem von uns zum Küssen hinhielt und sie dann in den Schlaf sang – und wie die Jungen ihre Soldaten exercieren ließen und der Kleinste glückstrahlend sein erstes Schaukelpferd bestieg . . . stundenlang könnte ich davon erzählen, ich hab’ immer durcheinander lachen und weinen müssen wie ein Kind, ich hatte ja das noch nie gesehen! Und vorher wurden arme Kinder beschenkt, kleine elende Geschöpfe, die Röcke und Schuhe bekamen und Aepfel und Nüsse. Wie die mit gefalteten Händen dastanden und vor lauter Entzücken zu danken vergaßen und ihre Gedichtchen aufzusagen! Daß ich da nicht geben konnte, viel, viel, mit vollen Händen, wie ich’s für mein Leben gerne wollte, das hat mir bitter weh gethan. Mein Nadelgeld ist so überreichlich, und wieviel gebe ich daheim für hübsche Nichtigkeiten und dummes Zeug aus! Als ich aber hier etwas schenkte, den kleinen Claassens ein paar Spielsachen und so weiter – mir kam alles lächerlich wenig vor – da sah ich große Augen und mißbilligende Mienen. Frau Oberlehrer sagte, ich würde es nie im Leben zu etwas bringen, wenn ich so verschwenderisch sei, und was ich mir eigentlich dabei denke, soviel Geld hinzugeben, ich müsse doch wissen, daß ich ein armes Mädchen und in Zukunft auf den eigenen Erwerb angewiesen sei! Und er, der Doktor – er ist ja sonst eine Seele von einem Mann – hat mir eine lange Rede gehalten: daß die Mildthätigkeit eine der schönsten Eigenschaften des weiblichen Gemüths sei und daß sie ihn bei mir rühre und erfreue – sie dürfe aber nicht in völliges Selbstvergessen übergehen, man habe auch Pflichten gegen sich selbst und so weiter und so weiter. Mußte ich mich noch in den Himmel heben lassen wegen meines Edelmuthes und hatte doch nichts weiter gethan, als von meinem Ueberfluß ein winziges Scherflein abgegeben! Ich bitte Sie – es war eine beschämende Lage!“

Der Professor sah gerührt in das aufgeregt zuckende Gesichtchen; er fühlte die stärkste Versuchung, es sanft zwischen seine Hände zu nehmen und zu küssen, zärtlich und leidenschaftlich, aber er nahm sich zusammen. „Sie werden mich entsetzlich pedantisch finden, Fräulein Annaliese, aber ich muß Ihnen wiederholen: das sind eben die Folgen Ihres Handelns, tragen Sie sie in Geduld! Uebrigens kann ich Sie ein wenig beruhigen: die Kinder meines Freundes Gustav sind wenig verwöhnt und sicher überglücklich mit Ihren Geschenken gewesen – sie mit Kostbarkeiten zu überschütten, wäre gar nicht richtig, sogar bedenklich gewesen, und bei den armen Kindern ist es ähnlich – vom pädagogischen Standpunkt!“

„Ach, gehen Sie mir mit dem pädagogischen Standpunkt! Ich will Freude bereiten und vergnügte Gesichter sehen! Sie glauben nicht, wie schrecklich viel Armuth hier in Königsberg herrscht. Die Stadt ist arm, heißt es immer, sie hat zu Napoleons des Ersten Zeiten gar zu sehr bluten müssen. Das muß wohl wahr sein. Claassens sind sehr gut, sie helfen, soviel sie können. Ich bin auch mit Frau Oberlehrer in die Wohnungen armer Leute gegangen – Großmama würde schön schelten, wenn sie das wüßte! Aber sie weiß es nicht!“ Annaliese nickte siegesgewiß vor sich hin. „Und Ihr Freund, der gute Doktor, ist damit auch ganz einverstanden, er findet es egoistisch, sich vor dem Elend und der Armuth zu verstecken, und meint, ich könne eine solche Thätigkeit gut für mein künftiges Leben brauchen. – Wissen Sie, daß er mich alles Ernstes fragte, ob ich denn noch nie in meinem Leben einen Heirathsantrag bekommen hätte?“

„Und was haben Sie ihm geantwortet?“

„Ich konnte gar nicht antworten, es war so drollig! Denken Sie ’mal, zu Hause nannten sie mich immer die Turandot, und nun kommt dieser Oberlehrer daher und fragt, ob ich denn noch nie einen einzigen Heirathsantrag gehabt hätte! Und als ich diese Gewissensfrage unbeantwortet ließ, da hat er mich so recht treu und väterlich besorgt angesehen und hat mir gerathen, ich möchte das Lehrerinnenexamen machen und Gouvernante werden!“

Das junge Mädchen kam bei der Erwähnung dieses Vorschlags aufs neue so ins Lachen, daß sie den Professor mit ansteckte – ihr Lachen hatte etwas Unwiderstehliches. Sie wollte fortfahren, zu erzählen, er wollte allerlei bemerken, fragen . . . umsonst. Sowie sie einander ansahen, brach das Lachen aufs neue hervor – Annaliese warf nur zuweilen ein halb ersticktes: „Gouvernante! Ich – Gouvernante!“ dazwischen.

„Gustav hat es mir auch schon erzählt, und er fügte hinzu, daß Sie seinen Gedanken schon damals mit strahlender Heiterkeit begrüßt hätten!“

„Ja, der Doktor muß mich für verrückt gehalten haben, aber ich konnte mir nicht helfen! Er meinte, da es doch mit dem Malen nichts sei –“

„Aber warum denn nicht?“

Annaliese sah mit einem Mal ernsthaft aus. „Weil ich im Recht war mit meinem Verdacht, man könnte der reichen Erbin, der Enkeltochter der alten Excellenz Guttenberg, auch das Maltalent gutgeschrieben haben! Wissen Sie noch, wie Sie mich damals in meinem Salon auslachten, als ich davon sprach, und es meine fixe Idee nannten, daß ich alles und alles damit in Verbindung brachte? Nun, als ich frank und frei mit meinen Bildern und Studien zum hiesigen Vorstand der Kunstakademie ging – ein reizender alter Herr und berühmter Maler – und ihn bat, mir aufrichtig, aber ganz aufrichtig seine Meinnug zu sagen, da guckte er mich aus seinen scharfen geistreichen Augen durchdringend an und sagte wörtlich: ‚Mein liebes Fräulein, wenn Sie Lampenglocken und Briefmappen und Fruchtteller machen wollen, nur zu, ich habe nichts dawider! Sie werden solche Dinge, die ja auch zu brauchen sind, ganz niedlich herstellen. Aber um Bilder zu malen, wirkliche Bilder, die etwas bedeuten wollen, dazu gehört mehr, und wer Ihnen zu Hause gesagt hat, Sie hätten dieses Mehr, der hat Ihnen eine Unwahrheit gesagt . . . wenigstens ich kann nicht finden, daß aus diesen Proben irgend welcher schöpferische Geist spricht. Es ist etwas sehr Ernstes um die Wahl eines Berufes, und wenn Sie mich fragen, ob Sie Ihre Zukunft auf die Kunst gründen sollen, so sage ich Ihnen, nach meiner ehrlichen Ueberzeugung: nein! Es wäre schade um die Kunst und auch schade um Sie!‘ Dann haben die klugen Augen des prächtigen alten Herrn schelmisch zu zwinkern angefangen, und er hat mit einem recht wohlwollenden Ton hinzugefügt: ‚Sollte denn für eine Erscheinung wie Sie wirklich nur der dornenvolle Weg der Kunst vorhanden sein? Besinnen Sie sich einmal! Es braucht ja nicht ein Pinsel zu sein – für solche junge Damen giebt es doch auch noch andere Chancen!‘ Ich mußte [652] natürlich lachen, klappte meine Talentproben zusammen und ging davon. Um den Schein zu wahren, nehme ich mit einigen anderen jungen Mädchen Malunterricht, aber ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß es mir Vergnügen macht.“

„Hm!“ Gregory zupfte nachdenklich an seinem dichten Schnurrbart. „Und giebt es sonst irgend etwas, das Ihnen hier Vergnügen macht, wenn man fragen darf?“

„Natürlich giebt es – sogar sehr viel, beinah’ alles! Schon die Häuslichkeit hier! Dieser Ton der Liebe, des Vertrauens, die Genügsamkeit, die Freude an allem, die geistigen Interessen! Abends wird vorgelesen – Ihr Freund liest wunderhübsch – die Klassiker wechseln mit modernen Schriftstellern ab. Und dann die Kinder! Ich komme ja zu Hause nie mit Kindern in Berührung – wie ist es doch etwas Herrliches um solch kleine unverbildete Menschenpflänzchen! Darauf, daß die Kinder mich so lieben, bin ich unsäglich stolz. Aber nicht nur die Kleinen – gottlob, auch die andern haben mir’s bewiesen, daß man mich liebhaben kann um meinetwillen, daß man keine Excellenzen zu Verwandten haben muß und keine Erbin zu sein braucht, um zu gefallen, um Zuneigung zu erwecken. Und endlich das Klima! Hier schelten sie alle darüber, aber ich schelte nicht mit. Hier weiß man doch, daß Winter ist! Bei uns zu Hause hat man kaum ein paar Tage Eis, und hier hab’ ich all diese Wochen hindurch die schönste Schlittschuhbahn gehabt!“

„Sie waren beim ,Klub‘? Allein?“ fragte Gregory lebhaft.

„Bewahre! Allein! Was Sie denken! Frau Claassen ist die sorgsamste Pensionsmutter von der Welt. Entweder kommt sie selbst mit uns oder sie schickt Tante Sophiechen mit, eine ältliche Kousine des Doktors, ein sehr gutes gemüthliches Wesen, dem es ein Vergnügen ist, sogar die Eismutter zu spielen. Die drei jungen Mädchen haben schon allerlei Bekanntschaften hier, da bin ich natürlich vorgestellt, und ich kann nicht anders sagen –“ Annaliese stockte.

„Nun?“ forschte der Professor gespannt.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Nichts! Es war dummes Zeug, was ich sagen wollte.“

Er konnte sich das „dumme Zeug“ ohne Mühe zusammenreimen. Sie gefiel auch dort, gefiel ohne Zweifel sehr – sie konnte auch bei dieser Gelegenheit sehen, daß man sie gern hatte „um ihretwillen.“

„Warum sehen Sie denn mit einmal so ärgerlich aus?“ fragte Annaliese in die plötzlich eingetretene Stille hinein.

„That ich das?“

„Gewiß, und zwar sehr!“ betonte sie nachdrücklich. „Kann ich Sie beleidigt haben?“

„Behüte der Himmel! Mir ging nur die Prophezeiung von Tante Excellenz durch den Sinn.“

„Welche denn?“

„Sie würden trotz allem und allem doch schließlich den Lieutenant von Steinhausen heiraten, sie habe sich das in den Kopf gesetzt, und sie pflege ihre Pläne auch durchzuführen.“

„Ich die meinigen auch!“ Der kleine dunkle Kopf hob sich sehr muthig und siegesgewiß. Nach einem Weilchen klang es etwas beklommen hinterdrein: „Wissen Sie nicht, was Großmama im Schilde führt?“

„Keine Ahnung! Sie erging sich in geheimnißvollen Andeutungen, das war alles. Im ganzen schien sie es zu bereuen, Sie hierher nach Königsberg geschickt zu haben – vielleicht werden Sie bald zurück befohlen.“

„Als ob ich mich so ohne weiteres hin und her befehlen ließe!“ Annaliesens Augen flammten. „Ich bleibe. In Person wird sie mich ja nicht holen, und wenn sie mir schreibt, ich soll zurückkehren, dann –“

„Dann?“

„Bleibe ich erst recht hier! Was soll ich zu Hause?“

„Und was sollen Sie hier?“

„Lernen, an mich selbst glauben – es hat bis jetzt so gut damit angefangen. Wenn Sie mir weiter getreulich beistehen –“

Hier erschien Claassen, von seiner Gattin und den drei jungen Mädchen begleitet, auf der Thürschwelle.

„Elf Uhr, meine Herrschaften! Es wird höflichst gebeten, Ihre zweifellos sehr interessante Unterhaltung morgen am Tage fortzusetzen. Solide Leute wie wir müssen zur Ruhe gehen!“

Ein eiliger Aufbruch des Gastes, ein fröhliches Durcheinander von Stimmen, ein Händeschütteln hier und dort – der Abend war zu Ende.

*  *  *

Es hatte aufgehört zu schneien. Ein schneidender Wind hatte die tiefhängenden Schneewolken am nächtlichen Himmel auseinandergefegt, nun funkelte es in voller Sternenpracht da oben, und die frostklare Winternacht breitete sich rings umher in ihrer kalten weißglitzernden Herrlichkeit.

Hinter Paul Gregory fiel dröhnend die Hausthüre ins Schloß – es gab einen dumpfen Ton; ihm war’s, als hätte er einen heftigen Schlag bekommen. Und den hatte es heute abend wirklich für ihn gegeben . . . wie ein Schlag hatte ihn die Erkenntniß getroffen, daß er das reizende Mädchen liebe, daß er nur um ihretwillen seine ostpreußische Reise beschleunigt, nur um ihretwillen diese Unruhe und Aufregung, die gewaltsame Störung in seinem Arbeitsleben empfunden habe. So – er wußte jetzt, woran er war, er konnte sich danach richten! Nicht daß er von übermäßiger Bescheidenheit beseelt, überhaupt eine zaghafte Natur gewesen wäre! Warum sollte ein Mann in seiner Stellung, mit seinem Charakter und Wesen, es nicht wagen dürfen, um ein junges hübsches Mädchen aus guter Familie zu werben, warum sollte er sich für zu gering achten, von ihr geliebt zu werden, wenn er ihr sein Herz entgegenbrachte? Er hatte nicht mehr ans Heirathen gedacht – gut! Aber wenn er jetzt daran dachte, so hatte er ebensoviel Gründe dazu wie tausend andere Männer auch, die wahrlich nicht mehr in die Wagschale zu werfen hatten als er. Und wenn er so lieben konnte, wie er sich dessen heute bewußt geworden war, dann würde er auch einen guten Ehemann abgeben, das hoffte er! Aber nun gerade Annaliese von Guttenberg! Das verwöhnte Prinzeßchen, die umworbene Salondame, die „Turandot“, wie sie sich heute selbst ihm gegenüber genannt hatte! Wenn sie auch gescheit war und ein warmes unverbildetes Herz besaß, in welches er heute wieder einmal manchen entzückten Blick hatte thun dürfen – wer konnte ihm sagen, ob sie nicht doch mit allen Fasern ihres Seins in dem verfeinerten Boden des Reichthums, des Müßiggangs, der spielenden Eleganz wurzelte? Und das würde er ihr nicht bieten können, auch nicht bieten wollen. Seine künftige Frau sollte eben seine Frau sein, in allem und jedem. Er konnte ihr eine behagliche bürgerliche Existenz bieten, aber sie würde auch Pflichten zu erfüllen haben – er wollte sie nicht wie eine reizende Nippsache hinstellen und anstaunen, für sich wollte er sie haben, zum täglichen Leben, zum gemüthlichen Verkehr, sie sollte ihm seine Häuslichkeit lieb und schön gestalten. Ob eine Annaliese von Guttenberg das konnte und wollte? Gewiß würde sie es können, er traute ihr alles Gute und Liebenswerthe zu, aber wollen würde sie es doch nur, wenn sie ihn liebte, und eben diese Hauptsache schien ihm ganz unmöglich. Sie war begeistert von Freund Claassens schlichter Häuslichkeit, sie schwärmte für das gemüthliche Familienleben und fand sich gut hinein, das sah man, und ihre Freude daran war echt – wer aber stand dem Professor dafür, daß das alles nicht nur der Reiz der Neuheit war, des Ungewohnten, das dem verzärtelten Enkelkinde der alten Excellenz vielleicht so wundervoll und so – kurz mundete wie den Großstädtern das derbe Schwarzbrot auf dem Lande? Wohl war ihre Begeisterung keine gemachte, aber wer stand dafür, daß nicht bald der Rückschlag kam! Das alles sagte sich der Professor Paul Gregory überaus klug und vernünftig, während er langsam, als habe er sehr schwer an diesen verständigen Gedanken zu tragen, über die unter seinen Tritten knirschende Schneedecke dahinwandelte. Und plötzlich trat Annaliese vor seine Augen in ihrem einfachen weißen Wollkleidchen, wie sie ihn erfreut und beschämt unter den langen Wimpern hervor anblinzelte, als er ihr die Binde von den Augen genommen hatte, und ihm schoß heiß, ungestüm das Blut zum Herzen – er fühlte, es gehe um sein ganzes, ganzes Lebensglück.

Nie hatte Paul das Wort „verliebt“ leiden können. Es hatte ihn immer im stillen geärgert, wenn seine Freunde es so selbstverständlich anwendeten: „Er ist ganz rasend verliebt.“ „Sie hat sich wie toll in ihn verliebt!“ – klang es nicht, als handelte sich’s um einen Rausch und um nichts weiter? Warum konnten die Leute nicht sagen: „Er liebt sie!“ „Sie hat ihn lieb!“ Was blieb denn übrig, wenn der Rausch des Veraebtseins verflog? – O ja, er hatte Annaliese lieb! Sie besaß Eigenschaften, die ihn entzückten, auf die sich bauen ließ. Sie war klug, ehrlich gegen sich selbst und andere, sie hatte ein warmfühlendes Herz, sie liebte die Wahrheit und haßte den Schein. Es mußte köstlich sein, diese schönen Eigenschaften im goldenen Sonnenlicht der Liebe [654] voll sich entfalten zu sehen, mit schonender behutsamer Hand, leise und zart die kleinen Schlacken, die das Weltleben um das Kleinod gelegt, nach und nach zu entfernen und glücklich, glücklich zu sein! . . .

Aber wenn Gregory gegen sich selbst ehrlich sein wollte – und das wollte er doch – dann mußte er sich’s zugestehen, er liebte Annaliese nicht nur mit Geist und Seele, er war auch verliebt in sie, ganz hilflos verliebt. Das süße Gesichtchen! Und wie wonnig es sein mußte, beide Arme um die feine schlanke Mädchengestalt zu legen, sie fest an sich zu ziehen und den weichen kleinen Mund, dessen kurze Oberlippe dem Antlitz etwas so Kindliches gab, mit brennenden Küssen zu schließen! Es durchrieselte ihn heiß, wenn er daran dachte. Schon heute abend hatte ihn ein ähnliches Gefühl erfaßt, wenn er während des Spiels in ihre Nähe kam, wenn ihr Kleid ihn streifte oder seine Hand zufällig an die ihrige rührte. Also liebend und verliebt! Es war heiliger Ernst; er wußte es – es war um ihn geschehen!

Und sie? Freundlich und vertraulich war sie gegen ihn, das stand fest, aber das bewies nichts, gar nichts. Gegen wen konnte man denn nicht freundlich sein? Das war eine so wohlfeile Eigenschaft, die gab ein liebenswürdiges junges Mädchen täglich hundertmal drein wie die landläufigste Münze. Und das Vertrauen? Damit stand es erst recht bedenklich. Wäre er Annaliese im mindesten gefährlich gewesen, sie hätte ihm sicher nicht so offen gebeichtet. Zu wem haben junge Damen Vertrauen? Zu alten Onkeln, zu harmlosen Vettern und ähnlichen Sorten von Menschen. Nein, nein, die Sache war aussichtslos, das mußte er sich eindringlich sagen. Und gesetzt auch, das reizende Geschöpf hätte wirklich Gefallen an ihm gefunden . . . wie konnte er es wagen, ihr jemals sein Gefühl zu offenbaren? Sie hatte es immer wieder betont, jeder Bewerber, der ihre Verhältnisse kenne, wähle sie nur, weil sie eine reiche Erbin, die Enkeltochter der alten Excellenz Guttenberg sei – das war ihre fixe Idee, mit der man zu rechnen hatte, um deretwillen sie jetzt hier in Königsberg „armes Mädchen“ spielte. Und wenn nun auch der Professor kein militärischer Streber war und von den hochgestellten Verwandten des jungen Mädchens nicht das geringste erwartete, so wußte er doch immerhin um die zweite, noch gewichtigere Thatsache, um ihre bedeutende Mitgift und sie konnte, sie mußte denken, er sei kühn genug, mit all den ehrgeizigen Lieutenants in die Schranken zu treten, um den „Goldfisch“ zu erobern. Das aber durfte er nie und nimmer veranlassen! Hundert Männer würden sich über diesen Punkt weiter keine Bedenken gemacht haben, aber Paul Gregory war anders geartet und that es.

So würde er denn sein Herz zu bezwingen und sich mit seiner geliebten Wissenschaft zu trösten haben! Er hatte so oft von seiner „geliebten“ Wissenschaft gesprochen – jetzt wollte es ihm plötzlich scheinen, als sei diese ganze Liebe ungeheuer platonisch und laufe schließlich nur auf die bekannte Hochachtung hinaus. Und Hochachtung ist zwar ein sehr edles und schätzenswerthes Gefühl, aber man wird nicht recht warm dabei, und das Herz findet nicht seine Rechnung. Bei dem Gedanken, ein Haufen dicker toter Bücher sollte ihm das entzückende lebendige Geschöpf ersetzen, dessen Anblick, dessen Stimme allein sein Herz höher schlagen ließ . . . bei diesem Gedanken wurde dem Professor Gregory ganz elend zumuth.

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 40, S. 682–686
[682]
9.

Acht Tage später war’s. Oberlehrer Claassen trat aus dem Thor des stattlichen Gymnasiums, von einem ganzen Schwarm junger Leute und Knaben gefolgt und begleitet. Das stürmte und polterte hastig die breiten Treppen hinunter, das drängte und stieß einander, lachte und schwatzte, daß es laut in den hohen Gängen wiederhallte. Der Oberlehrer ließ es geschehen, ohne ein Wort dagegen zu sagen – war er nicht selber jung gewesen und wußte, wie hart es war, vier Stunden hintereinander stets auf den Bänken zu sitzen und sich alle möglichen Dinge abfragen zu lassen, die man oft nur höchst mangelhaft beantworten konnte? Und entsann er sich nicht noch genau des wonnigen Gefühls der Erlösung, wenn diese vier Stunden vorbei waren und es nach Hause ging? So lächelte er denn wohlwollend, als der „gemüthliche Kerl“, der er war, und erwiderte all die zahllosen Grüße mit seinem bekannten jovialen: „Morgen, Morgen!“ Seine lebhaften Augen schweiften zu einem Herrn im Pelz hinüber, der in einiger Entfernung vom Schulgebäude auf und ab ging und regelmäßig bei demselben kahlen beschneiten Kastanienbäumchen Kehrt machte.

„Gregory!“ rief Claassen, als er dem Wanderer in Gehörweite war.

„Nun, da hätten wir Dich ja!“ Der Professor faßte den Näherkommenden unter dem Arm. „Du hast merkwürdig spät geschlossen, ich pendle hier schon seit zwölf Minuten hin und her!“

„Glaub’ ich Dir, Freundchen! Aber was willst Du: im Dienst der Wissenschaft – wenn man den alten Cäsar behandelt!“

„Na, na, der alte Cäsar kommt Deinen Jungen gewiß wie ein abgefeimter Quälgeist vor! Alles wohl und gesund bei Dir zu Hause?“

„Danke! Seit gestern ist gottlob keine verheerende Seuche bei uns ausgebrochen.“

„Schön, mir lieb zu hören! Weswegen ich kam . . . Du kannst mir wohl eine Einladung verschaffen zu dem Dingsda, wie heißt’s doch gleich? ‚Kaufmannskränzchen‘, nicht? Oder dürfen da nur die Herren vom Comptoir hinein?“

„Bewahre! Professoren, Assessoren, Künstler, Lieutenants – alles! Je bunter, desto besser! Einladung? Natürlich! Also so lange willst Du noch hier bleiben?“

„Bis zur künftigen Woche – ist Dir das etwa zuviel? Wünschest Du, mich loszuwerden?“

„Dummheiten! Ich meine bloß, weil Du früher immer so eilig und wichtig mit Deiner litauischen Reise thatest.“

„Eilig und wichtig? Ich? Daß ich nicht wüßte! Ich hab’ mir’s überlegt – zu solchen Studien, wie ich sie vorhabe, ist eigentlich der Winter so ungeeignet wie nur möglich.“

„Das ist Dir jetzt eingefallen?

„Ja, jetzt!“

„Hm, hm!“

„Was ist denn dabei so verfänglich zu hüsteln?“

„Mein Gott, der Mensch wird doch wohl ’mal gelegentlich hüsteln dürfen!“

„Also wegen der Einladung –“

„Sei unbesorgt, mein Sohn, Du sollst sie haben. Willst Du denn eigentlich tanzen?“

„Ich möchte wissen, warum ich nicht tanzen sollte! Eine Zeitlang kam ich mir freilich zu alt dazu vor ... bin ich denn aber zu alt?“ Der Professor bog während des Gehens den Kopf seitwärts und sah seinem Begleiter unruhig nach den Augen.

„Kein Gedanke, Gregory, Du bist ja in den schönsten Jahren – – was ist denn nun schon wieder übelzunehmen? Du bist höllisch empfindlich jetzt! Ich darf doch wohl mein Erstaunen äußern, wenn Du, eine alte Kathederseele –“

„Eben weil ich das bisher gewesen bin, ist es Zeit, mich einmal herauszureißen. Ob ich noch gut werde tanzen können, ist allerdillgs die Frage.“

„Komm nur heut abend zu mir, meine jungen Mädel können Dich eintanzen!“

„Das ist ein reizender Einfall, Claassen! Ich komme mit Vergnügen. Wann darf ich antreten?“

„Wart’ ’mal! Zwei von unseren jungen Damen besuchen das Seminar, ,der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Trieb‘ – die müssen arbeiten. Um halb fünf kommen sie vom Klub zurück –“

„Mir will dies regelmäßige Eisvergnügen für Deine jungen Mädcheu gar nicht recht passend erscheinen, lieber Alter.“

„Na, erlaube gefälligst! Wie kommst Du mir vor? Wenn meine Frau, welche die Vorsicht in Person ist, nichts dagegen hat und Tante Sophiechen tagtäglich als Ehrendame mitgeht, dann kann wohl kein Mensch auf der Gotteswelt etwas Unpassendes dabei finden! Uebrigens sollt’ ich meinen, man dürfte die gesunde Bewegung den Mädchen gönnen. Zwei von ihnen kasteien sich im Seminar mit der Bildung ab, die dritte lernt kochen und feine Handarbeiten – nun sollen sie nicht ’mal nach all dieser Drangsal das bißchen Eissport haben? Sie vergnügen sich prachtvoll dabei und berichten uns außerdem immer haarklein von allem, namentlich die Luise Degen, die jüngste, das kleine Plappermaul. Jedes von den Mädchen hat seinen Courmacher –“

„Das ist es eben! Siehst Du! Courmacher!“

„Herrgott, warum denn nicht? Sind ja alle erwachsen, keine [683] kleinen Kinber mehr! Ja, jede hat ihren eigenen Courmacher, bloß unsere Annaliese –“

„Hat keinen?“

„Hat mehrere!“

Hinter seiner goldgefaßten Brille hervor warf der Sprecher einen pfiffigen Seitenblick auf seines Freundes plötzlich verfinstertes Gesicht. „Weiß der Himmel,“ fuhr er dann harmlos und behaglich fort, „es ist doch noch nicht aller Idealismus in der Welt ausgestorben! Die jungen Leute, sagt Tante Sophiechen, umschwärmen unsere Annaliese wie die Motten die Flamme, trotzdem sie wissen, daß sie keinen Heller Vermögen hat – so was spricht sich nämlich heillos rasch herum. Freilich, was da so auf dem Eis herumfliegt, das ist meistens zum Heirathen noch nicht zu gebrauchen; aber Tante Sophiechen sagt, es seien auch einige ganz ‚gemachte‘ Männer darunter, und gerade die bemühen sich um unser Freifräulein von Guttenberg. Ein reizendes Käferchen ist sie ja auch, meinst Du nicht?“

„Ich? Ja, gewiß!“

„Und sag’ ’mal ehrlich: die hätte doch sicherlich schon heirathen können! Du bist ja aus einer Stadt mit ihr, da hört man so etwas läuten.“

„Mir hat nichts geläutet.“

„So! Also nlcht? Wundert mich ungeheuer. Aber wer weiß – wenn sie dort ihr Glück nicht gemacht hat, kann sie’s ja hier machen. Das fremdartige Element in ihr wirkt ganz besonders anziehend, Tante Sophiechen sagt, die Herren sind ganz bezaubert von allem, was sie sagt und thut.“

„Diese Tante Sophiechen sagt ja ungemein viel!“ murmelte der Professor gereizt.

„Natürlich thut sie das. Wozu sind alte Tanten auf der Welt, als um allerlei zu sagen? Schwenkst Du hier ab, Gregory?“

„Ja! Adieu!“ – – –

„Die Sache stimmt! Es hat ihn, hat ihn ganz fest!“ rief Gustav Claassen fünf Minuten später seiner Gattin zu, nachdem die „Heinzelmännchen“ an dem Papa ihre Pflicht gethan hatten und entlassen worden waren.

„Siehst Du!“ rief Frau Melanie triumphierend. „Hab’ ich’s nicht gleich gesagt?“

„Ja, Du hast es gleich gesagt – in Liebesgeschichten kommt der klügste Mann gegen die simpelste Frau nicht auf . . . dies ganz allgemein gesprochen als alten Erfahrungssatz! Und ich meinerseits sehe nun durchaus nicht ein, welches Hinderniß noch vorhanden sein könnte.“

„Annaliese kann keine Neigung für den Professor haben!“

„Erlaube! Wenn ein Prachtmensch wie mein alter Gregory, ein Ehrenmann durch und durch, gesund, gut aussehend, Professor mit Zukunft und einem kleinen Vermögen obendrein – wenn der seine Hand ausstreckt nach einem blutarmen Mädel, das sich mit ein bißchen Pinseln oder sonstwie ernähren soll, dann hat besagtes Mädel einfach zuzugreifen, oder sie ist die größte Gans, die Gottes Sonne bescheint!“

„Gustav, Du bist sehr derb!“

„Derb, aber wahr! Wenn mein alter Freund nur nicht so zugeknöpft in dem Punkt wäre und mir gegenüber offen Farbe bekennen wollte, dann würd’ ich ihm schon rathen, zuerst ’mal diese mir ganz unerklärliche Zaghaftigkeit aufzustecken und frischweg aufs Ziel loszugehen. Ich hab’ ihn ja all diese Tage, wo er jeden Abend bei uns war, beständig beobachtet. Verliebt wie der erste beste Primaner, aber noch zehnmal schüchterner! Ist das eine Art? Geistert da um das Mädchen herum und hat nicht den Muth, zu sagen: hier bin ich, ich hab’ Dich lieb – willst Du mich? Ich hab’ doch auch eine Adlige gefreit und das wahrhaftig unter erschwerenden Umständen – und hab’ ich nicht gesiegt auf der ganzen Linie?“

„Annaliesens Großmutter wünscht vielleicht eine andere Partie für das Mädchen.“

„Andere Partie! Als wenn sich ein armes adliges Fräulein die Partieen nur so aussuchen könnte! Wenn diese verdrehte alte Schraube darauf warten will, bis der Großmogul um ihre Enkeltochter freit, dann können sie mir alle drei leidthun – die Alte, die Junge und der Großmogul, der sicher auf sich warten läßt! – Heute abend kommt Paul, um Probe zu tanzen; er will mit Gewalt zum Kaufmannskränzchen. Wenn Männer in seinen Jahren es noch über sich gewinnen, nach langer Pause wieder zu tanzen, dann ist das ein sehr schlechtes Zeichen für ihren Herzenszustand.“

„Ach, Gustav, ich würde mir’s so wünschen! Unser lieber Freund und dies Mädchen!“

„Ja, Frau Melanie, das wär’ so etwas für uns – Verlobung im Hause! Feiner Hintergrund fürs Pensionat, wie? Alle Welt kommt zu Dir ins Haus, sobald bekannt wird, daß sich hier die armen jungen Mädchen verloben! Na, wenn es so weit ist, brau’ ich uns eine Bowle, die sich sehen lassen kann!“ – – –

Es war ein sehr lustiger Abend, als die jungen Mädchen den Professor „eintanzten“. Man war unermüdlich fröhlich, sogar eine Quadrille wurde zustande gebracht, bei welcher Kurt, Claassens ältester Junge, als „Herr“ auftreten mußte. Der Oberlehrer und der Professor erwiesen sich dabei bedauerlich ungeschickt und mußten sich beständig von den jungen Mädchen zur Ordnung rufen lassen. Annaliese von Guttenberg strahlte vor Lust und Leben. Es that ihr so gut, hier der Liebling zu sein, es freute sie so sehr, daß der Professor dies sah! Sie merkte es wohl, wie seine Angen ihr beständig bewundernd folgten, sie mochte thun, was sie wollte – war es dies Bewußtsein, das sie so hinreißend liebenswürdig erscheinen ließ?

Auch das „Versteckspielen“ mit den anderen in Gegenwart ihres Vertrauten belustigte Annaliese sehr. Sie berieth völlig ernsthaft mit der Frau Oberlehrer ihre Toilette zum bevorstehenden Fest – „ganz einfach und billig alles“ – sie war sehr dafür, daß man zusammen zwei Wagen miethe, damit es wohlfeiler werde. Wie ihre dunkel schillernden Augen während dieser Berathungen immer wieder Pauls verstohlen lächelndes Gesicht suchten, wie es sie insgeheim glücklich machte, mit ihm ein stilles Einverständniß zu haben, um das keine Menschenseele sonst wußte! Es war ein gesteigertes Gefühl von Lebensfülle und Lebensfreude in ihr, aber sie gab sich keine genaue Rechenschaft darüber, woher es stammte. Sie hatte daheim schon soviel grübeln und nachdenken, sich selbst und andere beobachten müssen – hier wollte sie das nicht fortsetzen, hier wollte sie den Augenblick genießen. –

Jeden Tag trug Annaliese gewissenhaft und pünktlich ihre gewaltige Malmappe zu ihrem Lehrer, der am Königsthor wohnte, und jeden Tag begegnete ihr dabei gewissenhaft und pünktlich Professor Paul Gregory. Wie sollte er nicht? Zu thun hatte er nichts, andere Bekannte als Claassens besaß er nicht, und bis zum späten Abend im „Schweden“ sitzen und Grillen fangen, das konnte er doch auch nicht! Die Bewegung in der frischen kalten Winterluft that ihm außerordentlich gut, er sah jung und blühend aus und schritt so leicht einher, als ginge er auf Wolken. Es war so hübsch für ihn, auf Annaliese zu warten und unter all den schwarzen und grauen Damenhüten das originelle rothe Sammetmützchen auftauchen zu sehen – „das einzige Zeichen früherer Herrlichkeit“, wie Annaliese neckend sagte. Und welch ein Gesicht unter diesem rothen Mützchen, welche Augen, welches Lächeln! Er konnte es im Grunde den Königsbergern gar nicht verdenken, daß sie sich, wie er immer wieder wahrnahm, oft und wohlgefällig nach seiner Begleiterin umsahen – aber eigentlich verdachte er es ihnen doch, und namentlich der Schlittschuhklub beunruhigte den Professor bedenklich. Mit wem traf sie dort zusammen, wer waren die „gemachten Männer“, die sie dort umschwärmten? Es war nichts Rechtes darüber herauszubringen, so oft er auch schon verblümt danach gefragt hatte. Er hatte Kurt, Claassens Aeltesten, der bereits eifrig dem Eissport huldigte, als Aufpasser mitgeschickt und ihn später ein wenig ausgehorcht – aber auch da gab es nicht viel zu erfahren. „Ja, da waren drei Herren, die gleich auf Annaliese loskamen, sowie wir bloß da waren. Der eine schnallte ihr die Schlittschuhe fest, und einer kam mit einem Stuhlschlitten für sie, der dritte zeigte ihr das ‚Holländern‘ – sie ‚holländerte‘ ganz famos, Onkel Paul, kann ich Dir sagen! Einen nannten sie Herr Assessor – und der eine Große sagte zu mir: ‚Mein Jungchen, Du hast hier gewiß viele Freunde, die gern mit Dir laufen wollen‘ – na ja, und da lief ich denn auch mit dem Otto Hein!“ Diese Auskunft war dem Professor nicht genügend; er selbst lief nicht Schlittschuh und mußte sich sagen, daß er jetzt als Anfänger in dieser edlen Kunst schwerlich eine vortheilhafte Rolle spielen würde; so stellte er sich denn selbst auf die Schloßteichbrücke und machte den Beobachter, an einem Tage, an dem Konzert auf dem Eise war. Was er da zu sehen bekam, war ein überaus anmuthiges Schauspiel. Lange Tannenreihen prangten in ernstem Grün, große Fahnen wehten hoch in der blauen Luft, zahllose bunte kleine Wimpel flatterten lustig im Winde. Unter [684] den lockenden Klängen der Musik wogte eine bunte Menge Volks auf dem schimmernden Eis – Männer, Knaben, junge Frauen und Mädchen und Kinder – das alles flog und schwebte in schwindelnder Schnelligkeit, in schwindelndem Wechsel vorüber. Und das ganze Bild eingerahmt von den verschneiten Bäumen der umliegenden Gärten, vergoldet von einer heiter lachenden Wintersonne!

Hier aber die Eine, die er meinte, herauszufinden oder gar festzustellen, mit wem sie lief, das war für den Professor fast unmöglich. Dort tauchte eine rothe Sammetmütze auf – nein, sie war’s nicht! Hier kam eine schlanke, elegante Figur vorbeigesaust – wieder ein Irrthum! Vielleicht jene anmuthige Gestalt, von drei, vier Herren umgeben? Aber andere schieben sich dazwischen, es entsteht ein Gedränge, eine ganze Kette zieht sich vor . . . dort leuchtet noch einmal ein rothes Pünktchen auf, jetzt verschwindet es in der bunten Menge – ist’s Annaliese von Guttenberg gewesen? Der Zuschauer bekam kalte Füße, es fröstelte ihn trotz des Pelzes – hinter ihm sagte die rauhe Stimme eines Schutzmannes: „Das Stehenbleiben auf der Brück’ ist verboten!“ . . . Da ging er weiter.

Konnte Gregory nach dem allem von diesen Stunden auf dem Eis nicht begeistert sein – das junge Mädchen war es immer. Sie war es auch heute, am Vormittag des berühmten Balltages. Es sei gestern ganz herrlich auf dem Eis gewesen, hier in Königsberg könne man sich doch vervollkommnen im Laufen anders als daheim, wo der Winter bloß Komödie spiele – sogar ein paar Offiziere habe man ihr vorgestellt, ihr sei ganz eigen zumuth gewesen, einmal wieder den militärischen Ton zu hören, obgleich die Ostpreußen wieder ganz anders schnarrten als „ihre Lieutenants“ daheim – sie sei nur beständig in Angst gewesen, es könnte einer etwas von ihr wissen, das Militär habe immer so viele Verbindungen ... das alles plauderte sie leicht und rasch an Paul Gregory hin, während sie, statt in die Malstunde zu gehen, mit ihm zum Königsthor hinausschritt. Er hatte sie dazu verlockt, und sie hatte sich gern bereden lassen – mein Gott, die Malstunde eilte wirklich nicht so, und es war ein so wonniges Wetter, hell und frisch, mit blitzenden Sonnenfunken, die fröhlich über die blendend weißen Schneeflächen hintanzten und den Bäumen ein flimmerndes Diadem aufsetzten. Es hatte Rauhreif gegeben während der Nacht, nun lag es zart-weiß und flaumig zwischen den kahlen Zweigen, zeichnete zierlich jede kleinste Verästelung nach und schmiegte sich um die Gesträuche, daß sie wie kostbare Kunstwerke von Krystall anzusehen waren.

„Entzückend!“ Annaliese öffnete die Lippen und zog die Luft wohlig ein. „Es riecht so schön nach Schnee, finden Sie nicht?“

Sie nickte freundlich einem alten Mann zu, der, in einen dicken Friesrock gekleidet, die Pelzkappe tief über die Ohren gezogen, langsam auf einem kleinen Schlitten an ihnen vorüberfuhr; allerlei blanke Kannen und Gefäße standen hinter ihm im Stroh. „Das ist unser ‚Schmandmann‘!“ erklärte Annaliese und nahm den Gegengruß des Alten, der den breiten Mund bis an die Ohren auseinanderzog, vergnügt entgegen. „Wie mir diese ostpreußischen Bezeichnungen Spaß machen, Sie glauben es nicht! ‚Schmand‘ ist soviel wie Sahne – wissen Sie das? Einmal hab’ ich diesen Mann mit den Kindern besucht, er wohnt nicht weit draußen, da sind wir auf einem sonderbaren Gefährt herumkutschiert – bloß zwei lange Kufen, Bretter und Stroh drüber, und zwei Stangen zum Festhalten, das ganze Ding nur so hoch – eine ‚Schleife‘ nennen sie das hier, aber es fährt sich großartig darauf, man fliegt förmlich!“

„So hätte Sie die Großmama-Excellenz sehen sollen und der Kreis Ihrer Verehrer!“

„Ach, was wissen Sie von dem? Der verehrt ja nicht mich, sondern mein Geld!“

„Glauben Sie wirklich, Annaliese, daß jeder, der Ihre Verhältnisse kennt, Sie nur aus Berechnung verehrt?“ fragte Gregory sehr ernst.

„Ja – jeder, jeder! Ich hab’ doch meine genügenden Gründe dafür, und Sie kennen diese recht gut!“

„Daß Sie um des einen willen alle verurtheilen wollen –“

„Steinhausen hat gesagt, daß alle mich bloß deshalb verwöhnen und bevorzugen, weil ich Großmamas Enkelin und reich bin, und er mußte das wissen, keiner kennt so gut unsere Gesellschaft wie gerade er! Aber weg damit! Der Wintertag ist viel zu herrlich und ich bin viel zu vergnügt mit Ihnen, Gevatter, um mir mit solchen unliebsamen Erinnerungen die Zeit zu verderben. ‚Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!‘ Ohnehin – wer kann sagen, wie lange der ganze Spaß dauert!“

„Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, daß Großmama mir heute früh geschrieben hat, wenn ich nicht endlich Ernst machte mit meinen Besuchen bei den hohen Offiziersfamilien und mit meiner Kunst, dann würde sie mich bald nach Hause entbieten, denn sie habe nun meine ewigen Ausflüchte satt. Meine Kunst – du lieber Gott!“ Annaliese sah mit einem drolligen Seitenblick nach der Riesenmappe, die der Professor ihr dienstfertig trug.

„Und wenn nun Tante Guttenberg auf Ihrer Rückkehr besteht?“

„Ja, dann werde ich doch schließlich gehorchen müssen – sie ist sonst imstande und reist her, um mich zu holen! Natürlich lasse ich es bis zum äußersten kommen und bleibe hier, solange ich kann. Sie auch, nicht wahr?“

„Ich auch!“

„Sie gehen noch nicht sobald nach Litauen?“

„Nein, noch nicht sobald!“

„Was sollen Sie auch jetzt da!“

„Ganz recht, was sollte ich jetzt da!“

Annaliese und ihr männliches Echo sahen einander mit strahlenden Blicken an und wanderten, wanderten in die sonnige Winterlandschaft hinein, als gäbe es auf der weiten Welt sonst nichts für sie zu thun.


10.

Bei Claassens herrschte große Aufregung – fünf Damen kleideten sich zum Ball an. Alles fragte und lief durcheinander. Die Kinder waren jedermann im Weg und wurden unaufhörlich berufen: „Müßt Ihr einem denn überall unter den Füßen sein? Geht doch in die Kinderstube und spielt!“ Allein so gern sie das sonst thaten, heute wollten sie es nun gerade nicht; sie wollten alles sehen, überall dabei sein, die schönen Sachen anfassen, womöglich helfen ... bis schließlich der Vater einen Gewaltakt vollführte, sie alle vier, eins nach dem andern, in die Kinderstube steckte und den Schlüssel im Schloß umdrehte.

Annaliese von Guttenberg, daheim an zwei große Toilettezimmer, die zu ihrer alleinigen Verfügung standen, sowie an die sorgsame Bedienung der vorzüglich geschulten Kanapé gewöhnt, fand es etwas schwierig, sich in den engen Räumen zu behelfen und alles selbst zu machen. Zwar wäre jedermann auf ihren Wunsch gern bereit gewesen, sie zu bedienen, allein sie äußerte kein solches Verlangen, sah sie doch, daß jede von den Damen vollauf mit der eigenen Toilette zu thun hatte. Mit einem halb belustigten, halb mitleidigen Lächeln musterte sie ihr blaßrothes Kleid von billigem Stoff, dessen einzigen Schmuck ein paar lange Atlasschleifen bildeten. Und ohne Perlen, ohne Brillanten, ohne Bouquet – sie, die daheim zwischen vier, fünf Sträußen, einer immer kostspieliger als der andere, die Wahl gehabt hatte!

Die Stunde der Abfahrt rückte näher und näher, die jungen Mädchen wurden immer aufgeregter, sie sprachen in ängstlichen Tönen von ihrem „Ballfieber“. Das war ein Zustand, den Annaliese aus eigener Erfahrung durchaus nicht kannte, sie wußte nur durch Hörensagen davon, aber er wirkte entschieden ansteckend, das fühlte sie. Wie, wenn sie keine Tänzer bekäme! Ganz fremd, in einer Toilette, die nach ihren Begriffen dürftig zu nennen war . . . wie leicht konnte es da kommen, daß sie eines von den „Mauerblümchen“ wurde, die sie daheim so oft bemitleidet, denen sie von ihrem Ueberfluß Tänzer geschickt hatte! Ob ihre Bekannten vom Schlittschuhklub den Ball mitmachen würden, wußte sie nicht, auf Professor Gregory als Tänzer war nicht besonders zu zählen, und ihr Pensionsvater, Doktor Claassen, hatte seinen jungen Damen schon lange verkündigt, er kümmere sich grundsätzlich nicht um sie, es sei ihm schon Opfer genug, überhaupt zu Ball zu gehen; er gedenke in einem der Nebenräume einen Skat zustande zu bringen und in der Eßpause seine Damen in den Speisesaal zu begleiten, mehr könne niemand von ihm verlangen. – Wie wird das werden? Sollte die gefeierte Enkelin der Excellenz Guttenberg heute abend vielleicht ihre erste Niederlage zu verzeichnen haben? Sie seufzte beklommen. Es war noch manches andere, was sie beklommen machte, ihr war das Herz so voll – aber unglücklich war sie nicht, nein, bewahre!

Inzwischen ließen sich die jungen Damen frisieren – Frau [685] Melanie kannte eine „billige“ Friseuse, die für alle fünf Köpfe zusammen nur zwei Mark fünfzig Pfennig rechnete – riefen ab und zu nach Mine, dem Stubenmädchen, und hetzten selbst Jette, die Köchin mit den dicken feuerrothen Armen, in aufgeregtem Lauf durch sämtliche Zimmer, daß der Fußboden zitterte und die Fensterscheiben klirrten.

Endlich kamen die Wagen, und nach einem letzten aufregenden Akt, in dem sämtliche Frauenstimmen wild durcheinanderschrieen, so daß der Oberlehrer die Hände an die Ohren legte und um Gnade bat, fuhr man in scharfem Trab, denn es war wirklich spät, nach dem Junkerhof.

Annaliese bekam ihre Tanzkarte, die sonst tagelang zuvor mit „Abonnements“ besetzt war, und wurde in den Saal geführt. Das erste, was sie dort sah, war Paul Gregory, der sich glückstrahlend vor ihr verbeugte und sie an ihren Platz begleitete.

„Wollen Sie mir gütigst einiges bewilligen? Darf ich um die Tanzkarte bitten?“ fragte er mit feierlicher Würde.

„Bitte!“ Mit einem Schelmenblick gab sie ihm das Kärtchen.

„Sie haben die Wahl, wie Sie sehen!“

Er betrachtete sie, die in dem duftigen frischen Kleid, mit einigen wilden Rosen im dunklen Haar, zum Entzücken aussah, mit einem langen sprechenden Blick. „Wärst Du nur arm, wirklich arm, Du süßes Geschöpf,“ sprach der Blick, „ich spräche Dir von meiner Liebe – so heiß, so stürmisch, daß Du nicht widerstehen könntest!“

Und Annaliese bemerkte den Blick, und das feine elfenbeinblasse Mädchengesicht wurde plötzlich so rosig wie die Blüthen in ihrem Haar – und da war auch das volle, berauschende Wohlgefühl wieder in ihr und fluthete ihr mit starken übermächtigen Schlägen zum Herzen. Sie empfand kein Ballfieber mehr und dachte nicht mehr an ihre einfache Toilette, an die leere Tanzkarte – Glück und Zuversicht schauten aus ihren Augen.

„Ein Tag wie der heutige kommt nicht wieder,“ sagte sich der Professor; „was nachfolgt, kann niemand wissen. Ein Narr, wer die Gelegenheit nicht ausnützt!“ und er schrieb seinen Namen einmal hin und noch einmal und noch einmal, bis Frau Melanie halb ärgerlich, halb lachend ausruf: „Halt, halt, mein Freund! Andere Leute werden auch noch etwas haben wollen! Annaliese gehört nicht Ihnen allein!“

„Leider!“ setzte Gregory im stillen hinzu und gab zögernd die Karte zurück.

„Darf ich bitten, gnädiges Fräulein?“ fragte es jetzt von links und eine begehrliche Hand streckte sich nach der Tanzkarte aus – Annaliesens Assessor vom Eis.

„Wer war das, Gerwald, bei dem Sie da herumschwänzelten?“ fragte zwei Minuten später ein hagerer Herr mit Monocle und nahm den Assessor beim Arm. „Ein reizendes Käferchem das da in Rosa!“

[686] „Leider kein Goldkäferchen!“ seufzte Gerwald mit der Miene eines geschlagenen Mannes. „Und dabei so hervorragend unterhaltend und hübsch! Aber soll rein gar nichts von Mammon dabei sein – ein Skandal!“

„Na, einen Tanz kann man immer wagen! Bitte, stellen Sie mich doch vor!“

„Mich können Sie auch gleich mitnehmen!“ sagte ein blonder Jüngling, der neben den beiden stand. „Unsereins sieht auch gern ’was Hübsches! Ob sie gut tanzt?“

„Was gut Schlittschuh läuft, das tanzt auch gut,“ bemerkte der Assessor sachverständig und nähm die beiden ins Schlepptau.

„Annaliese hat ihre Tanzkarte gleich voll!“ flüsterte Luise Degen ihrer Nachbarin zu.

„Sie ist auch weitaus die Hübscheste von uns,“ antwortete diese, eine begeisterte Verehrerin der Besprochenen.

Die ersten Takte der Polonaise erklangen, Paul Gregory holte seine Tänzerin ab. „Wie ist Ihnen zumuth?“ fragte er sich niederbeugend, und drückte unwillkürlich den zarten runden Arm, der in dem seinen lag, leise an sich.

„Wundervoll!“ gab sie mit einem strahlenden Aufblick zurück. „Ihnen doch auch?“

„J – – ja! Mit Vorbehalt! So ganz ungetrübt –“

„Denken Sie sich,“ fiel sie ihm mit erregtem Flüsterton ins Wort; „ich muß Ihnen das rasch erzählen, ehe ich’s vergesse – heute mittag, als ich von der Malstunde heimkam, sagte der Oberlehrer mit einem ganz sonderbaren Gesicht zu mir, er habe eine Ueberraschung für mich, heute abend würde er sie mir vorsetzen. Ich that ungeheuer neugierig und bat und fragte und suchte zu rathen, aber es half mir alles nichts, er lächelte verschmitzt und schwieg. Hat Ihr Freund Ihnen etwas davon gesagt?“

Die Musik schmetterte brausend, der Zug setzte sich in Bewegung.

„Nein, kein Wort! Ich habe Claassen auch nur flüchtig begrüßt, seit gestern abend nicht gesprochen.“

„Ahnen Sie, was es damit sein kann?“

„Nicht im geringsten – haben Sie eine Idee?“

„Keine bestimmte – ich dachte schon . . . ah!“

Annaliese war merklich zusammengezuckt; ihr strahlendes Gesichtchen hatte einen erschrockenen Ausdruck bekommen.

„Was haben Sie denn? Um Gotteswillen, was ist?“

„Sehen Sie denn nicht? Da rechts an der Wand, wo die nicht tanzenden Herren stehen – wir kommen jetzt nahe vorbei, ich muß mir den Anschein geben, als ahnte ich nichts. Der vierte Herr, vom Pfeiler an gezählt, neben dem Herrn mit dem brandrothen Vollbart . . .“

„Ich sehe! Das ist ja . . .“

„Still! Keinen Namen nennen!“

Die beiden wandelten würdevoll im gemessenen Taktschritt der Polonaise an dem Bezeichneten vorüber, anscheinend sehr in ihr Gespräch vertieft, ohne rechts und links zu sehen. Der „vierte Herr vom Pfeiler an“ war eine schlanke schöne Erscheinung in blauer Husarenuniform – hier doppelt auffällig – neben ihm stand noch ein Offizier, mit dem er dann und wann einige Worte wechselte.

Steinhausen! Wahrhaftig, Konstantin von Steinhausen, kein anderer! Das also war Claassens Ueberraschung! Ohne Zweifel hatte ihm der Offizier heute vormittag, während Annaliese ahnungslos mit dem Professor vor dem Königsthor spazieren ging, seinen Besuch gemacht, sich eine Einladung zum Abend erbeten und den Wunsch ausgesprochen das Freifräulein von Guttenberg mit seiner Anwesenheit zu überraschen. Wie das dem guten Oberlehrer vorkommen mochte: ein armes adliges Fräulein und ein Husarenoffizier! Gleichviel!

Es lag auf der Hand, weswegen Steinhausen die weite Reise bis nach Königsberg gemacht hatte – das wußten die beiden, die Arm in Arm inmitten der Polonaise an ihm vorüberschritten, ganz genau. Es war zu Ende mit dem Hinhalten und Ausweichen – Konstantin von Steinhausen wollte endlich Gewißheit haben, und es gab hier kein Entschlüpfen. Wenn Steinhausen den Oberlehrer Claassen bat, – er möge ihm zu einer Unterredung unter vier Augen mit der Baroneß Guttenberg verhelfen, konnte das junge Mädchen dann sich dessen weigern?

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 41, S. 699–703

[699] Dem Professor war mit einem Mal kläglich zumuth. Einen einzigen raschen Seitenblick hatte er auf den Husarenoffizier geworfen, aber der hatte genügt, um ihm aufs neue die Ueberzeugung zu geben, daß Steinhausen wirklich einer der schönsten Männer sei, die ihm je vor Augen gekommen waren. Und Annaliese mit ihrem schönheitsdurstigen Empfinden! Sie hatte freilich dies Bild auch daheim stets zu Gesicht bekommen, aber wenn ihr Verehrer ihr nun einen so offenkundigen Beweis seiner Gefühle gab, indem er ihr bis in diesen abgelegenen nordischen Winkel folgte – konnte diese Thatsache nicht doch, trotz allem, was vorgefallen war, ihr Herz rühren? Wenn er ihr nun schwor, Erna von Torsten sei ganz und gar ausgelöscht aus seinem Herzen, er habe überwunden, und sie, Annaliese, sei sein einziges Heil auf Erden . . . ob sie dann ihm nicht dennoch Hoffnung ließ, ihn, wenn auch nicht sofort erhörte, so doch auf spätere Zeiten vertröstete? Gregory hatte es so oft sagen hören, daß jeder Mann schließlich jedes Mädchen erobern könne, vorausgesetzt, er lasse es an zäher Beharrlichkeit nicht fehlen und verstehe es, sie bei ihren Schwächen richtig zu fassen . . . konnte sich dieser Ausspruch nicht am Ende auch hier bewahrheiten? Und wenn er sich das zuversichtliche Gesicht seiner Tante vergegenwärtigte und ihre stets wiederholten Worte: „Sie bekommt ihn! Verlaß’ Dich auf mich – sie bekommt ihn!“ dann schien ihm diese schreckliche Möglichkeit schon um ein gutes Stück nähergerückt.

Annaliese ihrerseits war ganz und gar nicht mit sich im Zweifel, welche Antwort sie dem Offizier auf seine Frage geben müsse, aber aufgeregt war sie darum doch. Ihr weibliches Empfinden war peinlich berührt. Sie mußte die volle Wahrheit sagen, das stand fest, aber wie schwer würde ihr das fallen! Sie war dieser unangenehmen Aussprache auf hundert Wegen ausgewichen, war bis hierher gegangen, um sie zu vermeiden – und nun mußte es dennoch sein! Sie mußte einem Mann von Ehrgefühl die Mittheilung machen: „Ich habe ein Gespräch zwischen Dir und Deiner Schwester belauscht, habe erfahren, daß Du nicht mich, sondern eine andere liebst, daß Du, mit der Liebe zu dieser andern im Herzen, um mich warbst, weil ich reich bin und einflußreiche Verwandte besitze – es widerstrebt mir natürlich, um solcher Gründe willen gewählt zu werden, und das emporkeimende Wohlgefallen, das ich für Dich empfand, hast Du ein für allemal mit eigener Hand vernichtet.“ – Ja, so würde sie reden müssen . . . aber wie peinvoll war das! Mußte es denn wirklich sein? War dies der einzige Weg, den sie einschlagen konnte? Gab es keinen andern?

Und wie sie geängstigt das dachte und mechanisch die Figuren der Polonaise ausführte – die Damen hatten sich inzwischen von den Herren getrennt und vereinigten sich jetzt wieder mit ihnen – flammte es plötzlich wie ein Blitz der Erkenntniß in ihr auf; sie wußte einen Ausweg, hatte ihn gefunden aus der Tiefe ihres Herzens heraus – und sie reichte Paul Gregory, der ihr eben entgegentrat, mit einem so leuchtenden, glückseligen Aufblick die Hand, daß es ihm, der tief in seine trübsinnigen Betrachtungen eingesponnen war, förmlich schwindelte und er leise und athemlos fragte: „Was ist nun wieder geschehen, Annaliese?“

„Zeichen und Wunder!“ gab sie erröthend zurück, und nach einem kurzen Zaudern setzte sie hinzu: „Ich sage Ihnen alles – ich hoffe, ich werde Ihnen alles sagen können! Für jetzt nur eine Bitte: bleiben Sie beständig in meiner Nähe, lassen Sie es nicht dazu kommen, daß Steinhausen ein einziges Wort unter vier Augen mit mir wechselt, wir können das unauffällig machen, ich will gleichfalls das meinige dazu thun. Wollen Sie?

„Wie können Sie fragen! Sie sollten doch wissen, das ich zu allem zu haben bin, was Sie von mir verlangen!“

„Wirklich? Zu allem? Ohne Vorbehalt?“

Gregory stutzte. Sie fragte das mit so eigenthümlicher Betonung. „Falls Sie mich nicht verbannen – ohne Vorbehalt!“

„Nein ich verbanne Sie nicht.“

„Sind alle Ihre Tänze besetzt Annaliese?“

„Alle! Denken Sie sich! Ist das nicht wunderbar?“

„Nicht im geringsten!“

„Ich bitte Sie – ich bin hier ganz fremd, bin angezogen wie ein Aschenbrödel –“

„Die war ein Prinzeßchen, und das sind Sie auch, ob in Seide oder Baumwolle!“

„Zu komisch, wenn Sie eine Schmeichelei sagen! Sehen Sie, wie freundlich uns meine gute Pensionsmutter zunickt! Sie ist vergnügt, alle ihre Kinder tanzen, sie legt Ehre mit uns ein. Wie schön alles hier ist! Schade, schade, das diese Königsberger Zeit nun bald zu Ende geht! Wenn Steinhausen berichtet, wie die Sachen hier stehen, muß ich heim. Er wird ohnedies mein ganzes Inkognito gefährden, denn er hat hier natürlich Kameraden, und die dürfte er leicht über mich und meine Verhältnisse ins Klare setzen!“

„Ein wunderschöner Mensch, dieser Husarenlieutenant!“

„Steinhausen? Ja, er ist bildhübsch!“

Das kam so natürlich und unbefangen heraus, als wenn Annaliese den Apoll von Belvedere bewunderte. Paul beobachtete sie scharf von der Seite, sie merkte es und nickte ihm lächelnd zu.

Die Polonaise war beendet, der Professor brachte seine Tänzerin an ihren Platz und pflanzte sich wie eine Schildwache hinter ihr auf. Die jungen Mädchen steckten die Köpfe zusammen und zischelten, es gab natürlich die wichtigsten Dinge zu besprechen.

„Gott, Annaliese,“ sagte Luise Degen, „hast Du den himmlischen Husaren gesehen, der dort drüben stand, ohne zu tanzen? Ein entzückender Mensch! Was mag der hier wollen? Blaue Husaren giebt es ja hier gar nicht – da, jetzt kommt er quer über den Saal – nein, der Gang und das Gesicht! Es sieht beinahe so aus, als ob er hierher zu uns käme – das wäre einfach überwältigend!“

Das „Ueberwältigende“ geschah; der schöne Mann blieb dicht vor dem „Pensionat Claassen“ stehen, nahm die Hacken zusammen und verneigte sich tief.

„Gnädiges Fräulein werden hoffentlich die Güte haben, sich eines alten Bekannten zu erinnern und ihn willkommen zu heißen,“ sagte er zu Annaliese von Guttenberg.

„Ganz gewiß, Herr von Steinhausen,“ erwiderte das junge Mädchen mit unbefangener Freundlichkeit. „Willkommen in Königsberg! Sie gestatten, das ich Sie vorstelle: Lieutenant von Steinhausen – Frau Oberlehrer Claassen, meine verehrte Pensionsmutter, Fräulein von Herzen, Fräulein von Laßt, Fräulein Degen, meine Pensionsgenossinnien – Herr Professor Gregory ... die Herren kennen wohl einander.“

„Bedaure, kann mich nicht entsinnen!“ sagte der Lieutenant von oben herab.

„Bedaure ebenfalls!“ entgegnete Gregory in trockenem Ton.

„Baroneß scheinen gar nicht von meinem Erscheinen hier überrascht zu sein,“ nahm Steinhausen von neuem das Wort.

„Wie sollte ich! Ich sah Sie ja während der Polonaise drüben an der Säule stehen und hatte Zeit, mich in die Thatsache Ihres Hierseins zu finden.“

„Und dieselbe hoffentlich richtig zu deuten!“ fiel er mit Betonung ein.

Annaliese hielt es für gut, diese Bemerkung zu überhören. „Wie geht es denn Großmama?“ fragte sie lebhaft.

„Ich danke – Excellenz befinden sich wohl und haben mir“ – wieder mit Betonung „verschiedene private Aufträge an das gnädige Fräulein mitgegeben, die treulichst auszurichten ich hoffentlich bald Gelegenheit finden werde. – Darf ich um einen Tanz bitten?“

„Ich fürchte, ich habe keinen mehr übrig – bitte, Gevatter, reichen Sie mir einmal meine Tanzkarte, Sie haben sie ja in Gewahrsam. Da, überzeugen Sie sich selbst, Herr von Steinhausen: alles vergeben!“

„Sollte nicht Herr Professor Gregory, dessen Namen ich hier mehrfach vermerkt finde, zu Gunsten eines weithergereisten alten Bekannten des gnädigen Fräuleins auf einen Tanz gütigst verzichten?“ fragte Steinhausen höflich.

„Ich muß bedauern!“ entgegnete Gregory kühl und stand so steif wie der steinerne Gast hinter Annaliesens Stuhl. „Ich habe die gleiche weite Reise hinter mir, nehme das gleiche Recht alter Bekanntschaft in Anspruch wie Herr von Steinhausen und weiß die seltene Gunst, ein Tänzer der Baroneß Guttenberg zu sein, viel zu hoch zu schätzen, um irgend eines meiner glücklich errungenen Rechte auf einen anderen zu übertragen.“

[700] „Dann muß ich freilich zurückstehen.“ Der Lieutenant maß den Sprecher mit einem hochmüthigen geärgerten Blick – das war ja ein unangenehmer Mensch, dieser Professor Gregory – er war ihm aber damals schon zuwider gewesen, als er neben Annaliese am Wagenschlag lehnte und nachher die beiden so unausgesetzt mit einander sprachen.

Die drei jungen Mädchen hatten mit fieberndem Interesse zugehört – das klang wie in Romanen, so herausfordernd, so scharf – und alles wegen Annaliese! Wie die sich vorkommen mußte! Zwei der jungen Dämchen fanden den blonden, aristokratischen Offizier so bezaubernd, daß sie es nicht begriffen, wie Annaliese ihm nicht zu Hilfe kommen und der Professor ihm nicht ohne weiteres das Feld räumen konnte. Die dritte freute sich über Annaliese wie über Gregory – sie hatte so ihre eigenen stillen Gedanken.

Steinhausen stellte dann noch ein paar Kameraden vor, deren Bekanntschaft er hier in Königsberg gemacht hatte; die Herren bedauertem unendlich, daß die Tanzkarte der Baroneß gefüllt sei, hofften auf Extratouren und engagierten die Pensionsfreundinnen. Sehr unangenehm war ihnen allen dieser Professor, der nicht von Annaliesens Seite wich und wankte, den sie immer wieder ins Gespräch zog und zu dem sie oft mit einem Blick emporsah, den sie für keinen andern übrig hatte. Man fragte heimlich bei Steinhausen an, was denn das eigentlich für ein Mensch sei und was er wolle – der Gefragte hob die Achseln, wußte nichts weiter, als daß jener ein Verwandter der alten Excellenz Guttenberg, folglich auch ihrer Enkelin sei und sich auffalleud zudringlich und anmaßend betrage, denn Chancen wären keine für ihn da, das habe die alte Excellenz wieder und wieder aufs nachdrücklichste versichert.

Der Ball nahm seinen Fortgang. Mitunter erhob sich Frau Claassen, die neben einer „Frau Kollegin“ einen angenehmen Platz hatte, von ihrem Stuhl und beobachtete beunruhigt ihre Schutzbefohlene, Annaliese von Guttenberg. Sie freute sich ja, daß das Mädchen so sehr gefiel, sie hatte das auch nicht anders erwartet – aber wirklich, Annaliese tanzte zuviel, sie als Pensionsmutter durfte das eigentlich nicht leiden. Immer aus einem Arm in den andern – wollte man sie denn tot tanzen? Frau Melanie kam nicht zur Ruhe, sie war in einem beständigen Wechsel zwischen Aufstehen und Sichsetzen begriffen, ihre Sorge um Annaliesens Gesundheit kämpfte mit einer wahrhaft mütterlichen Freude an des Mädchens Erfolgen – sie gönnte ihr so herzlich diese Triumphe, „an die sie wahrhaftig nicht gewöhnt sein wird, sie ist ja von Hause aus so arm und nach dem Tode der Großmutter darauf angewiesen, sich selbst durchs Leben zu helfen“ – so äußerte sich die Frau Oberlehrer in vertraulichem Ton gegen ihre Nachbarin.

Paul Gregory hatte nicht viel von Annaliese, das mußte er sich sagen. Aber sie wußte ihn zu entschädigen. Mit bewundernswerther Raschheit und Geschicklichkeit verstand sie es, ihm ein tröstendes Wort, einen strahlenden Blick zuzuwerfen und ihn so wunderbar mit den Qualen der Eifersucht und des Verlassenseins auszusöhnen. Was für herrliche Augen das Mädchen hatte! Paul überließ sich widerstandslos ihrem Zauber, er dachte nicht an die Zukunft, nicht einmal an den morgenden Tag – war das Heute, das Jetzt nicht genug? Annaliese tanzte leidenschaftlich gern, das hatte sie ihm gesagt, und das sah man ihr auch an – es war eine Lust, ihr zuzuschauen. „So tanze denn, schöner Schmetterling, tanze – aber komm’ zurück zu mir; ohne Dich ist es öde um mich und in mir!“ Das dachte Gregory, und da war Annaliese auch schon wieder bei ihm, zutraulich und lächelnd; er nahm ihren Fächer und wehte ihr Kühlung zu und neigte seine durstigen Lippen tiefer, tiefer, bis sie beinahe das krause Gezitter der dunklen Löckchen berührten.

„Gevatter, nun eines noch!“ Im raschesten Tempo erklang ihre leise Stimme – der nächste Tänzer wartete schon. „Es wird bald zu Tisch gehen – Sie führen mich ja, aber sorgen Sie um Gotteswillen, daß Steinhausen nicht an meine andere Seite kommst, er versucht das jedenfalls. Das darf aber nicht sein, sonst hab’ ich keine ruhige Minute. Holen Sie den Assessor – Sie wissen schon – oder den blonden Referendar, einerlei, wen! Nur, bitte, sprechen Sie in ruhigem Ton zu Steinhausen, wenn sich’s so fügt, daß Sie mit ihm reden müssen! Nicht so schroff – um meinetwillen! Ich muß gar zu viel Angst ausstehen um Sie, daß Sie mit ihm Streit bekommen!“

So, das war wieder eine Entschädigung und wahrlich keine schlechte! Das „Angst um Sie“ klang wie Musik in Pauls Ohren, und der Blick, der diese Worte begleitet hatte, legte sich wie Balsam auf sein heißes Herz. Aber nun mußte ihr Auftrag vollführt werden. Zum Glück entdeckte er den Assessor in seiner Nähe und fand diesen Herrn sehr erfreut über das Ansinnen, an Fräulein von Guttenbergs rechter Seite zu sitzen. Er hatte Luise Degen zur Dame, das paßte wundervoll.

Der Lieutenant von Steinhausen war natürlich anderer Meinung. Seine Brauen zogen sich finster zusammen, und sein schönes Gesicht hatte den Ausdruck glatter Freundlichkeit, den es für gewöhnlich trug, ganz verloren, als er die Anordnung gewahrte, welche ihn der Tischnachbarschaft Annaliesens beraubte. Mit Mühe vermochte er für sich und seine Dame, eine junge Adlige, die ihm einer der Kameraden vorgestellt hatte, zwei Plätze zu erobern, die denen des Professors und des Fräuleins von Guttenberg schräg gegenüber lagen – so konnte er sie und den „fatalen Menschen“ wenigstens im Auge behalten, und dies Auge blickte drohend genug.

Die beiden, denen die Drohung galt, kümmerten sich herzlich wenig darum – sie waren bei einander, das war ihnen genug. Für alle übrigen Mitmenschen saßen sie offenbar im Speisesaal des Junkerhofes zu Königsberg, an einer der langen Tafeln mitten unter mehreren hundert anderen Leuten, die sich’s allesamt wohl sein ließen, . . . ihrem eigenen Empfinden nach waren sie allein, saßen sie auf der kleinen Glückseligkeitsinsel, von welcher Longfellow so hübsch singt, und alles um sie her war nichts als Beiwerk.

Oberlehrer Claassen und seine Frau wechselten vergnügte Blicke; der heutige Abend schien sie ihren stillen Wünschen in Bezug auf die Zwei bedeutend näher zu bringen. Herr Gustav Claassen war ohnehin in rosiger Laune: er hatte sich in einen ziemlich hohen Skat eingelassen und nicht ohne Besorgniß daran gedacht, daß es für einen soliden Gatten und vierfachen Familienvater eigentlich recht leichtsinnig sei, solche Wagestücke zu unternehmen. Wie, wenn er verlor! Aber nein, er gewann, gewann nach seinen Begriffen sogar bedeutend, Und nun saß auch noch „sein Paar“ in seiner Nähe und benahm sich ganz ähnlich, wie er und seine Melanie es gethan hatten, ehe sie sich verlobten! Der Oberlehrer lachte in seinen Bart hinein und bestellte Sekt . . . Mit einem schlauen Blinzeln seiner freundlichen Augen schob er den beiden die geschliffenen Kelche zu, in denen es aufschäumend perlte.

„Nun, worauf wollen wir trinken?“ fragte Annaliese und drehte das Glas leicht zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.

„Ich wüßte schon etwas –“

„Auf gute Freundschaft, meinen Sie?“

„Nein, bewahre!“ Gregory schüttelte so entrüstet den Kopf als sei Annaliesens Freundschaft eine Beleidigung für ihn. „Ich möchte mit Ihnen auf die Wahrheit anstoßen!“

„Auf die Wahrheit?“

„Ja – auf sie, die so oft in dieser Welt zu kurz kommt, der Sie aber zum Sieg verhelfen wollen, denn, nicht wahr, Sie sind doch fest entschlossen, dem Lieutenant von Steinhausen die volle Wahrheit zu sagen?“

„Ich muß wohl, wenn nicht . . . vielleicht läßt sie sich doch noch umgehen!“

„Umgehen? Annaliese, das ist Ihrer nicht würdig! Sie sind so offen – ich – ach, ich möchte Ihnen vieles sagen –“

„Und warum sagen Sie es nicht?“

„Weil ich es nicht wage – weil ich weiß, wie Sie sind, wie Sie sich in den Verdacht festgerannt haben, jeder, der Kenntniß davon habe, wer Sie in Wirklichkeit seien, handle in schnödester Berechnung. Sie gaben mir das noch heute Vormittag deutlich genug zu verstehen . . . wie sollte nun ich, gerade ich –“

„Und wenn ich nun antworte: eben Sie, gerade Sie?“

Um Annaliesens Mund zuckte es, und ihre Stimme klang umflort, Gregory starrte sie an wie ein Traumbild, das Herz wollte ihm fast still stehen. Was – was hatte sie soeben gesprochen? Er vergaß buchstäblich, wo er war – er sah nur sie, hörte nur sie! Weit beugte er sich zu ihr hinüber und sah ihr in die Augen. Sie waren groß zu ihm aufgeschlagen und füllten sich langsam mit Thränen.

[702] „Es ist nicht möglich,“ sagte er leise, als spräche er mit sich selbst.

„Sie wollten die Wahrheit von mir – das ist sie!“

„Sie glauben mir, daß ich Sie liebe – um Ihretwillen liebe?“

„Um meinetwillen, nur um meinetwillen – Ihnen kann ich das glauben!“

„Dann lieben Sie mich, wie ich Sie liebe!“

„Ja, Gevatter!“ erwiderte sie, unter Thränen lächelnd.

Eine Pause. Seine zitternde Hand sucht das Weinglas – ganz leise stoßen sie mit einander an. Ueber Annaliese kommt ein Gefühl des Geborgenseins, so schön, so süß – sie möchte die Augen schließen und träumen, sie möchte ihr Haupt an seine Brust legen und weinen. Aber sie darf beides nicht, sie muß ihre seligen Thränen niederzwingen und ihre Träume verschieben.

Gregory ist viel aufgeregter als sie; sein Herz schlägt stürmisch, sein Athem fliegt. Er sieht nicht seinen Freund Gustav, der sein Sektglas hochhebt und ihm zutrinkt, nicht Frau Melanie, die sich umsonst räuspert, um einen Blick von ihm aufzufangen, nicht Steinhausen, der seinen Bart mißhandelt und zornig zu ihm herüberschaut – nur sie, nur sie!

„Annaliese!“

„Paul!“

Viel mehr sagen sie nicht zu einander – es schadet nichts. Vor ihnen liegt ein langes und glückliches Leben, so hoffen sie bestimmt . . . Gelegenheit genug, sich vieles, vieles zu sagen!

Was sie essen und trinken, weiß keines von ihnen. Was Annaliese dem Assessor, der eifrig in sie hineinspricht, und Gregory dem Fräulein von Herzen, das ihn von links her allerlei fragt, zur Antwort giebt – das wüßten sie beide nicht zu sagen, und wenn es um ihr Leben ginge. Sie klingen mit ihren Gläsern an die des Oberlehrers und seiner Frau, es fährt ihnen flüchtig durch den Sinn, die beiden könnten wohl etwas ahnen, denn sie lächeln so merkwürdig – eine halbe Minute darauf gedenken sie dessen nicht mehr. Unter dem Tafeltuch haben sich ihre Hände gefunden und lassen einander nicht mehr los – Annaliesens kleine Linke wird feuerroth unter dem heftigen Druck von Pauls Hand, aber sie läßt sie ihm, sie ist auch darüber glücklich.

Endlich! Die Musik setzt ein, man hebt die Tafel auf. Verbeugungen ohne Ende. Gregory hat Gelegenheit, Annaliesens Hand zu küssen, und er macht von dieser Erlaubniß einen so aufallenden Gebrauch, daß ihr wirklich nichts übrig bleibt, als ihm die Hand zu entziehen; aber gleich darauf legt sie dieselbe in seinen Arm, und das Paar schreitet selbander dem Tanzsaal zu. An der Thür tritt ihnen Steinhausen entgegen, er hat hier auf sie gewartet.

„Mein gnädigstes Fräulein, ich sah Sie bei Tisch derartig vertieft in Ihr Gespräch, daß ich es nicht wagen durfte, Ihnen lästig zu fallen. Dürfte ich mir jetzt vielleicht die Frage erlauben, wann es mir vergönnt sein wird, Sie in einer wichtigen –“

Annaliese läßt ihn nicht zu Ende sprechen; er hat zwar seine Stimme so gedämpft , daß nur sie seine Worte verstehen konnte, aber es widerstrebt ihrem Gefühl, ihm weiter zuzuhören.

„Auch ich, Herr von Steinhausen, habe Ihnen Wichtiges mitzutheilen,“ fällt sie ihm in die Rede, „für mich das Wichtigste, was es geben kann, und Sie, der alte Bekannte aus der Heimath, sollen der Erste sein, der es erfährt. Ich habe mich mit Herrn Professor Gregory verlobt.“

Der schöne Husarenlieutenant konnte auf dies Ereigniß vorbereitet sein – die beiden hatten während des Essens wenig genug Selbstbeherrschung gezeigt, namentlich der Professor hatte sich sträflich auffallend benommen; dennoch verlor der glänzende Offizier der vollendeten Thatsache gegenüber fast seine Fassung. Er hatte immer noch gedacht, es könne nicht sein, und sobald er erst einmal ernstlich um Annaliese werbe, sei ihm der Sieg über einen solchen Gegner trotz allem sicher; er hatte um dieses Mädchens willen die weite Reise unternommen, sie hielt seine ganze Zukunft in ihrer Hand – und nun?

Mit Mühe bewahrte er eine leidliche Haltung, aber die zwei Worte: „Meinen Glückwunsch!“ gingen ihm schwer über die Lippen. Dann trat er mit einer tiefen Verbeugung beiseite. Auf die Unterredung wegen der wichtigen Angelegenheit kam er mit keiner Silbe mehr zurück.

Fünf Minuten später hatte der Lieutenant von Steinhausen den Ballsaal verlassen.


11.

Die alte Excellenz von Guttenberg hatte ihrer Kousine Kunigunde von Wettersbach soeben die dritte Partie Bézique abgewonnen und war darob sehr guter Laune. Sie verlor ungern – „verlieren kann jeder Narr,“ pflegte sie zu sagen, „aber zum Gewinnen gehört Witz.“ Nun hatte sie ihren Witz wieder glänzend bewiesen und befriedigt lehnte sie sich in die Sofaecke zurück. Fräulein von Wettersbach nahm resigniert ihre Handarbeit wieder auf, und eine Zeitlang war es still im Zimmer. Die Uhr zeigte gerade die sechste Nachmittagsstunde.

„Auf die Männer ist kein Verlaß!“ begann die Generalin in strengem Ton.

Die Stiftsdame sah fragend von ihrer Arbeit auf.

„Von dem Volk der Civilisten will ich noch absehen,“ fuhr die Excellenz in derselben Weise fort. „Das kennt keine Disciplin, das hat den Ehrbegriff nicht so im Blut, das redet in den Tag hinein, ohne die Tragweite seiner Worte zu überlegen, eben weil es nicht gewöhnt ist, dafür einzustehen – aber beim Militär kennt man es anders, und ich muß sagen, es ist eine Enttäuschung für mich, daß ich das erleben muß.“

„Was denn, liebe Klementine?“

„Ich hatte ihnen beiden aufgetragen, mir Nachricht zu geben, sowohl meinem Neffen Paul Gregory als dem Lieutenant Steinhausen. Annaliesens Briefe sind mir verdächtig, ich will genau wissen, was sie dort thut und treibt, ob sie meinen Wünschen nachkommt – das sollte mir Paul schreiben. Und Steinhausen versprach mir, das Eisen sofort zu schmieden, sowie er nach Königsberg käme, und er ist gewiß der Mann dazu. Sobald er Annaliesens Jawort hatte, sollte er mir eine Depesche schicken. Nun, er ist seit vier Tagen fort – es kommt kein Brief von Paul, es kommt keine Depesche von Steinhausen! Deshalb sage ich: auf die Männer ist kein Verlaß! Daß ich aber das an einem Offizier, an einem meiner Adjutanten erleben muß, siehst Du, Kunigunde, das ist’s, was mich schmerzt!“

„Vielleicht will Dich das Brautpaar überraschen,“ wandte die Stiftsdame ein.

„Wenn Steinhausen mir ein Telegramm verspricht, so hat er mir ein Telegramm zu schicken und keine Ueberraschung! Ich bin ja auf die Verlobung durchaus vorbereitet –“

Draußen war ein Wagen vorgefahren, und es hatte heftig geläutet. Jetzt öffnete die Kanapé mit einem wichtigen und erfreuten Gesicht sperrangelweit die Thür des Zimmers . . . im Rahmen dieser Thür stand Annaliese neben dem Professor Gregory.

Dieser Anblick befremdete die alte Generalin keineswegs – das heißt, sie war erstaunt, ihre Enkelin schon heute, schon jetzt hier zu sehen, aber daß sie Annaliese sah, war ja der beste Beweis, daß ihr Herzenswunsch sich erfüllt hatte. Und Paul Gregory? Ja, der hatte natürlich den Reisemarschall gemacht, da man die Kanapé nicht rechtzeitig hatte entbieten können! Sehr gefällig und verständig von dem Besten, dem jungen Mädchen diesen Dienst zu leisten; das Brautpaar allein in der Welt herumreisen zu lassen, wäre ja der Gipfel der Unschicklichkeit gewesen! Daß der Professor noch nach Litanen hatte gehen wollen, fiel der Generalin weiter nicht ein . . . was gingen sie Pauls Studien an? So war sie ihm denn dankbar, recht dankbar.

„Da bist Du ja, meine Kleine!“ rief sie herzlich und erhob sich vom Sofa. „Komm, mein Kind – so, laß’ Dich küssen und anschauen, Du siehst ja wohl und munter aus! Ich muß Dir sagen, ich bin doch froh, daß Du wieder bei mir bist – ich vermißte Dich recht, trotzdem ich meine gute Kunigunde bei mir habe. Mit Dir kommt die Freude ins Haus, diesmal eine doppelte Freude, das lob’ ich mir! Nun, und wo ist Steinhausen?“

Ueber Annaliesens Gesicht zuckte ein muthwilliges Lächeln.

„Steinhausen?“ wiederholte sie. „Nun, der ist, soviel ich weiß, schon gestern abend hier eingetroffen.“

„Nicht möglich! Und hat sich nicht bei mir gemeldet? Hat mir nicht die Verlobung angezeigt?“

„Das heißt wirklich etwas zuviel von ihm verlangen, Großmama, soviel Selbstverleugnung hat Steinhausen nicht. Möchtest Du nicht Paul begrüßen?“

Es fiel der Excellenz in ihrer Erregung nicht auf, daß ihre Enkelin den Professor Gregory „Paul“ nannte – sie war ganz außer sich über Steinhausen. „Paul? Gewiß – natürlich – wie geht’s Dir, mein lieber Paul? Du siehst ja vortrefflich [703] aus – aber sagt mir, erklärt mir, wie hängt das zusammen? Es war sehr gut von Dir, Paul, die Kleine unter Deinen Schutz zu nehmen, sie hätte sonst wahrhaftig allein reisen müssen! Aber diese Zurückhaltung von Steinhausen geht denn doch zu weit – und mich nicht zu benachrichtigen, wie er es doch fest versprochen hatte –“

„Beste Tante,“ fiel Gregory ein, „Sie können doch wirklich nicht erwarten, daß der Lieutenant von Steinhausen Ihnen die Verlobung Ihrer Enkelin Annaliese mit mir meldet.“

Es wurde für eine Minute ganz still im Zimmer. Fräulein Kunigundens Stickarbeit lag am Boden, im Hintergrund sah die Kanapé, die vor Neugier verging, durch einen Thürspalt – die Augen der Generalin wanderten von einem zum andern. „Verlobung Annaliesens mit wem?“ fragte sie endlich mit schwacher Stimme.

„Mit mir, liebe Tante,“ entgegnete der Professor ruhig.

Die Excellenz ging zum Sofa zurück und setzte sich würdevoll darauf zurecht. „Paul, ich hoffe, Du erlaubst Dir einen Scherz mit mir, obgleich ich hinzufügen muß, daß sich das durchaus nicht schickt und daß es ein sehr schlechter Scherz ist.“

„Meine verehrte Tante, ich habe mir noch in meinem ganzen Leben mit Ihnen keinen Scherz erlaubt, am wenigsten würde ich das in einer so wichtigen Angelegenheit thun.“

Die Generalin wurde immer steifer im Rücken. „Aber das ist empörend! Das ist eine Hinterlist! Das –“

„Sprich nicht weiter, Großmama!“ rief Annaliese in dringendem Ton. Sie kniete neben der alten Dame nieder und zog deren kalte, widerstrebende Hände an ihre Lippen. „Ich liebe nicht Steinhausen, ich liebe Paul! Ich habe auch Steinhausen nie geliebt und weiß genau – hörst Du, Großmama, ganz genau – daß sein Herz nichts für mich empfindet, daß er mich nur aus Berechnung wählen wollte. Ich habe das gottlob noch zur Zeit erfahren und bin dem Zufall dankbar, denn ohne diesen hätte ich nie verspürt, was echte wahre Liebe ist, hätte ich Steinhausen mein Jawort gegeben, nur weil er mir gefiel, weil ich nichts gegen ihn hatte! Aber gegen die zahme Empfindung, die ich für ihn hatte, ist meine Liebe zu Paul wie eine hohe Flamme – wir sind so glücklich, Großmama, so über die Maßen glücklich!“

„Und wenn ich zu diesem Glück meine Zustimmung verweigere?“

„Das wirst Du nicht, Großmama! Ich könnte Dir antworten, daß ich mündig gesprochen bin, aber Du wirst mich nicht zwingen, das zu betonen! Du kannst nicht! Du bist selbst jung gewesen und hast geliebt und durftest glücklich sein –“

„Ich habe mich dem Willen meiner Eltern gefügt!“

„Weil er mit dem Deinigen zusammentraf! Ach, Großmama, wir bitten Dich beide – Paul!“ Er stand schon neben ihr und neigte sich bittend über die Hand der Generalin.

„Tante, liebe verehrte Tante!“

„Du weißt, Annaliese, ich hatte bestimmte Pläne mit Dir. In der ganzen geraden Linie der Guttenbergs –“

„Großmama, laß uns doch einmal abweichen von der geraden Linie! Haben wir nicht das Recht dazu? Du kannst gegen Paul nichts haben –“

„Gott im Himmel, nein! Aber – ich hab’ ihn mir nie zum Gatten für meine Enkeltochter gewünscht. Wenn er wenigstens beim Militär wäre! Er könnte bald Major sein –“

„Mir ist er lieber als Professor!“

Die alte Excellenz griff sich hilflos an die Haube.

„Es ist wie in der Komödie! Dumm und schwach komme ich mir vor. Gern kann ich Dir meinen Segen nicht geben, Kind, obgleich Paul ein Ehrenmann ist, aber am Ende – was kann ich dagegen thun? Himmel, die ganze Stadt wird auf Stützen stehen, wenn man es erfährt! Dazu mußtest Du nach diesem Königsberg gehen? Das hättest Du schließlich auch hier haben können!“

„Nein,“ sagte Annaliese und umarmte glückstrahlend ihren Verlobten und die Großmutter zugleich. „Ich habe dort mein Selbstvertrauen, meine Unbefangenheit und meine Lebenslust wiedergefunden; sie haben es mich dort alle gelehrt, und Paul zumeist, daß man mich lieben könne um meinetwillen!“