Textdaten
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Autor: Richard Nordhausen
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Titel: Eine Idylle der Mark
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 661, 654–655
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Tegel und Umgebung.
Nach einer Originalzeichnung von Willy Stöwer.

[654]

Eine Idylle der Mark.

Von Richard Nordhausen.0 Zu dem Bilde S. 661.

Das große, noch immer in pilzartig schnellem Wachsthum begriffene Berlin mit seinen mächtigen Vorstädten und Vordörfern wird bald auch die letzten Reste ehemaliger Ländlichkeit, die unter dem Schatten seiner Mauern sich erhielten, verschlungen, wird bald alle Waldung, alles Wiesenland in seinem Machtbereich vernichtet und mit Miethkasernen bepflanzt haben. Wo unsere Großeltern noch unter hochwipfligen Bäumen, auf Moos und Gras lachend sich ergingen, breitet sich jetzt grauer Straßenasphalt, und an den Orten, die heute noch Ziele sonntäglicher Landpartien sind, werden die Enkel siebenstöckige Häuser aufthürmen. Der Grunewald, die letzte Lunge Berlins, ist geldbedürftigen Landspekulanten längst ein Gegenstand zärtlichster Sorge; nicht mehr an der Spree, an der Havel soll das Berlin der Zukunft liegen. Der Entwicklungsgang der Großstadt kann, wie die Dinge sich einmal gestaltet haben, durch das Bedauern der Naturfreunde und die Warnungen der Hygieiniker nicht mehr aufgehalten werden. Aber es ist schade um alle die Erholungsplätze, die so vom Erdboden verschwinden. Nicht allein, weil gerade der Großstädter die Schönheit der freien Gotteswelt nur schwer zu entbehren vermag, weil das Versenken in sie für die Seele so wichtig ist wie das tägliche Brot, nein, auch deshalb, weil der Boden um Berlin herum historisch geheiligt ist und fast überall große Erinnerungen birgt, die ausgelöscht werden, wenn man die Erde verwüstet, worin sie wurzelten.

Das Dorf Tegel ist ein solcher Ort. Noch hat der Oger Berlin ihn nicht in seinen Krallen, aber die Zeit rückt unaufhaltsam näher. Und während früher, ehe an die Pferdeeisenbahn oder gar an die Nordbahn gedacht wurde, Wagenfahrten, Spazierritte nach Tegel schon als achtunggebietende Leistungen erschienen, streift heute der Berliner ozondurstige Wanderfreund um viele Meilen weiter nordwärts in die Ferne, und Tegel ist ihm am Abend die letzte Etappe zur Heimkehr.

So kommen auch wir von der nördlichen Havel her durchqueren die schönen harzduftenden Kiefernwaldungen und langen dann bei Sonnenuntergang in dem berühmten Dorfe an. Abendschein liegt auf den Dachfirsten der schmucken Häuschen, Abendgold blinkt in den Wipfeln der Bäume, zwischen denen sich Tegel versteckt. Von mächtigen uralten Linden, Ulmen und Kastanien umstanden, grüßt uns das bescheidene Kirchlein, und seine Fenster glühen noch einmal purpurn auf. Die breite stille Dorfstraße durchmessend, an freundlichen Gärten, Villen und Hütten vorbei, kommen wir zum Stolz des ganzen Tegeler Ländchens, zu seinem See.

In violettem Licht schimmernd, von Dunstschleiern umzogen, breitet sich die herrliche Wasserfläche vor uns aus. Wohl hat durch Fabrikgebäude aller Art, durch kuriose Wohnhäuser, durch Wasserwerksanlagen im Berliner Magistratsstil die Gegend viel von ihrem altberühmten Zauber verloren; poesieloses Menschenwerk drängt sich anmaßlich zwischen die bescheidenen Reize märkischer Natur, und dem Fremdling, der im Sonnenbrande des Weges gezogen kommt, huscht leicht das geflügelte Wort von „des Römischen Reiches Streusandbüchse“ über die Lippen. Der Blick auf das liebliche, romantische Gewässer aber söhnt auch verwöhntere Menschenkinder mit den Mühsalen der Wanderschaft aus. Es ist ein moderner deutscher Poet, der seinen vom Comer See zurückgekehrten Helden allen Ernstes einen Vergleich ziehen läßt zwischen der fichtenumkränzten Havelbucht und dem italienischen Seejuwel, einen Vergleich, aus dem jene nicht allzu beschämt hervorgeht. Ein geistreicher Franzose, Luc Gersal, der seinen Pariser Landsleuten in seinem Buche „Spree-Athen“ von der neuerwachten Liebe zu den landschaftlichen Schönheiten der Mark Brandenburg erzählt und der die Güte hat, mich ihren Stanley zu nennen, spricht bei aller Neigung zur Kritik vom Tegeler See mit warmer Begeisterung. Und wer an seinen Ufern eine Frühlingsmorgenstunde lang verweilt hat, den Blick auf die ernsten Waldriesen gerichtet, welche ihn umsäumen, auf die Rohr-Eilande und die schimmernde blaue Fluth, wer der leisen, traumhaften Musik der kurzen Wellchen gelauscht hat, dem wird der Sinn aufgegangen sein für die schlichte Anmuth der sandigen Mark. Aus der innigen Verbindung von Wasser und Wald ergeben sich immer und immer wieder Brandenburgs natürliche Vorzüge; ohne seine Seen wäre es in der That die finstere Wüste, als welche man es noch heute fast allenthalben schildern hört.

Tegel, in nächster Nähe der Hauptstadt gelegen, mußte von jeher dazu dienen, manchen ungläubigen, spottsüchtigen Thomas zu bekehren, und von jeher hat der Berliner eine fast sentimentale [655] Zuneigung für dies Dörfchen an den Tag gelegt. Nach Tegel richteten sich vor hundert Jahren lieber noch als heute die Familienausflüge; man zeigte es seinen Gästen, und selbst Goethe konnte 1778 nicht umhin, dem berühmten Orte und gleichzeitig den Humboldts einen Besuch abzustatten, welche im Jahre 1757 das ehemalige Jagdschloß des Großen Kurfürsten erworben und zu ihrem Edelsitz gemacht hatten. Märkische Dichter jener Zeit (und es fehlt keineswegs an strebsamen Enkeln) besangen das Haveldorf und priesen seine idyllische Lage, seine „Ländlichkeit“ und sein treffliches Mittagsbrot.

Und heute noch, wo der Ausflüglerstrom, dem Zug nach Westen folgend, sich breit in den bequemer zu erreichenden Grunewald ergießt, heute noch geht den Leuten aus dem Norden Berlins nichts über Tegel. Im Schloßrestaurant, wo man unter hochwipfligen Buchen und Linden lauschige Erholungsplätzchen findet, ist an schönen Sonntagen kein Stuhl frei; hier entfaltet sich dann das gemächliche Familienleben früherer Tage. Die Besucher, Kleinbürger und Arbeiter allesamt, prunken im feinsten Sonntagsstaate, und die Mädchen gar putzen sich nach der neuesten Mode heraus; das harte Wochenwerk hat seine Runen auf ihre Gesichter gegraben, nicht selten sehen die Männer abgearbeitet, die Frauen bleich und verhärmt aus, und mit herzlicher Theilnahme freut man sich darum, daß es diesen Wackeren immer noch leicht gemacht ist, wenigstens Sonntags durch ein paar Atemzüge reiner See- und Kiefernwaldluft die angestrengten Lungen zu kräftigen. Hier wird Kaffee in erstaunlichen Mengen getrunken und, wenn Mutter nichts dagegen hat, ein strammer „Schafskopf“ gespielt; das junge Volk, alles, was ein Tänzchen im Freien oder ein Haschespiel liebt, zieht mit Gesang „in die Heide“, und die junge, blitzsaubere Berlinerin feiert ihre Triumphe. Ach, es giebt Nachtigallen in der Lindenallee und Nachtigallen in den Bäumen und Büschen am Wasser. Bei ihrem Schlag schlagen auch die Herzen der jungen Menschenkinder höher – das ist nun ’mal hierzulande so der Brauch.

An ländlichen Genüssen und ländlicher Poesie fehlt es also dem Dörflein noch immer nicht. So verwüstend auch die Zeit und die Nähe Berlins hier eingewirkt, so viel sie von dem friedlichen bescheidenen Zauber der Gegend geraubt haben – wer zur rechten Stunde kommt, findet immer noch, was er sucht. Geschichte und Sage sind heimisch in diesen Bezirken und hausen nebeneinander wie Geschwister.

Von den Abenteuern der unermüdlichen Quitzows, die auf Burg Bötzow bei Oranienburg saßen (auch sie ist jetzt zerstört wie fast alle geschichtlichen Denkmäler der Mark), erzählt uns die schmucke epheubesponnene Wassermühle zu Tegel; hier nahmen die Schnapphähne, nachdem sie wieder einmal Berlins Schafherden fortgetrieben hatten, den Rathsherrn Nikolaus Wins an der Spitze seiner wackeren Mannen gefangen und schleppten ihn in ihr festgemauertes Nest.

In Tegel auch stand das später von den Franzosen zerstörte Forsthaus, darin zu Ende des vergangenen Jahrhunderts der große Spuk geschah und den hochberühmten Aufklärer Nicolai so über die Maßen erschreckte. Das Gerücht nämlich drang nach Berlin, ein Gespenst gehe in besagtem Forsthaus um; niemand könne es bannen und mit jedem Tage würde es zudringlicher. Da diese Angaben von „autoritativer Seite“ Bestätigung fanden, beschäftigten sich alle Berliner Theekränzchen mit dem seltsamen Vorkommniß, das für die gerechterweise hochgepriesene Aufklärung ein Schlag ins Gesicht war; immer heftiger und erregter wurde der Meinungsstreit, und endlich entschloß sich Nicolai selbst, nach dem Rechten zu sehen. Das Gespenst im Forsthause aber, ein verliebter Jägerbursch, fürchtete den großen Mann nicht und jagte ihm ein so heilloses Entsetzen ein, daß er totenbleich den Spukort verließ und der Weimarer Excellenz Goethe, die ihm schon lange unhold war, Gelegenheit zu einigen recht bissigen Spottversen gab.

Seine eigentliche geschichtliche Weihe aber empfing das Dorf durch die Humboldts, welche ihm europäischen Ruf verschafften. Ich habe schon gesagt, daß im Jahre 1757 die Besitzung an die Familie gelangte; 1802 ging sie dann in das alleinige Eigenthum Wilhelms von Humboldt über. Der feinsinnige Mann weilte und schuf lange Jahre, bis zu seinem Tode, an dieser idyllischen Stätte, und seine stimmungsvollen Gedichte, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, gewähren tiefe Einblicke in das Geistesleben, das er hier führte. Tegel war so recht geeignet für ein beschauliches, von der Welt abgeschiedenes und doch ihren Eindrücken nicht ganz entzogenes Dasein.

Schinkel hat das Schloß auf Anordnung Wilhelms von Humboldt völlig umgebaut und nur die Erkerthürmchen des alten Jagdschlosses nebst dem größeren Seitenthurm beibehalten. Aber man merkt dem schlichten hellgelben Gebäude noch immer die frühere Bestimmung, den Dienst Sankti Huberti, an; es ist trotz äußerer Stattlichkeit verhältnismäßig klein in den Abmessungen geblieben.

Von den Kunstwerken, mit denen Wilhelms Liebe das Haus schmückte und durch deren erstaunlichen Reichthum es einzig dasteht unter den Edelsitzen der Mark, seien hier nur die hervorragendsten erwähnt. Im Hausflur, der als römisches Atrium gedacht und mit kurzen dorischen Säulen verziert ist, stehen zwei prächtige athenische Torsen aus parischem Marmor, die offenbar einer Gruppe der Grazien entstammen und das Entzücken aller Kunstkenner sind; daneben finden sich zahlreiche Werke Rauchs und Thorwaldsens. Sehr interessant ist eine Säule aus orientalischem Granit, mit dem in grünem Porphyr ausgeführten Kopfe der Medusa – ein Geschenk des Papstes Pius VII., dem Wilhelm von Humboldt zur Wiedererlangung der von Napoleon aus den vatikanischen Staaten nach Paris geschleppten Kunstwerke behilflich war.

Die aus dem Schlosse Heraustretenden ladet der schöne Park ein, unter seinen Wipfeln dem Andenken Wilhelms und seines nicht minder berühmten Bruders Alexander nachzusinnen. Wir wandern die freundliche Lindenallee hinauf, biegen da und dort in anmuthvolle, schattige Gänge ein, kommen an der mächtigen, dicht mit Epheu besponnenen Humboldt-Eiche vorbei und stehen plötzlich auf geheiligtem Lande, auf der Stätte, wo die Leiber der Humboldts ruhen.

Nicht in Kirchengrüften und gemauerten Erbbegräbnissen, unter Gottes freiem Himmel, im Sande der Heimath wollten die Großen schlafen, und wahrlich, nicht so leicht findet Ihr einen poesievolleren Friedhof als diesen stillen Erdenfleck. Ihr schweigt wie gebannt still, wenn der Pfad mit leiser Windung zu den Gräbern hinaufführt – es ist, als klinge ein volltönender Choral Euch entgegen, als wehe der Odem vornehmem edlen Geistes Euch an. Ernste Schwarztannen umstehen ein weites Rechteck und schließen es von der Munterkeit des Parkes ab. Gegenüber einem schmalen Thor in der Baumwand, das vom Schlößchen einen freien Blick auf diesen Platz gestattet, erhebt sich eine zehn Meter hohe, stolze Säule aus grauem Granit, von der eine schöne Nachbildung der Thorwaldsenschen „Hoffnung“ auf die Grüfte zu ihren Füßen niederblickt. Zum Theil auf den Quadern des Säulensockels eingemeißelt, zum Theil auf Marmortäfelchen liest man die Namen der hier bestatteten Familienmitglieder. Ein einziges Plätzchen ist noch frei . . .

Ein stolzes Geschlecht fürwahr, das hier schlafen ging, das edelste der Mark in mancher Beziehung. Der Ruf der Humboldts ist weit über die Grenze unserer Heimath gedrungen; ihr Name bedeutete lange Zeit hindurch eine Weltanschauung und glänzte unter den ersten in den geistigen Kämpfen dieses Jahrhunderts. Wie die Dichterheroen der Blütezeit unserer Litteratur, versenkten die ihnen befreundeten Humboldts sich freudig in den Geist des Alterthums und nahmen einen tiefen Trunk aus seinem lautern Brunnen; wie Schiller und Goethe standen sie auf einsamer Höhe, bemüht, die Welträthsel zu gestalten. Ein Märkerpaar, das sich ehrlich zu dem durchrang, was ihm das Letzte und Höchste zu sein schien, das nicht mit tändelndem Leichtsinn über Steine hinwegsprang, sondern sie aus dem Wege zu räumen suchte, für sich und andere; gewaltige Geistesarbeiter und doch voll herzlicher Demuth und Einfachheit!

Ganz in der Nähe beider Brüder ruht auf einem Hügel auch ihr verdienter Erzieher, Staatsrath Kunth, der 1829 verschied.

Andächtige Scheu im Herzen und doch voll stolzer Freude darüber, daß wir diese Großen, daß wir die Humboldts zu den Unsern zählen dürfen – so verlassen wir den stillen Edelsitz. Wunderbar erhöht die anspruchslose Schönheit des freundlichen Erdenwinkels das Gefühl dankbarer Bewunderung vor denen, die hier sannen und schufen.