Zum Gedächtniß des Meisters

Textdaten
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Autor: Ludwig Nohl
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Titel: Zum Gedächtniß des Meisters
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 860–863
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zum Gedächtniß des Meisters.[1]

Männerstolz vor Königsthronen –
Brüder, gält es Gut und Blut
Dem Verdienste seine Kronen, –
Untergang der Lügenbrut.

L. v. Beethoven


Was ist es, das uns mit einem so besonderen Gefühle der Verehrung ergreift, wenn wir den Namen Beethoven hören? Ist’s der hohe Genius, der selbst dem Laien aus den Sonaten und symphonischen Schöpfungen des Meisters entgegenhallt, oder ist’s nicht vielmehr die Ahnung, daß ihre Klänge aus der tiefsten Brust des Menschen stammen, und zwar eines Menschen, den das Schicksal im Innersten traf, und der Alles, was wir fühlen und leben, reiner und tiefer fühlte und lebte, als wir?

Selbst der Fremde, wenn er in Wien auf dem Graben in dem vielfarbigen Gedränge diesen zwar von Gestalt nicht großen, aber in seiner gedrungenen Kraft imponirenden Mann mit der vorwärtsstrebenden Haltung und dem hochaufgerichteten Kopfe vorübergehen sah, ward auf ihn aufmerksam und mußte wohl gar eine Weile stehen bleiben und ihm nachschauen. Es muß ein eigener Schein von seinem Wesen ausgegangen sein, der schon die Mitlebenden in solcher Weise fesselte. In seinem Schaffen und in der inneren Erscheinung seines Wesen aber tritt uns ein Mensch entgegen, von dem wir deutlich fühlen, daß er nur groß ward, indem er die Aufgaben des Lebens ernst nahm und vor Allem es sich zur Pflicht machte, „nicht für sich, sondern für Andere zu leben!“ -

Was Beethoven von Natur auszeichnete, war nicht allein eine ganz ungewöhnliche physische und geistige Kraft; sondern auf dieser Grundlage war ihm von Haus aus auch eine ganz besondere Willenskraft eigen. Sie war ein Erbtheil seiner niederdeutschen Herkunft und artete freilich, namentlich in späteren Jahren, manchmal in das Uebermaß eines starren Eigensinns aus, aber sie war es doch, was mit jedem Lebensjahre und stets entschiedeneren Richtung auf höhere Ziele mehr ihm die Fähigkeit verlieh, seine hohen Zwecke auch wirklich zu erreichen. Und wahrlich, wenn je ein großer Mann, so hatte Beethoven diese Charakterkraft nothwendig, um wirklich groß, nein, um nur überhaupt etwas im Leben zu werden. Denn ungünstiger, ja mehr widriger Unfälle voll kann man sich kaum einen Lebensgang denken, als den Beethoven’s. Es war, als wolle das Schicksal, durch das außerordentliche Maß dieser Kraft zum Kampfe herausgefordert, dieselbe nun auch zeitlebens reizen und prüfen, um sie erst recht zu stählen.

Schon seiner künstlerischen Begabung ging ein wenig genügender und wechselvoller Jugendunterricht zur Seite. Freilich, an seinem Großvater, dem kurkölnischen Baßsänger und „Capellenmeister“ in Bonn, hatte er in erster Kindheit einen echten Mann und tüchtigen Künstler kennen gelernt, und manch anderes schöne Bild in Kunst und Leben sollte ihm auch später noch in dieser seiner Vaterstadt entgegentreten. Allein sein Vater, der ebenfalls zugleich sein erster Lehrer war, that durch sein schroffes Verfahren eher Alles, um den Sohn von der Kunst zu entfernen, als seine Neigung zu derselben zu erhöhen. Er selbst war nur ein mittelmäßiger Musiker, Tenorist in der kurfürstlichen Capelle und nicht entfernt so wie der alte „Capellenmeister“, von dem Bestreben beseelt, etwas Rechtes aus sich zu machen. Denn leider hatte er von seiner Mutter eine traurige Neigung zum Trunk ererbt, die jene Frau in ihren alten Tagen in klösterliche Pension und ihn selbst am Ende gar von Amt und Brod brachte. So sann er auch darauf, als er des ältesten Sohnes reiche Begabung bemerkte, ihn gleich dem kleinen Mozart, der nicht lange vorher auch in Bonn seine Wundergaben producirt hatte, möglichst bald ebenfalls zu einem „Wunderkinde“ auszubilden, und dann nach seinem „flüchtigen Geiste“ vielleicht selbst mit ihm in der Welt umherzureisen. Der kleine Ludwig wurde also streng sowohl zum Clavierspiel wie zur Violine angehalten, und Cäcilia Fischer, seine Hausgenossin in den Knabenjahren, sah ihn im Geiste noch nach mehr als fünzig Jahren, „wie er auf einem Bänkchen vor dem Claviere stand, woran die unerbittliche Strenge seines Vaters ihn schon so früh festbannte, ja wie er dabei Thränen vergoß!“

Das war allerdings nicht sehr geeignet, Liebe zur Kunst zu erwecken, und manch Anderem hätte solche Jugenderfahrung wohl gar die Sache verleidet. Jedoch seine musikalische Neigung wie seine sittliche Kraft sollten noch härteren Prüfungen entgegengehen. Und wenn auch unter den folgenden Lehrern in Bonn der Unterricht wenigstens sein Strenges und Drückendes verlor, so muß man doch sagen, er entsprach in keinem Falle dem Maß von Beethoven’s Begabung. Ja selbst als später der alte „Papa Haydn“ und der gelehrte Contrapunctist Albrechtsberger in Wien seine Lehrer wurden, war bereits durch den Gang seines Lebens sein inneres Wesen zu einer solchen Selbstständigkeit gediehen, daß die Dinge, die er hier lernen konnte, für den Ausdruck seiner Empfindungen kaum noch hinreichten und also auch hier mit eigener Kraft nach den eigenen Mitteln der Darstellung gesucht werden mußte.

Inzwischen versank der Vater stets mehr in Verkommenheit und stürzte damit die Familie in Noth. Nachdem der Sohn von einer Reise nach Wien im Frühjahr 1787, wohin kurfürstliche Gunst ihn zum Unterricht bei Mozart gesandt hatte, durch die Nachricht von Erkrankung seiner Mutter vor der Zeit zurückgerufen worden, und dann die herzensgute Frau bald auch wirklich gestorben war, fiel auf seine noch nicht siebzehnjährigen Schultern die Pflicht, einen ganzen Hausstand zu erhalten, und obendrein, als der Vater schließlich pensionirt worden, die beiden jüngeren Söhne ganz zu erziehen.

Wo blieb da die Aufgabe seines Genius, wo die Pflicht gegen die Ausbildung seines Talentes, von dem ein echter Künstler wohl fühlt, daß es ihm nicht zu Genuß und Spiel verliehen worden, aber auch nicht dazu, um es im gewöhnlichsten Tagestreiben verkümmern zu lassen! Allein er ruhte dennoch nicht, bis auch diese Pflicht erfüllt war. Redlich drängte er die jugendlich überquellende Schaffenskraft zurück und sorgte, im täglichen Dienst der Hofcapelle und des Theaters oder durch Stundengehen, für die Bedürfnisse daheim. Erst als hier die Aufgabe ganz gelöst war, und der eine der Brüder als Apothekerlehrling, der andere als Musiklehrer versorgt waren, gedachte unser Meister von Neuem auch seiner höheren Pflichten, und wußte es nun im Herbst 1792 [861] dahin zu bringen, daß ihn sein Kurfürst abermals nach Wien sandte, um dort die letzte Ausbildung zu gewinnen.

Hier nun allerdings schwamm er nach langer schmerzlicher Bedrängung und Beengung zum ersten Male wieder auf offenem Meere, und es ist eine Freude, zu schauen, wie sein Genius in der Freiheit sich tummelt auf dem Felde eines künstlerischen Schaffens, auf dem soeben noch Gluck und Mozart gewirkt hatten und Joseph Haydn noch fleißig fortwirkte. Lebhaft und reich, wie ein langverhaltener Strom, dringt es aus seinem Innern hervor, und mit Recht hat man sein Erstaunen darüber ausgesprochen, wie es nur möglich sei, überhaupt so viel zu schreiben, als in den ersten fünf Jahren des Wiener Aufenthalts Beethoven componirt hat. Auch der materielle Gewinn mangelte zunächst nicht, weil die neuen vornehmen Gönner manch’ reiche Spende boten.

Diese übersprudelnde Kraftfülle ist denn auch der Haupteindruck seines damaligen Schaffens, das in der Sonate pathétique fast ungebändigt dahinbraust und mit unwiderstehlichem Drange auch uns ergreift. Noch ist trotz allem Druck und bitterm Erleben sein Wesen nicht in den Dienst der allgemeinen Lebenszwecke gebannt. Noch stürmt es manchmal sogar in trotzigem Ungestüm dahin und genießt rücksichtslos oder doch gleichgültig gegen sich wie gegen die Welt und Umgebung einzig des freien Spiels seiner in allen Welten umherschweifenden Phantasie.

So kommt er auch eines Tages von einem seiner gewohnten Spaziergänge in der Umgebung Wiens erhitzt in die engen Gassen der Stadt zurück und wirft in dem großen kühlen Zimmer, wie die Häuser der innern Stadt sie haben, nach seiner Art sogleich die Oberkleider ab, um durch nichts in der Ausarbeitung der draußen gesammelten Schätze gehindert zu sein. Eine heftige Erkältung war die natürliche Folge, und zum Schrecken zeigt sich bald, daß die Erkrankung gar auf denjenigen Sinn gefallen ist, den er nach seiner eigenen Versicherung in einer seltenen Vollkommenheit besaß – auf das Gehör! – Ja, von da an war der „Dämon in seinen Ohren“ und blieb da sitzen zeitlebens. Denn theils unrichtige Behandlung, mehr aber wohl die fortgesetzte eigene Unachtsamkeit, die bei dem Drang seiner Arbeit vielleicht zu begreifen ist, ließen das Uebel bald tiefer einreißen und allmählich unheilbar werden, so daß in den letzten Lebensjahren fast einzig schriftlich, das heißt durch die „Conversationshefte“ mit einem Künstler zu verkehren war, dem doch das Gehör das unentbehrlichste Organ seines Schaffens zu sein scheint.

Schreckliches Leid! Schwerster Schicksalsschlag gerade für diesen Mann, der obendrein schon als Knabe „nicht viel auf Cameraden oder auf Gesellschaft gehalten hatte“ und jetzt bald auf’s Tiefste vereinsamen sollte! – So begreifen wir, daß er schon wenige Jahre nachher, als kein Mittel mehr das Leiden bannen wollte, einem Jugendfreunde zuruft: „Ich habe schon oft – mein Dasein verflucht!“ und daß er, wie mehr als eine Stelle seiner Briefe verräth, in den ersten Jahren dieses Leidens mehrmals nahe an der Grenze des Abgrunds vorüberschritt, von dem es keine Rückkehr giebt. So ging er einmal in der sommerlichen Landschaft um Wien mit seinem Schüler Ferdinand Ries spazieren, und dieser machte ihn auf einen Hirten aufmerksam, der auf einer Flöte aus Fliederholz recht artig blies. Der arme Taube konnte wohl eine halbe Stunde hindurch gar nichts hören und wurde, obwohl Ries ihm wiederholt versicherte, auch er höre nichts mehr, was indeß nicht der Fall war, nachher außerordentlich still und finster. Es mache dieses kleine Erlebniß auf ihn den schrecklichsten Eindruck, er selbst schreibt davon später in dem bekannten „Heiligenstädter Testament“, das sich mit wenigen anderen Papieren in seinem Nachlasse fand: „Solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben. Nur die Kunst, sie hielt mich zurück. Ach, es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das Alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte.“

Es war nur natürlich, daß er in seinem jetzigen mit innigem Verlangen danach umschaute, wie er wenigstens in seinem Privatleben jenes Glück oder doch das persönliche Behagen gewinnen könne, das die Welt ihm nicht mehr zu bieten vermochte. Welche Seligkeit mußte also über ihn kommen, als er eben in dieser Zeit auch wirklich ein Wesen fand, das sein Herz und seine Kunst zugleich verstand.

Die sechszehnjährige braunlockige Gräfin Giulietta Guicciardi war die liebend verstehende Seele, die den unglücklichen Mann aus der Pein der grenzenlosen mitleidenswerthen Vereinsamung erretten wollte und, wie aus seinem Briefe an sie, der mit den Worten beginnt: „Mein Engel! Mein Alles! Mein Ich!“ zu ersehen ist, allen Ernstes ihm die Hand für’s Leben zu reichen gedachte. Schon hatte „das liebe zauberische Mädchen, das mich liebt und das ich liebe“, sein Leben wieder etwas angenehmer gemacht und er ging wieder mehr unter Menschen: „Es sind seit zwei Jahren wieder einige selige Augenblicke, und es ist das erste Mal, daß ich fühle, daß Heirathen glücklich machen könnte.“ Und besäßen wir auch nicht diese Aueßerungen – es würde uns das der gräflichen Geliebten mit den schwärmerisch dunkeln Augen öffentlich gewidmete Gedicht seines liebebewegten Herzens, die unter dem freilich willkürlich erfundenen Namen „Mondscheinsonate“ allbekannte Cismollsonate (Opus 37, II) zur Genüge davon unterrichten, was damals in der Brust des weltstürmenden Titanen und doch so tief bedürftigen Menschenbildes vorging.

Allein auch dieses Glück ging bald genug in Scherben. Aus bisher unergründeten Ursachen, bei denen aber wohl der damals besonders große Standesunterschied der beiden Liebenden die ausschlaggebende gewesen ist, ward das Verhältniß jählings und, wie aus Beethoven’s späterem Benehmen hervorgeht, ohne Schuld von seiner Seite abgebrochen. Denn als Giulietta mehr als zwanzig Jahre später, nachdem sie längst die Frau des Grafen Gallenberg war, der doch auch nur „Compositeur“ und obendrein von Balletmusik war, nach Wien zurückkehrte und den ergrauten tauben Meister, wie er selbst im Conversationsheft von 1823 aufschreibt, weinend aufsuchte, hat er sie zurückgewiesen. „Und wenn ich hätte meine Lebenskraft mit dem Leben (d. h. mit dem Glück des Lebens) so hingeben wollen, was wäre für das Edle, Bessere geblieben?“ schließt er die kurze Mittheilung über dieses schmerzlichste Begebniß seines Lebens.

Wir haben aber noch andere Zeugnisse darüber, wie sehr seine Seele damals von Gram erfüllt war. Und wenn er auch nach seiner großen Art endlich in sich selbst Herr über denselben ward und das für ihn doppelt herbe Erlebniß weiblicher Untreue sogar – im „Fidelio“ – zu einem verklärten Bilde ehelicher Treue umzubilden wußte, so sagen uns doch sowohl die tiefbewegte Claviersonate in D moll (Opus 31, II) und mehr noch die leidenschaftlich stürmende Sonate in F moll (Opus 57), der man im richtigen Gefühl ihres Inhalts den Namen „Appassionata“ verliehen hat, daß mindestens dieser Kampf ihm nicht leicht geworden.

Für ihn selbst begann aber mit diesem letzten tief einschneidenden Erlebniß überhaupt ein gewisser Verzicht auf äußeres oder doch zunächst auf häusliches Glück. „Resignation“ und „Geduld“, sie wollte er jetzt „zu seines Lebens Führerinnen wählen“ und einzig seinem Schaffen leben. Jedoch noch oftmals naht sich ihm gleich einer himmlischen Erscheinung, die wenigstens für Momente schönste Hoffnung gewährt, die bald nähere, bald fernere Aussicht auf eine dauernde Herzensverbindung, und die Worte, welche er um das Jahr 1807 in sein Tagebuch schrieb, „als die M. vorbeifuhr und es schien, als blickte sie auf mich“, diese Worte: „Nur Liebe, ja nur sie vermag dir ein glückliches Leben zu geben. O Gott, laß mich sie, jene endlich finden, die mich in Tugend bestärkt, die nur erlaubt mein ist!“ – sie bekunden, daß die Sehnsucht nach jenem natürlichsten und reichsten Erdenglück, das uns beschieden, auch in seinem Herzen unerstorben geblieben war. Und selbst noch als ein guter Vierziger legte er in vertraulicher Stunde einem lebenserfahrenen Manne gegenüber das Geständniß ab, daß er „unglücklich liebe und eine Dame kennen gelernt habe, mit welcher sich zu verbinden er für das größte Glück seines Lebens halte; es sei freilich nicht daran zu denken, fast Unmöglichkeit, eine Chimäre; dennoch sei es jetzt noch wie am ersten Tage und er habe es nicht aus dem Gemüth bringen können“. Aller Vermuthungen nach aber war jene „M.“ die geistvolle südlich glühende Therese Malfatti von Wien und die andere Dame das liebenswürdige Fräulein Amalie Seebald aus Berlin, die er im Sommer 1812 in Teplitz kennen und lieben gelernt hatte.

Wenn wir uns aber jetzt zu der Frage wenden, was all diese Erlebnisse für Beethoven’s Entwicklung und also für sein Schaffen bedeuten, so bethätigt sich hier nur von Neuem das alte Wort: „Wen Got lieb hat, den züchtiget er!“ Denn gewiß wäre ohne diese Begegnisse Beethoven nicht zu jener so ungewöhnlichen Vertiefung seines Wesens und zu der idealen Auffassung des Lebens gekommen, die uns heute in ihm einen wahren Herzenskündiger [862] und Freudenbringer erschauen läßt. War es schon die Kunst gewesen, die ihn vor dem letzten erschreckenden Schritte der Selbstvernichtung bewahrt hatte, so blieb auch sie es, die ihm nicht blos Linderung der Leiden, sondern unvergleichliche Freuden schuf. Die Kunst war es aber auch, die ihm wieder manches helfend liebende Gemüth zuführte, vorab jene so höchst musikalische und liebliche junge Gräfin Marie Erdödy, geb. Nitzky aus Ungarn, in deren Hause und bei deren Kindern er in Wien viel jener Güte und zarten Theilnahme fand, deren er so sehr bedurfte. Und war es nicht sie, diese „treueste Freundin“, die einst, als seit Tagen das Zimmer des Unglücklichen sich nicht geöffnet hatte und nicht Speise und Trank zu ihm gekommen war, so daß in der mit des Meisters Leid wohlvertrauten Freundin der nur zu gegründete Verdacht entstand, er wolle sich den Tod durch Hunger geben – war es nicht diese „liebe Gräfin Marie“, die mit thränender Bitte an seiner verriegelten Thür hing und nicht nachließ, als bis endlich, endlich zunächst ein Laut des Lebens ertönte und dann schließlich geöffnet ward? – Das ihr kurz darauf gewidmete Trio in D dur (Opus 70, I) kündet uns im ersten Satze sowohl den heldenmüthigen und doch fast verzagenden Kampf gegen das Geschick und in dem Adagio das wahrhaft herzzernagende sinnumdunkelnde Leid, um dessen willen er sich vor der Zeit in die Oede des Todes zu versenken gedachte.

Denn was an Glück und Freude auch diesem Manne und zwar auch ungemischter als Anderen vorbehalten war, es wurde ihm vor Allem hier zu Theil, und zwar sowohl in dem weihevollen Genusse des stillen Schaffens wie in der festlich erregten Theilname und lauten Anerkennung der öffentlichen Aufführungen. Ja, kein Künstler je konnte sich größerer Ruhmeserfolge getrösten als unser Beethoven. Und diese öffentlichen Erfolge seines Schaffens und die allgemeine Verehrung, die er als Mensch erfuhr, waren wohl reicher Ersatz für das, was ihm das Privatleben entzog oder vorenthielt. Das große Concert im November 1814, das gar einen Theil der Festlichkeiten des Wiener Congresses ausmachte und bei dem die „Schlacht von Vittoria“ und die A dur-Symphonie die Hauptrolle spielten, zeigte ihm in dem begeisterten Beifall eines fast sechstausendköpfigen Publicums, das zudem die geistige Bildung Europas vertrat, zuerst seine ganze eigene Bedeutung. Im Jahre 1824 aber, als selbst dem genußsüchtigen Wiener der Rossini-Taumel zu arg ward und man den ergrauten Altmeister deutscher Tonkunst anging, einmal wieder das ernsterhabene Antlitz seiner Muse zu zeigen, gewann die Aufführung eines Theils der großen Messe in D und der Neunten Symphonie eine Aufnahme, die voll Begeisterung war und schließlich in eine allgemeine Scene der Rührung ausbrach, als der taube Meister, der am Dirigentenpulte stehend nicht einmal das Tosen des Beifalls hinter sich vernommen hatte, von der später so berühmten Sängerin Karoline Unger umgedreht und auf die jubelnde Menge aufmerksam gemacht ward. „Kein Auge fast blieb das trocken,“ heißt es von diesem Vorfalle, „und Beethoven selbst stand endlich von Rührung ergriffen mit nassen Augen da. Es war ein wahrhaft goldener Lohn und ein kühlender Balsam für die Wunden, die das Leben ihm geschlagen.“

Wir hörten schon, wie er im „Fidelio“ die weibliche Treue geschildert hat. Aehnlich suchte er in seiner dritten Symphonie, die ebendarum Eroica heißt, dem großen geschichtlichen Thun seiner Tage und namentlich dem mächtigen Helden derselben, dem Consul Napoleon Bonaparte, nach seiner Weise einen künstlerischen Ausdruck zu geben. General Bernadotte, später König von Schweden, hatte bereits im Jahre 1798 ihn aufgefordert, dem großen General der Republik ein musikalisches Denkmal zu setzen, und es trüge vielleicht auch heute den Namen „Napoleon-Symphonie“, wenn nicht auch Beethoven eine unüberwindliche Abneigung gegen den einstigen Freiheitsbringer ergriffen hätte, sobald derselbe sich die kaiserliche Tyrannenkrone aufsetzte. Aber mochte das Titelblatt des Werkes bei dieser Nachricht mit Zorneswuth zerrissen, den Heldenschritt jener großen Zeit und das eine neue Welt gebärende Wühlen derselben bewahrte uns dasselbe dennoch auf.

Von den geschichtlichen Vorgängen mehr und mehr unbefriedigt wandte sich des Meisters Sinn dann zunächst den großen inneren Processen zu, in welche seit der Reformation die Menschheit wieder eingetreten war; er componirte die C moll-Symphonie, über deren Bedeutung befragt er selbst einmal geantwortet hat: „So klopft das Schicksal an die Pforte!“ – es entstand die schöne Pastoral-Symphonie, wo er mit den einfachen Worten der eigenen Erlebung schildert, wie er im Tempel der Natur und einfacher Menschen den Frieden der Seele und „der wahren Freude innigen Wiederhall“ gefunden habe, den er im Leben überall vergeblich gesucht hatte. Jetzt aber verliert er diese Spur nicht wieder und seine Seele hört nicht mehr auf, nach der Lösung der Räthsel unserer Brust zu streben.

Selbst seine Lectüre spiegelt dieses ernste Zusammenfassen seines Gemüthes wieder. Ein damals sehr beliebtes protestantisches Erbauungsbuch, „Chr. Sturm’s Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung“, das sich den für Beethoven’s lebhaften Natursinn so besonders willkommenen Zweck gesetzt, „die Natur zu einer Schule für das Herz zu machen,“ füllt durch Jahre manche arbeitsruhige Stunde aus, und die Auszüge, die er sich daraus in seinen Tagebüchern und sonst wo gemacht und die nebst anderen Stellen aus seiner Lectüre, als Shakespeare, Homer, Herder, Schiller, Goethe und den Alten, vor Kurzem von dem Verfasser dieser Zeilen als Festschrift unter dem Titel „Beethoven's Brevier“ (Leipzig, E. J. Günther) veröffentlicht und so dem allgemeinen Interesse zugänglich gemacht worden sind, bekunden ganz diesen betrachtenden Sinn. Ja, als besonders der schmerzliche Tod seines jüngsten Bruders Karl im Jahre 1815 und die mit so viel Leid verbundene Annahme des unglückseligen „Neffen“ seine Seele noch empfindsamer und eines dauernden Trostes bedürftig gemacht haben, hören wir ihn oft mit der ganzen Energie seines Herzens nach höherem Rath rufen, und wahrhaft erschütternd klingt das Wort im Tagebuch von 1817: „Hart ist der Zustand jetzt für dich! Doch der droben, o, er ist, und ohne ihn ist nichts!“

Umsomehr mußte es ihm erwünscht kommen, daß gerade damals die Einführung des Erzherzogs Rudolph in seine neue Würde den Anlaß bot, auch diese Gefühle einmal mit aller Kraft zusammenzufassen. „Opfere noch einmal alle Kleinigkeiten des Lebens. O Gott über Alles!“ rief er sich zu, als er jetzt die Composition desjenigen Werkes begann, das er später selbst als sein vollendetstes bezeichnete, – die Missa solemnis. „Von Herzen kam’s, möge es wieder zu Herzen gehen!“ schrieb er auf das erste Blatt, und fast vier Jahre wirkte er an diesem Wundergewebe, bei dem er manchmal in einem Zustande „völliger Erdentrücktheit“ sich befand, wie er früher niemals an ihm gesehen worden. Er strebte im tiefsten Innern darnach, zunächst sich selbst den ersehnten Frieden zu geben und diesen Gewinn dann auch Anderen zu verschaffen.

Und daß er den Kreislauf menschlicher Empfindungen mit Schiller’s Ode „An die Freude“ abschließt, bestätigt uns ganz den innerlich harmonischen und beglückten Zustand seines eigenen Gemüthes. Schöner ist denn auch das Lied von der Freude, jenes „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!“ niemals gesungen worden, als von diesem Mann, der doch mehr von ihrem Leid, als von ihrer Wonne zu kosten bekommen hatte!

So reiht sich denn dieses Schaffen eines Heros der Musik nach seinem Sinn und Gehalt wie nach seiner künstlerischen Vollendung an das Schaffen all’ unserer Großen auf andern Gebieten, an Schiller’s herrliche Dramen und Goethe’s Faust unmittelbar und würdig an und verkündet das alte Evangelium der Menschheit in neuer beglückender Form. Darum auch war sie für Beethoven selbst ein Heiligthum, seine Kunst. Er fühlte sich als ihren Priester und erachtete gar „ihre Offenbarungen höher, als was Worte sagen“. Dieses Bewußtsein, wie er selbst es bescheiden genug ausdrückte, „einigen Einfluß auf seine Zeit geübt zu haben,“ war es denn auch, was ihn so oft über sein eigenes Mißgeschick „zu den Sternen“, das heißt, zu jenem Born der Freude geführt hatte, der in der Betrachtung des ewigen Laufs der Dinge quillt – und was ihn auch auf dem langen letzten Krankenlager dem Tode mit wahrhaft sokratischer Weisheit und wahrer Seelenruhe entgegen sehen ließ.

Jetzt aber begreifen wir auch, warum unwillkürlich Verehrung uns erfaßt, wenn wir den Namen dieses großen Meisters aussprechen hören: er war einer der Deuter und Propheten unseres Seelenlebens, wie sie von Zeit zu Zeit zu uns kommen, um Noth und Qual der bedürftigen Menschheit zu stillen. Und er ward dies, weil er mit echt männlichem Muthe die Bedrängnisse des Lebens in sein Inneres aufnahm und sie mit eigener Kraft zu tilgen suchte. Dadurch aber lehrte er uns auch von Neuem an uns selbst und an die Kraft des eigenen Herzens glauben, und [863] darum scheucht uns nicht der fast dämonisch wilde und dunkel ernste Blick, der aus dem Auge seines mächtigen umwallten Hauptes hervorblitzt. Denn um den Mund spielt ihm zugleich jener Zug unerschöpflicher Freundschaft und Güte, der allen denen eigen ist, die das Menschliche in seinem Grunde erfaßten und der allgemeinen Bedürftigkeit unseres Geschlechts nicht Spott, sondern das aufrichtigste Mitgefühl schenkten. Wir glauben gern, was uns berichtet wird, daß, wenn über das Gesicht des großen vielgeprüften Mannes ein Lächeln zog, es gewesen sei, als wenn durch dunkles Gewittergewölk mit lichtem Himmelsschein die Sonne blickt.

Und dieses Gefühl, hier einem wahren Künstler und einem Manne gegenüberzustehen, der seinem Geschlecht über manche Stunde der Trübsal hinweg und vielleicht gar überhaupt um eine Stufe der Entwicklung weiter geholfen und ihm sein eigenes Wesen neu entschlossen hat, – dieses Gefühl ist es, was uns in dem jetzigen Moment seiner Säcularfeier und selbst in schwerer Kriegeszeit mit doppelter Gewalt ergreift und uns vernehmlich zuruft, seiner nun auch mit aller Kraft der Hingebung an seine großen Ziele und mit aller Weihe der Erhebung zu gedenken – des großen Meisters der Töne Ludwig van Beethoven!
Ludwig Nohl.
  1. Wir glauben unsere Leser an dieser Stelle daran erinnern zu dürfen, daß wir eingehende biographische Mittheilungen über Beethoven bereits in Nr. 29 des Jahrgangs 1862 aus der Feder J. C. Lobe’s und ein größeres Portrait des Meisters mit begleitendem Text erst im vorigen Jahre in Nr. 41 gebracht haben.
    Die Redaction.