Von der blutigsten Stelle vor Paris

Textdaten
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Autor: Friedrich Wilhelm Heine
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Titel: Von der blutigsten Stelle vor Paris
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 863–866
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Von der blutigsten Stätte vor Paris.

Brief und Illustration von F. W. Heine.

Ihrem neulich geäußerten Wunsche gemäß und nachdem ich die Erlaubniß aus dem Hauptquartier der Maasarmee erhalten, trat ich meine Rundreise von Montfermeil im weiten Bogen durch die nordöstlichsten Theile unserer Belagerungsarmee, das heißt durch das zwölfte Armeecorps und das Gardecorps bis zum vierten Armeecorps, nach Margency, dem Hauptquartier des Kronprinzen von Sachsen, an. Das geschah am Sonnabend, den 29. October, also an demselben Tage, an welchem der mörderische Kampf von le Bourget vorbereitet wurde. Schon am 20. Septbr. hatte nämlich das Garde-Grenadier-Regiment Königin Elisabeth dieses Dorf im ersten Anlauf und ohne große Opfer genommen. Dasselbe liegt an der großen Straße von Compiègne nach Paris, etwas über fünf Viertel Stunden vom Mauergürtel der Hauptstadt entfernt, folglich noch unter ihren und der dortigen Forts Kanonen; namentlich ist es den Forts von St. Denis und dem von Aubervilliers und den nahen Feldschanzen stark ausgesetzt. Trotzdem hielten sich dort die Vorposten der zweiten Gardedivision. Die Feldwache hatte etwa dreitausend Schritte nördlich von le Bourget ihre Baracken aus den Trümmern der wenigen Häuser von Pont-Iblon an dem Moréebache errichtet, über welchen hier der hohe Straßendamm die zum Theil überschwemmte Niederung durch eine Brücke verbindet. Eine starke Barricade auf diesem Damme und fünfhundert Schritte weiter rückwärts an beiden Seiten der Straße geschützte Batterien und Schützengräben sollten dem Feinde jeden Durchbruchsversuch auf diese Straße verleiden.

Als Mittelpunkt zwischen noch vier anderen stark besetzten Punkten, den Dörfern Dugny und Blanc-Mesnil, welche von den Preußen, und Drancy und la Courneuve, welche von den Franzosen gehalten wurden, bildete nun le Bourget einen Zankapfel, der täglich im Preise stieg, obgleich die preußische Bedeckung für denselben nie über eine Compagnie betrug. Da brachen die Franzosen am Siebenundzwanzigsten aus Fort Aubervilliers und den genannten Dörfern in mächtigen Colonnen gegen le Bourget vor, trieben die schwache Besatzung nach Pont-Iblon zurück und benutzten sofort alle Vortheile des wie zur Vertheidigung geschaffenen Orts. Rings von Park- und Gartenmauern umschlossen, die man mit Schießscharten versah, hatte es nur vier Zugänge, zur Hauptstraße, die breit und stattlich sich die Chaussee entlang von Nord nach Süd erstreckt, und zur Seitengasse, die jene quer durchschneidet. Diese Ausgänge schützten vier Steinbarricaden, schloßartige Gebäude bei den Eingängen der Hauptstraße wurden ebenfalls zur Vertheidigung eingerichtet, und fünftausend Mann Infanterie mit einer Mitrailleusen-Batterie vollendeten hier die Herstellung eines neuen Außenwerks der Pariser Befestigungen.

In Aulnay erzählten mir Leute der sächsischen Garde, daß in der vergangenen Nacht vor le Bourget abermals schwer gekämpft worden sei. Wie ich später erfuhr, hatte ein Bataillon vom Garde-Grenadierregiment Franz das Dorf überrumpeln wollen, aber mit nicht geringem Verlust (sechzig Todte und Verwundete) sich zurückziehen müssen; man erwartete nun für die nächste Zeit die Erstürmung dieses wichtigen Punktes durch die preußische Garde. Und kaum hatte ich die Hälfte des Wegs von Aulnay nach Gonesse zurückgelegt, als mir das Vorspiel dazu in die Ohren brauste: Kanonen- und Gewehrfeuer aus le Bourget, das von unseren Geschützen bei le Blanc Mesnil und Dugny eifrig erwidert wurde. In aller Unschuld war ich wieder einmal in das unfreundliche Bereich der Geschosse gekommen; kaum tausend Schritte unter meinem Wege sah ich Bomben und Granaten crepiren und dazwischen pfiffen die Kugeln, mit welchen die Vorposten sich dann und wann einen Gruß zuschickten.

Ich eilte nun nach Montmorency, wo ich übernachtete, und gelangte am folgenden Tage, dem Dreißigsten, durch Regen und aufgeweichten Weg nach Margency. Hier traf ich den Maler Beck, und durch ihn erhielt ich die erste Nachricht von dem großen Kampfe dieses Tages vor und in le Bourget. Unsere Aufregung war groß. Wir bestellten einen zweispännigen Wagen für den nächsten Morgen und fuhren im ersten Grauen der Dämmerung ab. Es war ein schauriges Wetter, Nebel, Regen, Alles grau in grau ringsumher.

Schon bei Gonesse begegneten uns ganze Wagencolonnen von Verwundeten, Franzosen wie Preußen. Auch mancher Gefangenentransport zog an uns vorüber. Bei der oben genannten Batterie und den Schützengräben vor dem Moréebache machten wir Halt, ließen hier den Wagen zurück und marschirten im dichten feinen Regen und auf dem lehmigen Boden, eng in den Mantel gewickelt und die Sturmriemen herunter, vorwärts. Bei hellem Himmel ist von hier die Aussicht beachtenswerth. Die Landstraße senkt sich sanft nach der Moréebrücke von Iblon hinunter und steigt jenseits gleicherweise bis le Bourget wieder hinauf; der ausgetretene Bach durchzieht das baumlose Acker- und Wiesland wie ein breiter Strom, während das Dorf festungsartig mit seinen hohen, zum Theil bethürmten Steingebäuden uns entgegentrotzt. Den Hintergrund bilden die beiden vielgenannten Vertheidigungshöhen von Paris, der Montmartre und Fort Valerien, von unseren Soldaten „Bullerian“ genannt; links vom Montmartre ragt aus dem Pariser Häusermeere die Notre-Dame und links vom Valerien der Triumphbogen hervor, und rechts erhebt sich St. Denis mit seinen Forts. Gewiß ein reiches Bild, aber die nächste Nähe verwischte es uns bald. Wir waren bei der Iblonbrücke angekommen und sahen, nachdem wir den Verhau (die Barricade) hinter uns hatten, vor uns zur Linken und Rechten die Todten in Haufen liegen, und noch immer begegneten uns Grenadiere der Garde mit Schubkarren, auf welchen ihre kalten Cameraden lagen. Auf diesem Wege erfuhren wir von den noch immer über den entsetzlichen Straßenkampf furchtbar erbitterten Männern den Verlauf der gestrigen Waffenthat.

Die ganze zweite Gardedivision, Artillerie, Cavallerie und Infanterie, war zu diesem Waffengange aufgeboten: die Regimenter „Elisabeth“, „Augusta“, „Franz“ und „Alexander“ und das Garde-Schützenbataillon marschirten in drei Colonnen gegen das Dorf, während im Centrum hinter Iblon die Artillerie auffuhr und die Cavallerie die äußersten Flanken deckte. Die Artillerie eröffnete um halb acht Uhr mit einem Hagel von Granaten den Kampf, und sofort krachte es auf allen Forts und Schanzen der Franzosen, so daß über hundert Geschütze diesen Sonntag begrüßten. Nach einer halben Stunde schwiegen unsere Geschütze, um nicht den eigenen Leuten gefährlich zu werden, die, die aufgelösten Schützenlinien voran, in drei Colonnen zum Angriff auf des Feindes feste Stellung hinter den Mauern und Barricaden vorgerückt waren. Trotz des furchtbaren Feuers aus jeder Mauerluke, jedem Fenster, Giebel und Thurm drangen die Bataillone, ohne einen Schuß zu thun, vor, mit fliegenden Fahnen, die Regimentsmusik mit den Klängen der „Wacht am Rhein“, die Regiments- und Bataillonsführer sämmtlich zu Fuß und nur der Divisionsgeneral v. Budritzki und der Brigadecommandeur Oberst v. Kanitz mit ihren Adjutanten zu Pferde, bis auf hundert Schritt vor den Feind. Dann mit

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General von Budritzki nimmt, mit der Fahne in der Hand, die Barricade vor le Bourget.
Originalzeichnung von unserem Feldmaler F. W. Heine.

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Straßenkampf in le Bourget.
Originalzeichnung von unserem Feldmaler F. W. Heine.

einem Schlage Schweigen der Musik, das Sturmhurrah der Soldaten und vorwärts gegen die feuersprühenden Mauern und Barricaden!

Aber vergeblich war aller Männermuth gegen eine solche Deckung des Feindes. Die Todten lagen in Haufen vor der Barricade. Da, nur zehn Schritte vor der Steinmasse, gehorchten sie kaltblütig wie auf der Parade dem Commando der Führer, schwenkten links und rechts ab, um den Feind von der Flanke zu packen. Die linkshin dem Feuer der Barricade Entkommenen fanden endlich einen Thorweg, die Pionniere brachen mit den Aexten Bahn, der Hof ward genommen, der Giebel des Hauses eingeschlagen, die Unseren drangen ein und eröffneten von oben den Häuserkampf, aus den Hintergebäuden in die vorderen vordringend, während in den unteren Räumen noch die Franzosen [866] auf die Straße schossen. Bajonnet und Kolben arbeiten von oben herab, Haus um Haus vorwärts, bis nach entsetzlichem Blutvergießen die ganze linke Häuserreihe und damit das halbe Dorf erobert war.

Gleich im ersten Hof fiel der Oberst des Augusta-Regiments, Graf Waldersee. Man erzählt, durch Verrath. Aus einem Fenster winkten Franzosen mit weißen Tüchern, und als der Oberst auf dieses Zeichen der Ergebung näher getreten, sei er unter ihren Kugeln zusammengestürzt. „Grüßen Sie meine arme Frau!“ waren die letzten Worte, als er in den Armen der Seinen den Geist aufgab. Zu gleicher Zeit stob ein graubärtiger französischer Capitain händeringend aus einem Hause und bat um sein Leben, weil er Frau und Kinder habe.

Während dieser Häuserkampf noch tobte, begann der Angriff auf die Barricade von Neuem, und zwar durch die zweite Compagnie Füsiliere und das zweite Bataillon vom Elisabeth-Regiment unter Oberst v. Zaluskowski. Hier siegte die Begeisterung für die Fahne durch den höchsten persönlichen Muth. Der Fähndrich und nach ihm der Gefreite Karfunkelstein mit dem Eisernen Kreuz fallen mit der Fahne in der Hand, schon wanken die Kämpfer, trotz des Opfertodes, dem mehrere Officiere sich auf der Barricade preisgeben, – da eilt der alte Generallieutenant v. Budritzki, der Divisionscommandeur, heran zu Fuß, denn das Pferd ist ihm unterm Leibe erschossen, und den Säbel schwingend rafft er die Fahne vom Boden auf und stürmt mit dem Rufe „Helft, Leute! Vorwärts!“ voran. Da war kein Zögern und Halten mehr, die Barricade fiel, aber mit ihr noch mancher brave Jüngling und Mann und zuerst der Oberst v. Zaluskowski, der Führer dieser Sturmschaar.

Zu dem Kampf in den Häusern und Höfen kam nun der auf der Straße, auf welcher den Unsrigen die Granaten der Forts und die Kugeln der Mitrailleusen entgegen sausten; und nun öffneten sich auch Fenster und Thüren, Dach- und Kellerluken zum Feuer gegen die Preußen, die wiederum mit Aexten, Kolben, Säbeln und Bajonneten die Häuser öffneten, um die Gegner auf die Straße herauszuziehen. An den Häuserwänden sich hindrückend suchten die Grenadiere die Gewehrläufe der Franzosen zu packen, oder sie schossen und stachen in jede Oeffnung hinein, die ihnen erreichbar war. Besonders heftig war das Ringen in der Nähe der Kirche, wo aus zwei großen Häusern mit fürchterlichster Erbitterung auf die Unseren geschossen wurde, bis es gelang, ein Thor einzubrechen und in’s Innere zu stürmen. Da begann ein entsetzliches Gemetzel mit den kurzen Säbelklingen oder dem Kolben und der blutigen Faust. Hier gab’s keinen Pardon mehr. An einem Hause war deutsch mit schwarzer Kreide angeschrieben: „Die Preußen sind feige Hunde, wir schießen sie Alle todt!“ Von der Besatzung desselben blieb ebenfalls Niemand übrig. Em anderes Haus trug in französischer Sprache die Aufschrift mit rother Kreide: „Ihr Teufels-Preußen, ihr werdet nicht alle eure Frauen wiedersehen!“ So tobte sich ohnmächtige Rachgier aus.

Auch die andere Häuserreihe des Dorfes mußte Haus um Haus erobert werden, obgleich die Blutarbeit dadurch etwas erleichtert ward, daß aus den eroberten Häusern zur Linken gleich auf die gegenüberstehenden in derselben Straße zur Rechten geschossen werden konnte. Die französische Artillerie der Forts und Schanzen hatte bis diesen Augenblick rücksichtslos, ob die Ihren selbst darunter leiden mochten, nach le Bourget hineingeschossen; sie stellte ihr Feuer ein, als die langen Reihen der französischen Gefangenen im Freien nordwärts sichtbar wurden und die Mitrailleusen in eiligster Flucht aus le Bourget nach Süden abfuhren. Um drei Uhr war der Sieg entschieden, – aber um welchen Preis!

Da standen wir vor der blutigen Barricade, – welch ein Anblick! Nicht in Reihen, in Haufen lagen die preußischen Grenadiere da, und wie hatte der Tod sie gebettet! Viele lagen mit dem Gesicht in dem schlammigen Boden, die Beine im Todesschmerz zusammengezogen, andere auf dem Rücken, die Arme steif emporgestreckt und die glasigen Augen weit offen. Einer lag da mit gefalteten Händen, als sei er erst mit einem Gebet für seine Lieben heimgegangen. Andere waren gräßlich verstümmelt, je nachdem Eisen oder Blei die Wunden geschlagen.

Nicht etwa besser sah es in der großen Hauptstraße aus; ich mußte unwillkürlich an Leipzig nach seinem Hagelwetter von 1860 denken, nur daß hier Axt und Kolben, Granaten und Gewehrkugeln noch ein Uebriges in der Zerstörung geleistet. Unmassen von Waffen jeder Art bedeckten Fahr- und Fußweg, und die Leichen lagen dazwischen; die meisten waren dem Bajonnet oder dem Kolben erlegen, so daß oft Blut und Gehirn an den Wänden klebte. Auch die Gefahr war noch nicht vorüber, denn immer noch wurden versteckte Franzosen aus Kellern und Böden hervorgezogen, und noch Mancher setzte sich gegen die Gefangenschaft zur Wehr. Dennoch verließen wir den Ort erst, nachdem wir selbst seine unheimlichsten Plätze aufgesucht und nach Befinden skizzirt hatten. Wie sehr ich auch in diesen Feldzugsmonaten an schauderhafte Bilder gewöhnt worden bin, – schwerer brachte ich keines aus meinen Gedanken am Tage und aus meinen Träumen bei Nacht los, als die von dieser blutigsten Stätte vor Paris.