Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl

Textdaten
<<< >>>
Autor: Georg Horn
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, 37, 38, 39, 40, 51, S. 556–558; 599–603; 612–616; 655–658; 856–859;
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[556]
Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Erster Brief.

Gegen Abend des 28. Juli war auf dem äußern Potsdamer Bahnhofe in Berlin ein reges Leben und Treiben. Ein langer Zug mit Transport- und nur wenigen Personenwagen, darunter zwei Salonwagen, stand rangirt, an der Seite des Perrons war ein ganzer Fuhrpark aufgefahren, bestehend aus Fahrzeugen jeder Form und jedes Bedürfnisses; davor standen lange Reihen der edelsten und schönsten Pferde mit den entsprechenden Bedienungsmannschaften, dazwischen bewegte sich viel Menschheit in Uniform und Livree; von den Wagen herab wurden Kisten und Koffer in die Gepäckwagen gehoben, die Gefährte selbst auf offene Transportwagen geschoben und die Pferde unter mancherlei Mühen, Antreiben und Rufen in den finsteren Gepäckwaggons untergebracht, vor dessen sie, die Luft und Freiheit liebenden, ein dunkler Instinct zu warnen schien. Während dieser Vorbereitungen war es dunkel geworden. Die Einwohner jenes Stadtviertels, das als ultima Thule Berlins gelten kann, sahen verwundert drein, als sie nach einem Theile des Bahnhofes, der sonst nur für rasselnde Gepäckwagen passirbar ist, eine elegante Equipage nach der anderen rollen sahen, mit älteren und jüngeren Officieren in einfacher Campagnenuniform, und zuletzt sogar eine, wenn auch nur einfache, Hofequipage erschien, in welcher kein Geringerer saß, als der Prinz Friedrich Karl, der Neffe des Königs von Preußen, der Held von Düppel und Alfen und Sadowa.

Man wußte, wenn es auch nicht in den Zeitungen gedruckt werden durfte, daß der Prinz zum Obercommandirenden der Rhein- oder der Zweiten Armee ernannt worden sei. Derselbe hatte nunmehr sein Hauptquartier formirt und brach an jenem Abend mit demselben an den Rhein auf. Welches ist das Ziel der Fahrt? So fragten sich fast Alle, die im Zuge waren, mit Ausnahme des Prinzen und seiner ersten Generalstabsofficiere, jener Herren mit der unscheinbaren Uniform und den strategischen Köpfen. Diese wußten es jedenfalls, denn sie sind die wichtigsten Theile des Ganzen, das wiederum in dem General von Moltke, dem Chef des großen Generalstabes der Armee, in dem großen Schweiger und Schlachtendenker concentrirt ist, der den genialen, von Tag zu Tage klarer hervortretenden Operationsplan entworfen hat; sie sind die Vertrauensmänner und leitenden Kräfte, denen er einen großen und wichtigen Theil der Ausführung seines großen Gedankens übertragen hat. Natürlich kannten diese Herren das Reiseziel, aber sie beantworteten jede Andeutung mit einem liebenswürdigen Gedankenstrich nach einem Fragezeichen. Die Reise ging über Magdeburg und Hannover durch das Bückeburger Land und durch die fetten Triften der rothen Erde. Die großartigen Ovationen, die der Prinz mitten aus dem Volke heraus durch Ansprachen, Gesänge, Hochs und Hurrahs, namentlich vom Westphälingerland empfing, drängten die Begierde, das Ziel der Reise zu erfahren, etwas zurück, bis dieselbe am zweiten Morgen nach der Abreise beim Einfahren in den Bahnhof von Köln nur um so lebhafter wurde. Auch Köln war dieses Ziel noch nicht, jedoch vielleicht Coblenz. Man hatte gemunkelt, daß die Armee zwischen letzterem Orte und Mainz operiren würde – was munkelt man in solchen bewegten Zeiten nicht Alles! – „der alte Löwe“, General von Steinmetz, war zudem um einen Militärzug dem Prinzen vorausgefahren, vielleicht handelte es sich um wichtige Berathungen, Verabredungen, Recognoscirungen; aber General von Steinmetz blieb in Coblenz zurück, und der Zug des Obercommandirenden der Zweiten Armee fuhr durch den Bahnhof von Coblenz hindurch, und weiter ging es nach der linksrheinischen Bahn durch das herrliche Rheinthal, an der Stelle vorbei, wo General „Vorwärts“, Blücher, in der denkwürdigen Neujahrsnacht von 1814 mit dem preußischen Heere über den Rhein gegangen war, um seinen Siegesgang nach Paris anzutreten, und dort dem durch den Uebermuth, die Herrschsucht und den Cäsarenwahnsinn eines Corsen geängsteten und niedergeworfenen Europa den Frieden und den Muth wiederzugeben.

Es ist, als ob mit den Napoleoniden, die nach den Bestimmungen des Wiener Congresses von den Thronen Europas ausgeschlossen waren, als ob mit den Menschen auch die Zeiten wiederkehrten. Die Corsenfamilie mit der ihr eingeimpften Blutrache kann sich auch in dem gegenwärtigen Haupte derselben nicht verleugnen; aber die Deutschen sind in den letzten fünfzig Jahren durch die Bedrängnisse und Erfahrungen der Zeit doch andere geworden. „Einer für Alle, Alle für Einen!“ ist jetzt ihr Schlachtenruf, und wenn dort bei dem goldenen Mainz vorbei einst die Kaiserstraße führte, auf welcher Napoleon der Erste seinen Heeren voran von Paris nach Jena zog, so wird jetzt ein neuer General Vorwärts die Geschichte und den Weg umkehren und den Franzosen ihr Jena heimzahlen! In Mainz hielt auch nach vierzigstündiger Fahrt der Zug, und Mainz war das erste Hauptquartier des preußischen Heerführers Prinz Friedrich Karl. Was ist ein Hauptquartier?

Ein Hauptquartier ist der geistige und geschäftliche Mittelpunkt, von welchem die Fäden über die einzelnen Truppentheile, Corps, Divisionen, Brigaden, Regimenter, ausgehen. Der Heerführer ist der Herrscher; der Generalstabschef, der Generalquartiermeister, der Generalinspecteur der Etappen sind seine Minister, die übrigen Officiere des Generalstabes seine Unterstaatssecretaire. Der Oberbefehlshaber ist Commandeur en chef der Infanterie und Cavallerie, außerdem hat er einen General der Artillerie und einen Oberst der Ingenieure an seiner Seite. Außer dem persönlichen Adjutanten des Prinzen gehören zum Hauptquartier die Commandeure des Hauptquartiers und der Stabswache, die Armeeadjutanten, die Ordonnanzofficiere, die mit den Befehlen an die einzelnen größeren Truppenabtheilungen abgeschickt werden, ein Generalarzt, der Vertreter des Johanniterordens, der Chef des Verpflegungswesens mit seinen Beamten – was eine Armee täglich aufißt, darüber in einem späteren Artikel –, ein Armeepostmeister, die Ingenieurgeographen, welche die Karten entwerfen, die Beamten mit dem Telegraphenapparate, vermöge dessen sie innerhalb zweier Stunden eine Linie von fünf bis sechs Meilen legen können, und zuletzt auch ein Apparat für schwierige künstlerische Zwecke, eine metallographische Druckerei. Rechnet man dazu noch die Corpsschreiber, welche den Bureaudienst verrichten, die Stabswache, welche den Wachdienst im Hauptquartiere thut, achtundzwanzig Mann Infanterie, achtzehn Mann Cavallerie – letztere begleiten den Höchstcommandirenden in die Schlacht – und zählt man dazu den, wenn immer kleinen, persönlichen Dienst des Prinzen, ergiebt diese militärische Umgebung und das persönliche Gefolge eine ganz erkleckliche Anzahl von Menschen, deren Fortbewegung von einem Ort zum andern eine stattliche Cavalcade von Pferden und eine lange Colonne von Wagen bildet.

Vierundzwanzig Stunden vor Abbruch eines Hauptquartiers geht der Quartiermacher nach dem Orte voraus, an welchem das neue aufgeschlagen werden soll. Dort erwartet dieser den Zug und händigt die Quartierbillets aus. Für den Obercommandirenden pflegt in einem seinem hohen Range entsprechenden Hause Wohnung bereitet zu werden, ebenso für die Officiere des Generalstabes, die wegen gewisser Eventualitäten in seiner nächsten Nähe sich befinden müssen, eine Nothwendigkeit, die auch für die Bureaus eintrat, welche in irgend einem amtlichen Locale untergebracht zu werden pflegten; meistenteils wurden dazu die Schwurgerichtssäle in Verwendung gebracht. Eine Viertelstunde nach der Ankunft des Hauptquartiers genügt, um die Kisten mit den Acten, Schreibmaterialien auszupacken, und nach einer halben Stunde arbeitet in dem neuen Etablissement Alles wieder mit jener geistigen Schlagfertigkeit, der die vollendete militärische Organisation Preußens entstammt, und dem diesen Pflicht- und Ehrgefühl, in welchem der gewaltige moralische Halt und das Geheimniß der Sieghaftigkeit seiner Armee sich enthüllt.

Mit dem Geschäftsbureau steht das Arbeitszimmer der Spitzen des Generalstabes des Obercommandos in Verbindung. Hier ist der Sitz der intellectuellen und geschäftlichen Oberleitung, hier gehen alle Befehle von dem großen Generalstabe, und alle Meldungen von den Armeecorps ein, von hier aus beobachtet man die Bewegungen des Feindes, und hier werden denselben entsprechend die Operationen gegen den Feind entworfen, von hier aus geht der Vormarsch und die Aufstellung der Armee vor sich, von hier aus kommen alle Befehle und Anordnungen für die strategischen Operationen für das Verpflegungs- und Sanitätswesen, und werden [557] durch die Armee-Adjutanten allabendlich fünf Uhr an die Ordonnanzofficiere ausgegeben, welche sie an die betreffenden Armeecorps überbringen. In dieser organischen Verbindung des Ganzen mit dem Einzelnen, diesem staffelartigen Aufbau ist allein nur eine zweckdienliche Beherrschung des gewaltigen Arbeitsmaterials möglich. Die Thätigkeit beginnt früh am Morgen und endet oft erst spät in der Nacht. Der Prinz verlangt von seiner Umgebung die höchste Anspannung geistiger Kraft und geht ihr darin mit eignem Beispiel voran. Ruhe ist ein Begriff, den er im Felde selten, Bequemlichkeit, den er gar nicht kennt. Von früh Morgens an bis zum Abend ist er in steter Wirksamkeit, und diese richtet sich stets auf das Große und Ganze, ohne sich in unnöthiges Detail zu zersplittern. Meldungen, Vorträge, Berathungen, Recognoscirungen machen aus seinem Tage achtundvierzig Stunden. Für das Diner ist nur eine Stunde bestimmt; dasselbe ist feldmäßig einfach, besteht nur aus Suppe und einem Gange, dazu wird einfacher Landwein gegeben. Noch einfacher ist das Souper, wenn der Prinz es nicht vorzieht, dasselbe auswärts im Freien einzunehmen. Diese Mittags- und Abendessenszeit sind seine einzigen Erholungsstunden; er sieht hier die Officiere seines Stabes um sich und giebt sich in diesem Kreise mit seinem dem Heitern zuneigenden hohenzollernschen Familienzuge, mit dem regen alles Neue und Geistige umfassenden Interesse, mit seiner ruhigen, einfachen, soldatisch sichern Art. Gegen zehn Uhr pflegt er sich zurückzuziehen. Gegenwärtig ist der Prinz zweiundvierzig Jahre alt, seine körperliche Erscheinung trägt den kräftigen hohenzollernschen Familientypus, und wie alle preußischen Prinzen erscheint er nur in Uniform und zwar in der seines Lieblings-, des Ziethen’schen Husarenregiments, dunkelblau oder roth mit Silber.

Proviant-Colonne in Biebrich, begleitet von preußischen und sächsischen Truppen.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Specialartisten F. W. Heine.

Von Mainz aus ging das Hauptquartier auf der großen Kaiserstraße immer mehr nach Westen, in die bairische Rheinpfalz hinein. Alzey, wohin es von Mainz aus zunächst verlegt wurde, weckte eine Erinnerung an eine Nibelungengestalt, an den Spielmann Volker von Alzey, der hier seine Burg hatte, und dessen [558] Fiedel noch in einem alten Wappen zu sehen ist. Kirchheim-Bolanden, Wienweiler, Kaiserslautern, Homburg waren die folgenden Hauptquartiere. Als ich in Homburg Nachmittags meinen Spaziergang nach dem Schloßberge machte, an den gar malerisch die kleine Stadt sich anlehnt – war aus der Ferne, aus der Richtung von Saarbrück herüber, Kanonendonner zu vernehmen. In die Stadt zurückkehrend begegnete ich in den Mienen der Einwohner dem Ausdruck der Angst und Bestürzung – in der militärischen Umgebung des Prinzen war jene Erregung, die der Gedanke an den Kampf in jedem soldatischen Herzen erzeugt, nicht zu verkennen. Man flüsterte sich zu, daß unsere Truppen gegen das zweite Corps (General Frossard) im Feuer ständen. – Die erste Armee war zum größten Theile engagirt, von der zweiten Armee nur eine Division, aber immerhin genug, um den Prinzen zu vermögen, sich auf den Schauplatz des Kampfes zu begeben. Die Locomotive war bereits geheizt, von Viertelstunde zu Viertelstunde kamen telegraphische Meldungen. Aller Augen hingen an den Mienen des Obercommandirenden, in erwartungsvoller Spannung zu erfahren, welche Wendung der Kampf genommen habe, aber diese blieben unverändert, fest und ruhig. – Bald darauf wurde der Eisenbahnzug wieder abbestellt – am Abend erfuhr man die Nachricht von dem Siege der Unseren und der Niederlage des Generals Frossard, vom Vormarsch unserer Truppen auf Forbach.

Am nächsten Tage wurde das Hauptquartier nach Bliescastel, einem rheinbayerischen Städtchen nahe der französischen Grenze, verlegt. Rechts und links war bereits von Kaiserslautern aus die Straße von den preußischen Truppencolonnen wie von einer doppelten sich fortbewegenden Mauer eingefaßt. Die Mannschaften, dem Gardecorps angehörend, bezogen Abends Bivouacs. Das Auftauchen der Wachtfeuer rings auf den Bergen in den abenddunkelnden Himmel hinein war von wunderbarer Wirkung. Der Prinz war mit seinem Gefolge auf einen erhöhten Punkt gegangen, um von da aus das herrliche Bild zu überschauen.

Da meldete sich ein Ordonnanzofficier, ein Lieutenant v. König, von den Siebzehner Braunschweig’schen Husaren. Er berichtete, daß er mit vier Mann zur Recognoscirung über die französische Grenze ausgeschickt worden und unbeanstandet bis vor Saargemünd (französisch Sarreguemines, Département de la Moselle) gekommen sei. Dort sei er auf eine Verbarricadirung durch gefällte Bäume gestoßen, habe von jenseits der Brücke Feuer bekommen und gegeben. Darauf habe er einen Civilisten in die Stadt zum Maire mit seiner Karte geschickt. Auf dieselbe habe er blos „von König“, ohne Angabe seines Officiergrades, geschrieben, um der Sache mehr Gewicht zu verleihen. Bei dem Bürgermeister habe er anfragen lassen, ob Militär in der Stadt liege; wäre dies nicht der Fall, so habe er denselben auffordern lassen, daß die gefällten Bäume entfernt würden, widrigens die Stadt als keine offene, sondern wie ein fester Platz betrachtet würde. Die Antwort des Maires Barre de Geiger lautete, daß die französischen Truppen aus der Stadt abgezogen seien und daß die Hindernisse, welche den Zuzug zur Stadt versperrten, sogleich beseitigt werden sollten. Das geschah denn auch mit gezogenem Revolver und in Begleitung von drei Husaren- der vierte war zur Beobachtung zurückgelassen worden – ritt der recognoscirende Officier in die Stadt ein, wo er sich allsogleich von einer großen Menschenmenge umringt sah und der Maire ihn mit der Bitte empfing, die Stadt als eine offene zu betrachten und schonen zu wollen. Dieses kecke Husarenstückchen wird durch die Illustration dargestellt, welche ich Ihnen zugleich mit diesen Zeilen überschicke.[1]

Am nächsten Morgen brach das Hauptquartier auf. Ging es an diesem Tage über die französische Grenze? Diese Frage stand auf allen Mienen geschrieben, und die Spannung überbot diejenige auf das erste Hauptquartier diesmal noch um ein Bedeutendes. Die Landleute sagten zwar, daß die Straße, die wir zogen, der Weg nach Frankreich sei – aber nach ihren Angaben, daß die Grenze nur zwei Stunden entfernt und nach der Zeit unserer Fahrt zu schließen, die schon an vier Stunden gedauert hatte, waren wir am Ende doch nicht auf dem heißersehnten Wege. Und doch – dort zeigte sich der weißblaue bairische Grenzpfahl und darüber hinaus – der blauweißrothe mit der Ueberschrift: Empire français! Hinüber – hinüber – es ist keine fremde Erde, die wir betreten, es ist Lothringen, altes deutsches Reichsland, dem Mutterlande durch Raub entrissen. Sei es von uns tausendmal mit jubelndem Herzen begrüßt! Hinüber – hinüber! Vor einundzwanzig Tagen an der Spree tiefster Friede, nach einundzwanzig Tagen eine siegreiche Armee an der Saar, und Deutschland einig – einig –; Jahrhunderte haben nach diesem Ziele gerungen – und haben es nicht erreicht. Und wir haben es erlebt – wir sind des großen Gedankens und des übermächtigen Gefühls voll, wir können sagen: Wir sind dabei gewesen!

[581]

  Lieutenant von König erobert mit drei Husaren Saargemünd.   Synagoge.
Nach einer Originalzeichnung eingesandt von unserem Berichterstatter Horn im Hauptquartier.
 Hospital der französischen Verwundeten.


  1. Wir bedauern, diese Illustration unsern Lesern erst später mittheilen zu können, da ihre Herstellung bis zum Drucke der vorliegenden Nummer nicht möglich war.
    D. Red.
[599]
Ein Schlachtentag.
Zweiter Brief.

Ich schreibe Ihnen diesen Bericht aus einem kleinen lothringischen Dorfe Doncourt, zwei Meilen hinter Metz auf dem Plateau zwischen Mosel und Maas. Nach allen Seiten hin, um mit militärischem Kunstausdrucke zu sprechen, coupirtes Terrain, eine Gegend mit scharfen Hebungen und Senkungen, mit Schluchteinschnitten und scharf aufsteigenden Thalrändern, mit Dörfern, kleineren Waldparcellen und weiten Ackerflächen bedeckt und von breiten mit Pappeln bepflanzten Alleen durchschnitten; in der Ferne am Horizonte die blauen Contouren der Ausläufer der Ardennen. [600] Seit Donnerstag den 18. August ist das Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl in Doncourt, einem Dorfe, wie alle lothringischen Dörfer, halb Stadt, halb Düngerhaufen, der eben durch das offene einzige Fenster unserer Stube seine balsamischen Düfte entsendet. Eine gewisse Wohlhabenheit in den lothringischen Dörfern ist nicht zu verkennen, wenn dieselbe auch durch die Nöthen des Krieges sehr in’s Schwanken gekommen sein mag. Ob Reinlichkeit eine Nationaleigenschaft französisch-lothringischer Bevölkerung ist, wage ich nicht zu behaupten; der Krieg ist ein Ausnahmezustand, nach welchem keine Bevölkerung zu beurtheilen ist. Bisher habe ich wenig davon gemerkt, die Leute haben überall Marmorkamine mit vergoldeten Spiegeln, aber dabei schlechte


Recognoscierung des Prinzen Friedrich Karl bei Rohrbach.
Originalzeichnung von C. Rechlin.


Wäsche, und dann sind die Reinigungsapparate, diese charakteristischen Fühler für den Civilisationszustand einer Bevölkerung, im allerschlimmsten Zustande.

Mit großer Mühe habe ich mir einen alten kleinen wackeligen Tisch erobert, um darauf schreiben zu können, in einem kleinen einfensterigen Zimmer sind rings an den Wänden die Strohlager aufgeschüttet – das Lederkissen, welches mir beim Ausmarsche von Berlin meine hochverehrte Freundin Frau B… verehrt hat, thut als Kopfkissen die vortrefflichsten Dienste; auf dem Fensterbrette stehen eine alte Lampe mit ranzigem Oel und die schönen Reste eines café au lait, der nicht zu genießen war; um den Kaffee durchzuseihen, mußten wir uns eines Strumpfes bedienen – aber zur Beruhigung füge ich bei: er war neu. Das Brod ist drei Tage alt; Butter ist natürlich ein unerhörter Luxus. Nun glaube ich an Lagen und Verhältnisse, wo man selbst Talglichte als eine Borchardt’sche Delicatesse begrüßen kann – und nach meiner nun gewonnenen Ueberzeugung gäbe es für Ehefrauen, deren Männer in Bezug auf Essen und Trinken allzu sehr verwöhnt sind, nichts Wünschenswertheres, als einen Krieg.

Alles will ich gern tragen, nur Ruhe – ein ganz klein wenig zum Arbeiten, um die verehrten Leser der Gartenlaube mit Nachrichten nicht im Stiche zu lassen. „Ruhe ist nur im Escurial“, aber in Doncourt nicht: unter mir, in einem Gewürzladen, in dem weiter nichts mehr als Stiefelwichse sich befindet, verlangen die Soldaten das Unmöglichste – Cigarren, Rindertalg, Siegellack, Hosenträger, Nähnadeln, Kalender, grüne Seife; die Frau versichert: „Je ne comprends pas!“ sie ruft das in allen Stimmregistern, aber die Soldaten verlangen, daß die Franzosen jetzt Deutsch verstehen sollen; der Disput entwickelt sich zum Spectakel, und so bleibt mir nichts Anderes übrig, als die enge Treppe hinabzustürzen und um jeden Preis Frieden zu schaffen.

Es hieße Kugeln nach Metz bringen, wollte ich die großen Waffenerfolge, welche die zweite Armee in der letzten Woche über die Franzosen errungen hat, noch wiederholen. Deutschland und Europa kennt sie. Die Idee, Metz zu umgehen und die Franzosen im Rücken dieser gewaltigen Festung anzugreifen, ist gelungen.

[601]

Prinz Friedrich Karl, Commandeur der zweiten Armee,
mit dem Chef seines Generalstabes, General Stiehle.
Originalzeichnung von Professor W. Camphausen in Düsseldorf.

[602] Bisher hatten sie immer noch ihre Angriffsfront gegen Deutschland stehen, durch diese Umgehung wurden sie zur Umkehrung derselben auf ihre naturgemäße Rückzugslinie nach Chalons und Paris zu gezwungen. Diese Rückzugslinie wurde ihnen durch die heißen blutigen Kampftage des 16. und 18. August, wo sie den Vorstoß nach Verdun machen wollten, durch den Prinzen Friedrich Karl abgeschnitten, und wenn diese Zeilen nach Deutschland gelangt sein und aus den Schnellpressen der Gartenlaube hinaus in alle Welt gegangen sein werden, dann hat sich sicherlich das Schicksal dieser so großen und wahrhaft vortrefflichen Armee erfüllt: entweder hat sie die preußische Cernirung zu durchbrechen versucht und ist geschlagen worden, oder aber sie hat sich in Metz, wo Hunger und Krankheiten zu wüthen begonnen haben, nicht mehr halten können und sich ergeben.

Man hatte am Morgen des 17. August, also nach dem Tage von Vionville, geglaubt, daß die Schlacht fortgesetzt werden würde. Der Oberbefehlshaber Prinz Friedrich Karl hatte am 16. Abends die blutige Wahlstatt erst um zehn Uhr Nachts verlassen, war am nächsten Morgen vier Uhr bereits wieder auf dem Schlachtfelde und blieb beobachtend in der Nähe desselben bis zum Nachmittage des 17., wo er in sein Hauptquartier Buxières zurückkehrte. Die Franzosen schienen keine Lust zu haben, den Kampf am nächsten Tage wieder aufzunehmen, es war ihnen am 16. zu fühlbar geworden, was brandenburgische und preußische Hiebe sind. Das brandenburgische dritte Armeecorps, dessen Generalcommandeur der Prinz bis vor Kurzem war, hatte acht Stunden lang gegen eine zweifache Uebermacht allein ohne alle Reserven im Feuer gestanden, bis das zehnte Armeecorps des Nachmittags eintraf und durch seine energischen Angriffe auf den rechten französischen Flügel dem dritten Armeecorps Luft machte.

Ehre, dreimal Ehre für Brandenburg! Aus zwei S, aus Sand und Sumpf, ist diese von allen Gegenden unseres herrlichen Vaterlandes am wenigsten begünstigte Provinz der Mittelpunkt und Kern des preußischen Staates geworden. Der Bewohner der Mark muß Alles und Jedes im Schweiße seines Angesichts dem undankbaren Boden abringen, aber dieser tägliche elementare Kampf um das Dasein stählt die Kraft, übt die Widerstandsfähigkeit und verleiht jene knorrige Zähigkeit, die namentlich dem heftigen Angriffe der Franzosen gegenüber am Tage von Vionville von solch glorreichem Erfolge war. Die hartnäckige Widerstandsfähigkeit jener vom Sand überschwemmten Gegenden im Norden Deutschlands, von der die Hohenzollern im Anfang viel zu leiden hatten, haben sich diese nutz- und dienstbar zu machen gewußt; mit Brandenburg haben sie ihre herrlichste Siege erfochten und die größten der Familie, der große Kurfürst und der große König, waren so echte rechte Naturen von märkischem Schrot und Korn, die niemals klein zu kriegen waren. Aus den Gräbern der heldenmütigen Officiere und Mannschaften bei Vionville auf der Höhe sprossen deine blutigen Lorbeeren, o Brandenburg!

Am Morgen des 18. August früh vier Uhr war allgemeiner Aufbruch aus dem Hauptquartier voll Buxières. Der Tag war kaum herauf, die Nebel lagen noch rings auf den Höhen und durch den Morgen ging ein fast schon herbstlicher Zug. „Die reiten in einen blutigen Tag,“ mußte man sich sagen, als der Höchstcommandirende und die Suite das Hauptquartier verließen; dasselbe war für den Prinzen ein einstöckiges Haus mit zwei kleinen nothdürftig meublirten Stuben, für den Generalstab ein Haus von nicht größerem Gelasse und für die Adjutanten und Ordonnanzofficier eine größere Scheune. Ich und mehrere Herren von der Armeeintendantur kamen in einem Wagen einige Stunden später nach. Wir nahmen die Straße nach Mars la Tour. Auf dem Wege dorthin begegneten wir bereits den Spuren des Kampftages von Vionville. An der Chaussee, in den Gräben, auf dem Felde lagen todte Pferde zerschossene Helme, zerbrochene Gewehre, geöffnete Tornister mit zerstreutem Inhalte. Rings umher deutete die aufgewühlte Erde an, daß hier crepirte Granaten ihre Schuldigkeit gethan hatten; in einiger Entfernung fand man die Splitter und die Zünder, und diejenigen, die davon getroffen waren, die stöhnten vielleicht noch von den Schmerze oder rangen mit dem Tode, oder sie hatten die Fahne des Lebens in der Jugend vor dem grausamen Tode schon gesenkt. So ein geöffneter Tornister mit allen Spuren des Lebens desjenigen, der es vielleicht bereits hat lassen müssen, so einzeln verstreut, gleichsam der niedergesunkene Bote und Erzähler von all dem Todesleiden und Schlachtengrauen, das dahinter liegt – das ist ein gar seltsam tief die Seele bewegendes Ding. Da liegt das Wenige, was ein Soldatenleben braucht: ein Hemd, ein Paar Stiefel, Bürsten, Putzzeug, ein Soldbuch, ein paar verknitterte Briefe aus der Heimath und in einem halbzerrissenen Couvert eine Photographie, das Bild eines jungen, hübschen Mädchens, und in das Tornisterfutter ist sauber kalligraphisch der Name des Besitzers eingeschrieben: „Zierath, 9. Compagnie, 24. Regiment.“ Das Daliegen des Soldatenstückes ist der Beweis, daß der frühere Besitzer all das Tornister- und Schanzzeug des Lebens abgeworfen hat und dahin gegangen ist, wo Aller Heimath ist.

Wir kamen auf die Höhe, wo sich die Wege rechts nach Tronville und geradeaus nach Vionville und Rezonville scheiden; ein Wegweiser stand wohl da, aber die Franzosen hatten die Namen von demselben ausgewischt. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel; da, wo vor achtundvierzig Stunden ein Geschützfeuer wüthete, wie es vielleicht in der Weltgeschichte noch nicht erhört war – denn mit solchen Geschossesmassen haben noch nie zwei Mächte sich begegnet wie jetzt die beiden größten Militärstaaten der Welt –, wo die Schlacht am wüthendsten getobt hatte, da war jetzt Stille und Friede. Unten vom Kirchthurme von Vionville herauf schlug die Uhr wie zu allen Zeiten, und links an der Straße grub man die Gräber für die braven Officiere des vierundzwanzigsten und vierundsechszigsten brandenburgischen Regiments, und siehe – es waren nicht wenige.

Auf der Höhe hielt der Prinz mit seinem Stabe, Ordonnanzofficiere mit Befehlen entsendend und Meldungen empfangend: Drüben auf den Höhe von Flavigny war eine lange Cavalcade zu bemerken; es war König Wilhelm mit seiner Suite. Rings friedliche Stille, kein Schuß war zu hören; nur die Aasgeier tummelten sich mit lautem, fröhlichem Geschrei in der Luft, ihr Festtag war angebrochen. Wir standen an einer Stelle der Straße, die noch schwarz gefärbt war; am 16. August war an derselben ein französischer Munitionswagen in die Luft gegangen und hatte vierzehn in der Nähe befindliche Pferde auf einmal getödtet. Hunger und Durst stellten sich bei uns ein; wir lechzten nach einem Trunk Wasser, und nirgends rings umher eine Quelle oder ein Brunnen; in Vionville unten war ein einziger, und ich unternahm es, mit ein paar geleerten Flaschen versehen, Wasser herbeizuschaffen. Als ich in das Dorf hinabkam – welches Bild der Verwüstung und des Grauens! Die Wohnungen waren zerschossen, kein Fenster, kein Fensterladen, keine Thür mehr ganz; auf der Straße, in den Gräben lagen verstreut zerrissene Uniformstücke, Waffenröcke, Epaulettes, Tornister, Kochgeschirre, Säbel, Gewehre, Käppis, Feze; vor den Häusern und in den Häusern lagen auf Strohsäcken oder meistens auf blankem Stroh die Verwundeten vom vorgestrigen Tage, nur erst nothdürftig verbunden; sie stöhnten in deutschen und französischen Schmerzeslauten oder riefen die Vorübergehenden um Brod, um Wasser an, und dabei drohten die zerschossenen Dächer jeden Augenblick über den Unglücklichen zusammenzustürzen. Franzose oder Deutscher, das war ganz gleich, es war ein Schmerzensschrei, ein Schrei um Barmherzigkeit, derselbe Jammer, dieselbe Noth und das gleiche Bedürfniß. „Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an.“ Wehe, wehe, wehe demjenigen, über den all dieses vergossene Blut, all dieses Schmerzenswimmern, alle diese Leichen, der ganze Fluch der darniedergetretenen Civilisation und der brutal zerstörten friedlichen, glücklichen Existenzen einst kommen werden!

In einem Hause des Dorfes sollte frisches, reines, gutes Wasser sein. Ich ging mit meinen Flaschen hinein, füllte diese und brachte sie mit vollem Inhalte und wiederholt so lange, bis dem Bedürfnisse genügt war. Bei einem zweiten Gange wurde ich trotz meiner großen Eile aufgehalten und noch dazu durch eine Scene der widrigsten Art. Aus einer Nebengasse des Dorfes, die ich passiren mußte, ertönte plötzlich ein wilder Lärm. Stimmen wurden in wirrem Durcheinander laut, sehr deutsche Laute: „Die alte Hexe, das Aas, das Scheusal, sie muß gehängt werden!“ Damit deuteten die Soldaten, von denen der Tumult ausging, durch ein offenes Fester ebener Erde. Neugierig gemacht, trat ich näher und frug die Soldaten, was es denn da drinnen gäbe.

„Sehen Sie nur, dort das alte Weib, das geknebelt am Boden liegt, das hat auf dem Schlachtfelde vorgestern Verwundeten die Augen ausgestochen, anderen die Finger abgeschnitten und die [603] Ringe abgezogen. Und der Kerl, dort in der Ecke, der auch an Stricke gebunden ist, hat uns verrathen. Auf dem Kirchthurme von Vionville hat er eine Fahne geschwenkt, um die Franzosen von unseren Bewegungen zu unterrichten.“

Ich ging in die Stube, wo die Beiden waren. Der Mann lag auf der Erde und mit dem Gesicht nach dem Boden zu; weder Verwünschungen noch Stöße der Soldaten konnten ihn bewegen, sein Angesicht zu zeigen; nach dem Aeußern zu schließen, gehörte er der ärmeren Classe an, die allerdings so leicht zu fanatisiren ist. Das Weib lag auf der Seite, ein Gesicht mit herabhängenden Haaren, an welchem die Grenze zwischen Weiblichem und Männlichem aufhörte, ein Gesicht achtzigjährig, spitz und böse von Haus aus, würdig einer Macbeth’schen Hexe.

Ich hielt mich nicht lange auf, sondern füllte meine Flaschen an der Quelle und machte mich auf, nach der Höhe zurückzukehren. Auf dem halben Wege begegneten mir vier Reiter, die den Weg links nach Viot ritten und nach den Höhen von Flavigny zu hielten, ein Militär und mehrere Civilisten. Beim Näherkommen konnte ich erkennen, daß es Civildienerschaft mit Handpferden war. Der Militär trug die Uniform der halberstädtischen Kürassiere, den weißen Rock mit gelbem Kragen und gelben Anschlägen. Es war Graf Bismarck, der zu der Suite des Königs stieß.

Glücklich brachte ich meine Flaschen auf die Höhe zurück; mit Cognac vermischt, mundete der Labetrunk uns ganz außerordentlich. Bisher war Alles ein friedliches Genrebild des Krieges, das sollte sich jetzt ändern; der Tag sollte doch blutig werden; es war auch ein Achtzehnter, und diese Monatstage waren immer für die Waffenthaten der preußischen Armee bedeutungsvoll und entscheidend. Links von der Straße her, aus nördlicher Richtung wurde plötzlich Kanonendonner vernehmbar und in der Ferne sah man weiße Rauchwolken am blauen Himmel emporsteigen. Auf eine Meldung hin stieg der Prinz an Spitze seines Generalstabes zu Pferde, und fort ging es querfeldein, wohl eine Meile lang bald Trab, bald Galopp. Der Kanonendonner kam näher, der Geschützesrauch ward immer dichter. Auf einer Höhe blieb der Prinz halten. Links in nördlicher Richtung lag ein Dorf, über dessen übrige Häuser das hohe Schieferdach eines dreistöckigen Hauses weit emporragte. Die Franzosen hatten auf einer andern Straße als bisher in nordwestlicher Richtung von Metz die Rückzugslinie gewinnen wollen und waren nun auf diesem Marsche abermals von den preußischen Truppen angegriffen worden. Um das vorliegende Dorf St. Marie aux Chênes entbrannte der Kampf. Das zehnte Armeecorps unter General von Voigts-Rhetz war engagirt. Der ganze Bereich um das Dorf ist in eine Rauchwolke gehüllt, man sieht nur das hohe Schieferdach und den Kirchthurm hervorragen, das Avanciren unserer Infanterieabtheilungen nach dem Dorfe zu, das Aufblitzen unserer Geschütze, die hundertsiebenzig in eingehender Linie aufgefahren sind. Von St. Marie geht die Straße und zu beiden Seiten eine Ebene in allmählicher Steigung aufwärts nach einem auf der Höhe liegenden Dorfe St. Privat; dort sind die französischen Batterieen aufgestellt. In St. Marie haben sich die Franzosen festgesetzt; die einzelnen Gehöfte sind von Steinmauern umgeben, und aus jeder dieser steinernen Umhegungen, aus jedem Hause hat der Feind ein Bollwerk zu machen verstanden, hinter welchem hervor er seine Kugelmassen in die aufgelöst mit unerschütterlichem Muthe vorgehenden preußischen Bataillone sendet. Die Bataillone avanciren, plötzlich sieht man in den Mannschaften eine Lücke entstehen, eine Granate hat eingeschlagen, und die Eisenstücke derselben fliegen in tausend Splittern ringsum weit umher. Die Bataillone weichen nicht zurück. Von der Höhe von St. Privat herab läßt sich zwischen den einzelnen, unregelmäßigen Kanonenschlägen ein donnerndes Rasseln vernehmen, das sind die Mitrailleusen, die ihre Kugelsaat von dort zugleich als Flankenfeuer herabsenden. Die Bataillone wanken nicht. Der einzelne Mann ist nur noch ein Punkt, den man verschwinden sieht – so weit sind die Franzosen schon aus ihren Stellungen unter lautem Kanonendonner und das Gewehrfeuer übertönendem Hurrah geworfen. Endlich sind die Geschütze aus der französischen Position durch unsere wackere Artillerie zum Schweigen gebracht; dieselbe war bis in unsere Schützenlinie vorgegangen, hier Position zu nehmen und hat sich an diesem Tage dreifach mit Ruhm bedeckt; auch die „Mademoiselles“ verstummten, der Feind zieht sich aus St. Marie zurück.

Eine Zeit lang steht die Schlacht, das heißt keiner der Gegner vermag über den andern einen besonderen Vortheil zu erlangen. Mit unerschütterlicher Ruhe übersieht der Oberbefehlshaber den vor und unter ihm tobenden Kampf; von denen, die da unten gegen die Feinde vordringen, kennt kaum Einer den Zusammenhang des Ganzen, in welchem er ein wirkender Theil ist, einen vollkommenen Ueberblick hat nur der Feldherr und seine Generalstabsofficiere allein; von der Stätte aus, an welcher er hält und das Ganze überblickt, werden die Truppenmassen in Bewegung gesetzt. Theils beobachtet er mittels eines Fernrohrs selbst, theils erhält er durch die Ordonnanzen, die mitten durch den heftigsten Kugelregen kommen und gehen, die Meldungen, wie die Sachen stehen, wonach er wiederum durch den Chef seines Generalstabes die Befehle ertheilt, wann, in welcher Anzahl und von welchen Stellen die Truppentheile vorgehen sollen. Der Prinz reitet weiter; er hat den Befehl gegeben: St. Privat soll genommen werden. Die Sachsen, die preußischen Gardedivisionen vor! Die Sachsen machen eine sehr gelungene Flankenbewegung. Die Garde, mit der ihr eigenen Bravour und dem ihr innewohnenden Pflichtbewußtsein, eine Elitetruppe zu sein, geht in der Front die ansteigende Ebene hinan gegen die französische Stellung von St. Privat vor. Der persönliche Muth, das Bewußtsein, daß die Chassepots auf große Entfernungen am erfolgreichsten wirken, das Bestreben, um jeden Preis auf dreihundert Schritte nahe und zu einem Bajonnetangriff zu kommen, beflügelt ihre Schritte. Es ist ein blutiger Weg, den die Garde macht, der Commandeur des ersten preußischen Infanterieregiments, der brave Oberst von Röder, sinkt von todbringender Kugel getroffen, kein Stabsofficier bleibt unverwundet, bei dem ersten Garderegiment sowohl, als bei den übrigen – die meisten Officiere sind todt oder verwundet – und wer zählt die Mannschaften, deren Blut dieses Feld des Todes trinkt!

Aber dennoch, auch die Position von St. Privat wird genommen und die Franzosen werden mit ungeheuren Verlusten an Todten, Verwundeten und Gefangenen nach Metz zurückgeworfen. Das Tosen des Kampfes verstummt, die Sanitäts-Detachements, die Johanniterwagen jagen nach dem Schlachtfelde, um die Verwundeten von den Verbandplätzen zurückzuholen; viele von ihnen schleppen sich gegenseitig, oder allein, auf einen abgebrochenen Stab gestützt, von dem Schlachtfelde in die zunächstliegenden Dörfer. Die Regimenter kehren mit zerschossenen Fahnen zurück. Das übrig gebliebene Häuflein vom Gardeschützen-Bataillon führt ein Fähnrich, an der Queue reitet ein Officier, den zerschossenen Arm in der Binde. Die Nacht steigt hernieder und breitet ihr mit goldenen Sternen gesticktes Leichentuch über die Todten, die für Vaterland und Ehre in den Tod gesunken sind.

[612]
Dritter Brief: Bei Tod und Wunden.
Am Tage der Schlacht von Mars la Tour. – „Son Bismarck“. – In Thiaucourt. – Die ersten Verwundeten. – Barmherzige Schwestern und „die Soldaten des guten Gottes“. – Brunnenvergiftung. – Der Maire in Todesangst. – Im Frieden der Nacht. – Ein Gang auf das Schlachtfeld von Vionville. – Die letzten Augenblicke der Sterbenden. – Die Hyänen des Schlachtfeldes. – Der treue Hund als Leichenwächter.

Als am 16. August, dem Tage von Mars la Tour, der Prinz Friedrich Karl plötzlich Nachmittags halb drei Uhr aus dem Hauptquartier Pont à Mousson aufbrach, um sein Hauptquartier mehr in das Centrum der Armee zu verlegen, ward für die Zurückbleibenden als Bestimmungsort Thiaucourt angegeben. An der Stelle des Prinzen aber schlug König Wilhelm in der reizend gelegenen Moselstadt sein Hauptquartier auf. Als wir zum Thore hinausfuhren, standen die Leute in dichten Massen an den Kreuzungspunkten der Straßen; sie hatten gehört, daß mit dem Könige auch Bismarck komme, und Alle wollten nächst „Roi Guillaume“ „Son Bismarck“ sehen. Vor dem Könige war bereits General von Moltke in Pont à Mousson angekommen; er war mit einem Generalstabsofficier hinaus vor die Stadt gegangen, man hörte Kanonen donnern, und wo Kanonen donnern muß man sich auch den General von Moltke denken; die Leute sahen den langen, hagern Mann wohl, der, die Hände auf den Rücken gelegt, etwas vorgebeugt, mit dem Officier im ruhigen Gespräche dahinging, sie sahen jedenfalls nur die Uniform an, und erkannten an dieser, daß der Mann preußischer General sei, aber er hatte keinen martialischen Henriquatre, überhaupt keinen Bart, nur Gedanken im Gesicht; aber diese Gedanken konnten sie nicht lesen, um durch sie eine Idee davon zu bekommen, daß derselbe Mann für den Augenblick für diesen Tag viel bedeutungsvoller war als Bismarck – ihr Sinn stand darum nur nach dem großen Minister.

Thiaucourt erscheint, mitten in Weinbergen gelegen, wie eine Traube zwischen grünen Blättern. Kein Wald, kein Busch auf dem ganzen Wege von drittehalb Meilen, den wir von Pont à Mousson bis Thiaucourt machen mußten, nur abgeerntete Ackerflächen und weit und breit die Rasenhügel mit ihrem eintönigen Grün. Die Eigenthümlichkeit der Formation des Moselplateaus besteht in dem wellenförmig sich fortsetzenden Terrain, in den weichen, runden Linien der Höhenzüge und in den oft jähen Schluchten, nach denen sie abfallen. So ist die kleine Stadt, welche das Ziel unserer Fahrt vom 16. August war, halb in einer Schlucht, halb an einem steil aufsteigenden Höhenrücken gelegen, der unseren Pferden mit den schweren Gepäckwagen recht schwer wurde. Der Ort besteht in einer einzigen, engen Hauptstraße, ist hübsch gebaut, und der Ruf seines Wohlstandes, der in Pont à Mousson in unsere Ohren drang, wurde durch das Aeußere nicht Lügen gestraft. Das Städtchen ist wegen seines Weines berühmt, aber wir sollten uns seines Genusses nicht erfreuen. Als wir abgestiegen, war das Erste, was wir erfuhren, daß etwa drei Stunden von dem Orte die Schlacht im Gange und daß der erste Verwundete bereits in Thiaucourt angekommen sei. Die Brandenburger hätten, so sagte das Gerücht, auf dem rechten Flügel bereits gesiegt, da sei ein neues französisches Armeecorps angekommen, und gegen diese neue Verstärkung seien dieselben, die bereits seit fünf Stunden im Gefecht standen, zu schwach an Zahl gewesen. Nun aber ist mitten in den Ereignissen, in dem Schlachtendonner stehen lange nicht so aufregend, als sich solchen unbestimmten dumpfen, unheilverkündenden Gerüchten gegenüber zu befinden; sie haben keine greifbare Gestalt, man weiß nicht, woher sie kommen, aber sie sind da und umschwirren Einen wie eine schauerliche Melodie, die man nicht mehr aus dem Sinn bringt, die ferner Einen mit Ungeduld, mit Unruhe und Angst erfüllt.

Zur Vorsorge ließen Graf Theodor zu Stolberg und Graf Solms-Baruth die Johannitercolonnen mit den sechs Wagen, die sich zum Verwundetentransport bei der Colonne des Hauptquartiers befinden, zum Abfahren nach dem Schlachtfelde bereit machen. Da erschien der erste Wagen mit mehreren Verwundeten von dem vierundzwanzigsten brandenburgischen Regiment, das sich in dem Walde bei St. Arnould nächst Vionville so wacker gehalten hatte. Man dachte in dem ersten Moment der Aufregung gar nicht daran, für die Verwundeten Sorge zu tragen, man wollte nur Nachrichten haben. Glücklicher Weise waren die Wunden der zuerst Angekommenen nicht so schwer, daß durch diese Verzögerung eine Versäumniß entstanden wäre; aber leider bestätigten die Aussagen der Soldaten auch die Wahrheit des Gerüchtes. Die Johannitercolonne wurde wieder zurückgehalten es gab jetzt in dem Orte genug zu thun, denn schon langten die Proviant-, die Marketenderwagen

[613]

Acht Correspondenzkarten und nur Ein Schriftkundiger.
Nach der Natur auf dem Berliner Bahnhof aufgenommen von Prof. Döpler.

[614] mit Verwundeten in förmlichen Colonnen an, und diese waren alle, alle vom dritten Armeecorps! Die Soldaten waren durch Wunden, Blutverlust und Hunger so ermattet, daß sie nur in ganz unzusammenhängenden Sätzen die Wirkung des mörderischen Feuers der Franzosen schildern konnten. Sie hätten immer nur in einem Feuer und Kugelregen gestanden. „Königsgrätz,“ äußerte sich einer der Soldaten, „war dagegen das reine Exerciren mit Platzpatronen.“

Durch die nächste Fürsorge um die armen Leute wurde für den Augenblick die Sorge um den Gang der Ereignisse, um das Loos der Entscheidung erstickt, obwohl diese Sorge wie ein drückender Alp auf Einem lag. Das Spital St. Anna in Thiaucourt wurden geöffnet; binnen einer halben Stunde waren die bereits zur Aufnahme der Verwundeten hergerichteten Säle belegt; aber schon nach einer Stunde reichten dieselben nicht mehr aus. In den Corridors, in den Vorplätzen mußten Matratzen ausgebreitet werden; die barmherzigen Schwestern, „les soldates de bon dieu“ wie sich eine mir gegenüber bezeichnete, entledigten die Soldaten ihrer von Staub und geronnenem Blute bedeckten, von Kugeln zerrissenen Kleider, sie reinigten die vom Pulverdampfe geschwärzten Gesichter, sie nahmen die von geronnenem Blute erstarrten Verbandlappen ab, wuschen die Wunden und sprachen den Armen Trostesworte zu. Diese verstanden zwar den Sinn derselben nicht, aber die Musik des Lautes hatte ihr Herz doch empfangen. Wie die guten Geister des Lebens glitten die Nonnen in der Mühe und Sorge von einem der Soldaten zum anderen. Umringt von den Stöhnenden, Wimmernden, Klagenden, die im Halbdunkel an den Wänden umherlagen, trat inmitten des Saales in greller Beleuchtung eine Gruppe voll Blut und Schmerzensschreien hervor. Der dem Obercommando der zweiten Armee beigegebene Generalarzt Dr. Löffler und der Arzt der Johannitercolonne Dr. Ritterfeld aus Berlin machten mitten in dem Andrängen von immer neuen Verwundetentransporten, von Meldungen, Fragen ihre Operationen, die über Zukunft, Leben oder Tod entschieden. Während der wackere Generalarzt seine blutige Kunst verrichtete, die so Manchem das Leben erhalten hat, gab er zugleich Dispositionen über die Art und Weise, wie die Nachkommenden untergebracht werden sollten. „Die öffentlichen Gebäude müssen geöffnet werden, die Rathäuser, die Mairie, die Kirche!“ rief eine Stimme hinzufügend.

„Nein, nicht die Kirche,“ befahl der Generalarzt, „die ist zu kalt, zu feucht; eher eine Scheune, wenn die Noth gebietet. Aus den Häusern sollen Matratzen geholt werden. Der Maire soll Sorge tragen. Wo ist der Maire?“

Die Diaconen der Johanniter brachten immer neue Opfer der blutigen Schlacht; sie legten sie in Ermangelung anderer Plätze auf die Stufen des Spitals, auf die Bänke des Gartens, der dasselbe umgiebt, auf Strohlager, die eiligst in dem Garten ausgebreitet waren. So war es unterdeß Nacht geworden, finstere Nacht; man sah nichts als dunkle Menschenknäuel, man hörte nur Rufen, Schreien, Stöhnen, Wimmern. Licht, Licht! Es war in allen Städten angeordnet worden, daß alle Fenster derselben Nachts erleuchtet sein sollten. Wo bleibt die Ausführung dieses Befehls? Wo ist der Maire? Auf der Mairie! Nach der Mairie! Ein altes großes finsteres Gebäude mit Arcaden. Davor ein großer Brunnen und um diesen ein dichter dunkler Menschenhaufe. Beim Nähertreten sah man schwarze Uniformen, hörte man braunschweigische Laute, es war ein Braunschweiger Infanterieregiment. „Der Brunnen ist vergiftet; werft ihn hinein!“ Zwischen diesen in wildem Chaos gesprochenen Worten vernahm man klägliche französische Laute. Ein Officier in der Uniform der Gardehusaren, der Commandant der Stabswache, Graf Alexander von W., trat hinzu. „Platz da! Was geht hier vor? Wer soll hineingeworfen werden?“

„Der Kerl da, Herr Rittmeister, er hat den Brunnen vergiftet; wir haben es selbst gesehen, wie er das Pulver hineingestreut hat.“

„Wer ist der Mann?“

„Ein Franzose, Herr Rittmeister.“

„Wo ist er?“

Der Schein der einzigen Laterne, welche das Stadthaus erhellte, fiel auf das bis zum Tode geängstigte Gesicht eines noch ziemlich jungen Mannes, der bei dem Erscheinen des Officiers die Hände flehend zu diesem emporhob mit den natürlich französisch gesprochenen Worten:

„Bei der Barmherzigkeit Gottes, helfen Sie mir! Retten Sie mich! Ich weiß nicht, was sie wollen. Seien Sie mein Beschützer!“

„Wer sind Sie, mein Herr?“

„Ich bin der Maire dieser Stadt.“

„Sie sind beschuldigt, den Brunnen vergiftet zu haben.“

„O nein, nein, mein Herr. Welcher abscheuliche Verdacht! Ich bin kein Giftmischer. Glauben Sie mir bei der ewigen Barmherzigkeit Gottes.“

„Aber die Soldaten wollen es gesehen haben.“

„O, welcher Irrthum! Welche Ungerechtigkeit!“

„Der Mann bestreitet es,“ wandte sich der Officier zu den Soldaten. „Habt Ihr es auch wirklich gesehen? Ist es auch kein Irrthum von Euch?“

„Nein, nein; wir haben es gesehen, wie er sich über den Brunnen gebeugt und etwas Weißes hineingeworfen hat.“

„Gut denn,“ versetzte der Officier, unter diesen Umständen den einzigen Ausweg findend, der einesteils der allgemeinen Erregung, anderntheils dem sich als unschuldig bekennenden Maire gegenüber zu nehmen war. „Windet den Eimer auf!“ befahl er den Soldaten. Es geschah. Dann nahm er seinen Trinkbecher heraus, schöpfte denselben aus dem mit Wasser gefüllten Eimer voll und reichte das mit dem angeblichen Gifttranke gefüllte Gefäß dem Maire mit den Worten hin: „Trinken Sie, mein Herr, nur um die Soldaten zu besänftigen.“

Der Mann trank, der Officier schöpfte noch einmal und credenzte den Becher nochmals dem Haupte der Stadt, das ihn zum zweiten Male leerte. Erschöpft von Schrecken und Aufregung wankte der nach der festen Ueberzeugung der Soldaten vergiftete Bürgermeister von dannen, nachdem er noch den Befehl gegeben hatte, die verlangten Locale zu öffnen; nachdem er durch Trommelschlag hatte verkünden lassen, daß die Fenster des Ortes erleuchtet werden sollten. Und es wurde licht, aber die Colonnen mit Verwundeten wollten noch immer nicht enden. Die Nacht war frisch und mild und kühlte die brennenden Wunden. Da zugleich von den verschiedenen Sanitätsdetachements mehrere Aerzte eintrafen, so daß in jedem Locale gegen drei bis fünf in Thätigkeit sein konnten und da zuletzt auch die Lazarethgegenstände anlangten, so wurde Thiaucourt zum großen Verbandplatz nach der Schlacht von Mars la Tour. Generalarzt Dr. Löffler war bald in dem einen, bald in dem anderen Local, wo eine gefährliche Operation sich als nothwendig zeigte, immer persönlich bei der Hand und bei der That. Die Wunden waren zumeist Kopfwunden, theils Wunden am Oberarm, an letzterem war gerade die Linie getroffen, die Einer beim Anschlag nimmt. Viele Amputationen wurden nötig und welcher Heroismus im Schmerz der Wunden zeigte sich bei den Einzelnen!

Einem Gemeinen vom fünfunddreißigsten Regiment wurde der linke Oberarm amputirt. Als die Operation vorüber und der blutige Stumpf verbunden war, als die barmherzigen Schwestern ihn auf das weiche Lager niedergleiten ließen, öffneten sich noch seine Lippen, die bisher zu dem blutigen Werke stumm geblieben waren, aber nicht zu einer Klage darüber, daß er zeitlebens zum Krüppel geworden war, nein – seine mit matter Stimme gesprochenen Worte waren: „Ach, ich gäbe auch noch den andern Arm darum, wenn nur mein Hauptmann nicht gefallen wäre, mein guter, braver Hauptmann!“

Schließlich waren etwa vier- bis fünfhundert untergebracht – es wurde still, die meisten waren verbunden und gesättigt und der wohltätige Schlaf kam über sie. Aber immer noch keine Nachricht über den endgültigen Erfolg des Tages. Die Verwundeten waren vom Kampfplatze getragen worden, da die Schlacht noch im Gange war. Es war bereits Mitternacht, und der Prinz war immer noch nicht zurück. In der Wohnung, die für den hohen Herrn hergerichtet war, brannten die Lichter, waren die Tische für das Abendessen bereitet.

Die Dienerschaft stand harrend und sorgend unter dem offenen Eingange des Hauses, aufmerksam in die Nacht hinauslauschend, ob sich nicht der Hufschlag von Rossen hören lasse; aber selbst dem schärfsten Ohre war Nichts vernehmbar, Alles blieb still draußen und doch war es, als ob durch die Nacht ein schwerer Athemzug ginge. Sollte vielleicht das Entsetzliche geschehen sein, sollte die [615] schwierigste Aufgabe dieses Krieges, die mit allem Aufgebot geistiger und materieller Kräfte vorbereitet war, sollte der erste Schlag, den die zweite Armee zu führen hatte, sollte der mißglückt sein? Von welchen Zufälligkeiten, die aller Vorbereitung, aller Berechnung spotten, hängt nicht das Glück der Schlachten ab!

Ich war von den Anstrengungen des Tages todtmüde, aber konnte man mit solchen Gedanken, mit dieser Seelenbangniß überhaupt an Schlaf denken? Horch! Das sind Hufschläge – aber nicht von mehreren Pferden – nur von einem. Roß und Reiter kommen in Sicht der Mairielaterne, der Reiter ist eine Stabsordonnanz.

„Woher kommen Sie? Was bringen Sie für Nachrichten mit?“

„Gute. Die ersten Hiebe haben sie richtig empfangen, und die Quittung darüber durch ihren Rückzug ausgestellt. Wo ist die Wohnung für Seine königliche Hoheit?“

„Dort hinein, wo die Fenster erleuchtet sind. Wird der hohe Herr bald kommen?“

„Nein, ich soll melden, daß der Prinz diese Nacht in der Nähe des Schlachtfeldes bivouakirt.“

Schlaf sollte trotz der trostreichen Botschaft des Sieges aber doch nicht kommen. Ich hatte bei meiner Ankunft in Thiaucourt in meinem Quartier nur schnell mein Handgepäck abgelegt, ohne mich um die Quartiergeber, denen man sonst doch seinen Besuch zu machen pflegt, weiter zu bekümmern; nur das Haus hatte ich mir gemerkt. Als ich abgeklopft hatte und die Thür mir aufgethan worden war, kam mir eine weibliche Person, nicht mehr jung, und dem Aeußern nach zu schließen eine Wirthschafterin weinend entgegen. Auf meine Frage nach der Ursache ihrer Thränen, erzählte sie mir, daß ihr Herr, der Maire, schwer krank darniederliege; er sei vor einer Stunde todtenbleich nach Hause gekommen, habe sich sogleich zu Bette gelegt und befinde sich in einem Zustande, der sie Alles befürchten lasse. Nirgends sei ein Arzt aufzutreiben, selbst für den Maire von Thiaucourt nicht!

Sollten die Soldaten Recht gehabt, sollte sich der Maire selbst den Tod getrunken haben? Ich muß ganz aufrichtig gestehen, daß bei der mich überwältigenden Müdigkeit mir nicht der Gedanke kam, mich nach dem Manne umzusehen. Ich versank in einen Schlaf, der so gesund war, daß keine Träume kamen - leider nicht lange. Da dröhnte auch schon das Pflaster der Straße von den Batterieen, die über dasselbe hinwegrasselten, und dieses angenehme Wiegenlied, gesungen von der Artillerie des durchziehenden zwölften (sächsischen) Armeecorps, währte so zwei Stunden lang. Durch die Jalousieen meines Zimmers kam der erste Schimmer des Tages; draußen wurde stark an die Hausthür geklopft. Niemand öffnete. Das Pochen wurde stärker. Schnell warf ich meine Kleider über und ging hinaus, zu erfahren, was denn geschehen sei. Im Frühroth stand draußen ein sächsischer Officier, faßte mich kräftig am Arme und sagte in geläufigem, wenn auch vom Accent seines Landes angehauchtem Französisch: „En avant! Venez avec nous pour nous montrer le chemin pour aller à Metz!"

„Es thut mir unendlich leid, Herr Rittmeister, Ihnen in diesem Falle nicht dienen zu können, indem ich den Weg selbst nicht weiß.“

„Ah! pardon! ich sehe, daß ich mich geirrt habe, verzeihen Sie!“ – Der Officier ging ein Haus weiter, dort schien er mehr Glück zu haben, denn er kam aus demselben sehr bald mit einem Manne in der Blouse, einem Franzosen hervor.

Oh mes enfants – ma pauvre femme. Ayez pitié avec nous!" jammerte dieser.

Vous reviendrez à vos enfants – à vos – à votre femme." verbesserte sich der Officier in der Erinnerung, daß er in einem christlichen Staate sich befand, wo die Vielweiberei noch nicht gesetzlich ist.

Als wir an demselben Morgen Thiaucourt verließen, und ich nach dem Eßzimmer ging, um mein Frühstück zu nehmen, wer trat mir, um die Honneurs zu machen, entgegen? Der Herr Maire, frisch und gesund, nur noch ein wenig bleich und angegriffen von dem Schrecken durch die gestrigen Ereignisse.

Den Weg nach Metz! das sagt so ein junger Krieger so kurz weg, als ob dieser Weg so leicht wäre, als ob er nicht über Blutströme und über Leichenwälle führe.

Des andern Tages Nachmittags ging ich über das Schlachtfeld von Vionville. Die Sonne brannte heiß. In der Ferne sah man die Lazareth- und Johanniterwagen mit dem rothen Kreuz im weißen Fahnentuche und die Krankenträger-Compagnieen nach Verwundeten suchen. Sonst war es still auf dem Plane, auf welchem gestern um dieselbe Stunde unter Donnergebrüll der Geschütze und dem Kampfgeschrei erbitterter Feinde um die Siegesbraut gefreit wurde, – jetzt lag der Friede des Todes über der blutigen Wahlstatt.

Man brauchte keinen Wegweiser, man fand den Weg von selbst, wenn man den zerschossenen Helmen, den verstreuten Gewehren, den todten Pferden, den durch geplatzte Granaten aufgewühlten Erdschollen nachging. Da lagen die ersten Gefallenen – zuerst vereinzelt, gleichsam die Vorposten des Todes; dann weiter dichter und dichter. Die Nummern der Achselklappen an den zerschossenen Uniformen zeigten an, daß hier das Kampf- und Siegesfeld der brandenburgischen Regimenter war, und die dicht gesäeten Leichname, mit welch’ großen Verlusten dem Feinde jeder Vortheil abgerungen werden mußte, wie theuer jeder dem Feinde abgewonnene Fuß Erde dem Vaterlande geworden war. Da waren Officiere und Mannschaften treu vereint im Tode; wie sie es im Leben und im Kampfe waren. Einer von den Leuten des vierundsechszigsten Regimentes hielt sein Gewehr noch mit fast krampfhafter Energie an das Herz gedrückt; ein Anderer hat im Augenblick des Todes mit der einer Hand an die Stelle gefaßt, wo der Trauring angesteckt war – sein letzter Gedanke war Weib und Familie; wieder ein Anderer lag da, die Hände zum Gebet über der Brust gefaltet; er war betend im treuen Glauben eingegangen.

Die meisten Wunden sind Kopfwunden, geronnene Blutmassen bezeichnen die Stelle, wo der Lebensnerv getroffen und vernichtet wurde. Vielen ist die Kugel auch mitten durch die Brust gegangen, und der natürliche Instinct hat sie im Momente des Getroffenseins noch die Uniform aufreißen lassen, so daß man die kleine Wunde sieht, welche die Chassepot oder Mitrailleusenkugel getroffen hat. Die meisten Gefallenen liegen mit einer Armbewegung nach oben; sie rührt von dem Todeskampfe her. Unheimlich sind die weit offenstehenden, mit der Iris nach oben gerichteten Augen, gerade als hätten sie noch im Momente des Todes nach oben geschaut mit dem Gedanken: Sonne, willst du denn noch nicht sinken und diesem Tage ein Ende machen? O wie gerne möchte manche Liebeshand in der Heimath diese Augen zudrücken, manche Mutter, manche Braut, manche Gattin noch einen Kuß auf diese erkalteten Lippen drücken!

Im Ganzen machen unsere Truppen nicht den Entsetzen erregenden Eindruck, den man von den französischen Gefallenen bekommt. Die meisten sind von den preußischen Granaten zerrissen. Die französische Artillerie hat unseren Truppen verhältnismäßig wenig Schaden zugefügt; ihre Shrapnels sind schlecht; sie haben zwar eine hohe Flugbahn, einen hohen Aufsatz, aber sie crepiren meistentheils in der Luft, anstatt auf dem Boden. Von der Zielsicherheit und Treffkraft unserer Geschosse hingegen bekommt man durch die Reihen der französischen Gefallenen eine schreckenerregende Ueberzeugung. Schrecklich war der Anblick des französischen Lagers, das bei Flavigny von den Unseren genommen wurde, und der Schlucht, in welcher die französischen Garden wie niedergemäht lagen. In dem Lagerfelde war noch eine chaotische Wirrniß von den mannigfaltigsten Gegenständen militärischen Bedürfnisses anzutreffen; bunte grelle Uniformstücke, Sattelzeug, Zeltstücke, Tische, Stühle, Ueberbleibsel von Matratzen, Kochgeschirre, französische Soldbücher, Regiments-, Bataillonsbefehle und Briefe. Einen derselben hob ich auf, er war aus Toulouse datirt; von einer Dame geschrieben und die Anrede an den Adressaten lautete: „Pieux soldat!" Jedenfalls war es eine dame protectrice; denn die anderen Briefe, ganz sicher von jüngeren Damen geschrieben ergingen sich in einem weniger pathetischen, aber desto mehr vertraulichen Tone. Wie viel Herzen in der französischen Heimath mögen auf dem Felde von Flavigny und in den Schluchten von Rézonville ihr Glück, ihre Hoffnung, ihre Zukunft zu beweinen haben! Und doch war es ein Glück, daß ihnen der Anblick der verstümmelten Leiber erspart blieb! Den meisten Franzosen waren die Gliedmaßen durch unsere Schußwaffen zerschmettert, abgetrennt, die Häupter zerschossen, so daß die Gehirnmasse herausquoll, und die Leichname schwammen in einer Blutlache. Die Garden in ihren malerischen Uniformen lagen wie die alten römischen Fechter noch im Tode wie zu einer schönen Attitüde hingestreckt, während die Turcos und Zuaven ein wildes Durcheinander des Todes [616] bildeten, und im Gegensatz zu dem ruhigen befriedigten Todesausdruck unserer Gefallenen auf ihren verzerrten Mienen noch den wilden Haß, die brennende Leidenschaft und die blinde Wuth trugen, mit der sie im Leben gegen die Unseren ankämpften.

Ich ging weiter in der Richtung von Mars la Tour hin, wo das zehnte Armeecorps am Abend zur Unterstützung des gegen eine dreifache Uebermacht acht Stunden lang im Kampfe gestandenen dritten Corps in das Schicksal der Schlacht eingegriffen hatte in dem Momente, als ein neues intactes französisches Corps auf dem Kampfplatze zu erscheinen im Begriffe war. Eine Stellung auf der Höhe, welche die Franzosen inne hatten, und welche von den Unseren im Sturm genommen worden war, hatte viele, viele Opfer gekostet. Daß es an dieser Stelle Mann gegen Mann gegangen war, davon zeugte die reiche, schreckliche Todessaat, in der Franzosen und Preußen in letzter Gemeinschaft bunt durch einander lagen.

Mitten aus den dunkeln Infanterie-Uniformen schimmern grellrothe französische Uniformstücke hervor – und über den todten Körpern erheben sich noch Lebende, die suchenden Krankenträger anrufend. Aber diese nähern sich den Franzosen nur mit großer Vorsicht. „Warum?“ frug ich. Mehrere der Verwundeten hatten gestern noch auf sie geschossen. Nachdem sie sich versichert, daß jene keine Waffen mehr trugen, hoben sie dieselben in die Lazarethwagen. Sie fuhren weiter. „Dort drüben,“ deutete einer der Krankenträger auf eine etwa dreihundert Schritt entfernte Stelle, „dort liegen unsere Gardedragoner!“ Die beiden Regimenter hatten am gestrigen Tage und in einem entscheidenden Zeitpunkte eine glänzende Attaque in die rechte Flanke des Feindes gemacht, und diese glorreiche That mit der Hälfte ihrer Officiere und einem großen Theile der Mannschaften bezahlt. Der erste, den ich von Staub und Blut bedeckt am Boden liegen sah, war der Rittmeister v. Kleist, früher Adjutant des Prinzen Georg von Preußen, nicht weit davon lagen Prinz Reuß, Graf Wesdehlen, Graf Westarp und mehrere junge Officiere, von den Hyänen des Schlachtfeldes ihrer Werthsachen, ihrer Baarschaft bereits beraubt.

Es war mir aufgefallen, daß die Uniformen der gefallenen Officiere aufgerissen, in Unordnung waren; ich erkundigte mich bei den Krankenträgern nach der Ursache dieser auffallenden Erscheinung und erhielt auch von ihnen die bekannte, jedes Herz tief empörende Auskunft. Nicht nur Werthgegenstände reizen die Habsucht dieser Schakale, die beim Anbruch der Nacht aus den Dörfern, den Wäldern herangeschlichen kommen. Einem gefallenen Officier vom sechszehnten Infanterieregiment hatten sie sogar die Stiefel abgezogen. Nicht nur mit den Todten begnügt sich ihre scheußliche Raubsucht – nein, sogar die hülflosen Verwundeten werden von ihnen ausgeraubt. Und diese Cannibalen wollen Menschen genannt werden, sollen zu den Ebenbildern Gottes zählen? Blutgierige Bestien sind es, die von einem Thiere, einem Hunde tief, tief beschämt werden. Dort liegt ein gefallener Hauptmann vom sechszehnten Infanterieregiment – neben dem todten Herrn hält der treue Hund die Todtenwacht. Das Thier ist seinem Herrn in die Schlacht gefolgt, es will auch im Tode nicht von ihm weichen. Niemand, wie die Krankenträger versichern, darf dem Leichname sich nahen. Der Hund leckt dem Todten das Blut von der Wunde – er giebt sein Klagen um den todten Herrn durch Winseln den ganzen Tag laut. Niemand von allen denen, die dem Herzen des Todten einst lieb und theuer waren, nicht Vater und Mutter, nicht Weib und Kind können an seiner Leiche beten, sie sind fern, sie ahnen vielleicht noch nicht einmal die tiefe Herzenswunde, die ihnen geschlagen worden – und doch sollte der Tapfere in seinem letzten Augenblicke nicht allein sein, die Treue wird ihm bis in das Grab gehalten von einem Thiere, dem unser Menschenhochmuth keinen Gedanken, kaum eine Seele, nur einen Instinct zuerkennen will. Und mit diesem Sinnbilde der Treue will ich von einem Schlachtfelde scheiden, wo so Viele den letzten Schlaf schlafen und ihres Herzens Treue und Mannheit durch den Tod besiegelt haben.



Textdaten
<<< >>>
Autor: Georg Horn
Titel: Vierter Brief. Auf der Wahlstatt von Doncourt und St. Privat
aus: Die Gartenlaube 1870, Heft 40, S. 655-658
[655]
Vierter Brief. Auf der Wahlstatt von Doncourt und St. Privat.

„Haben Sie Madame Simon nicht gesehen?“ Mit dieser Frage trat am Morgen des 19. August in dem Dorfe Mars la Tour ein sächsischer Officier an meinen Wagen. Eigenthümliche Frage! Man ist an hundert Meilen von der Heimath, in feindlichem Lande; von einem von Blut noch rauchenden Schlachtfelde muß man schon wieder zu einem anderen eilen, wo gesunde Glieder, um überall mit anzupacken von großem Werthe sind, wo jede Minute Gewinn eine heilige Pflicht ist, und nun diese Frage: „Haben Sie Madame Simon nicht gesehen?“ Der Fragende muß wohl etwas von dem sonderbaren Eindrucke seiner Worte in meinen Mienen gesehen haben; denn er fügte alsbald seiner Frage die Worte bei: „Nun, Madame Simon aus Dresden, die mit dem sächsischen Johanniterdepôt hier sein soll?“

„Nein! Adieu!“

„Adieu!“

Als ich aus dem Dorfe hinausfuhr und die Straße nach Doncourt, St. Marie aux Chênes und St. Privat la Montagne einschlug, begegnete mir ein großer, offener, mit Stroh und Kisten bepackter Leiterwagen; mitten auf demselben thronte, gleichsam als unumschränkte Herrscherin, eine dicke Frau in den vierziger Jahren, mit rothem, vergnügten Gesichte, angethan mit einem dunkel carrirten Shawl und einem runden, dunklen Strohhut – die könnte man als Madame Simon aus Dresden taxiren, dachte ich mir in einer ironischen Anwandlung der Gedanken.

Ich kam nach Doncourt. Die enge Straße des kleinen Ortes war von einer dreifachen Colonne gestopft. Truppen und Wagen mit Proviant, die nach um das Schlachtfeld gelegenen Orten hingingen, und Wagen mit Verwundeten, die davon herkamen, machten sich die Passage streitig. Nachdem die Cernirung von Metz bereits in der Nacht vom Achtzehnten zum Neunzehnten, unmittelbar nach dem siegreichen Tage bei St. Privat und Gravelotte, beschlossen worden war, befanden sich die zu der Cernirungsarmee bestimmten Truppen bereits in Bewegung, um die Cantonnements um Metz herum zu beziehen; diese Truppen brauchten Lebensmittel, die Verwundeten, wenigstens die von leichten Verletzungen Getroffenen, brauchten Beförderungsmittel, um nur aus der Atmosphäre der Schlachtfelder zu kommen und der sicheren Heilung entgegenzugehen, aber in der Nähe des Kampfplatzes, im Andrängen der Massen, ist der Vorbereitung neuer militärischer Operationen war eine geordnete, ruhige Entwickelung, wie man sie in der preußischen Militärverwaltung gewohnt ist, nicht gut zu erreichen.

Welche Masse von Menschen, welche Bewegung, welches Fluthen, Wogen und Schwirren durcheinander! Dort vor dem Hauptquartiere des Prinzen Friedrich Karl stehen kriegsgefangene Franzosen, in den bunten, halb zerrissenen oder zerschossenen Uniformen so fröhlich und wohlgemuth dreinschauend, als wären sie die Sieger des gestrigen Tages, während unsere Landsleute ernst und bewegt auf die Züge der Verwundeten schauen, die noch immer nicht enden wollen, auf die schwer Blessirten, die vorläufig nach der Dorfkirche gebracht werden. Nach den Soldaten, die in Marschcolonnen durch das Dorf ziehen, streckt sich da und dort aus dem Stroh der Transportwagen ein Arm aus, mit dem Namensruf der Vorbeimarschirenden. Der Angerufene tritt aus dem Glied: „Herrgott – Du Junge bist’s! Na, haben sie Dich auch angekrepelt?“

„Es geht. Ich kann immer noch zufrieden sein – immer besser noch so, als draußen eingebuddelt zu werden, wie so Viele.“

„Hör’ ’mal – weißt Du nichts von meinem Bruder?“

„Todt!“

„Todt – so – so – hm – Na – Adieu – halt’ Dich wacker.“

Und der Soldat, der eben die Todesnachricht erhalten, tritt in das Glied zurück, und über seine Lippen, seine Züge zuckt etwas, was bisher in seinem deutschen Herzen geschlummert hat, was aber jetzt aus den klaffenden Wunden, aus dem Blute des Schlachtfeldes, aus dem Todesröcheln der Sterbenden aufgestiegen ist, wie ein Engel mit dunkeln Fittigen und dem Flammenschwerte – der Geist des Hasses und der Rache!

Ich fuhr das ganze Terrain der gestrigen Schlacht ab – Verneville – Amanvillers, wo das neunte Armeecorps unter General von Manstein mit wahrhaftem Heldenmuth den wüthenden Vorstößen des französischen Centrums von Morgens bis Nachmittags Stand gehalten hatte, wo die Artillerie dieses Corps im Verein mit der des dritten Corps die feindlichen Batterieen zum Schweigen gebracht hatte, nicht ohne bedeutende Verluste an Menschen und Pferden. An den Leichnamen der letzteren konnte man ganz deutlich die Linie erkennen, in welcher die Batterie aufgestellt war, und doch wurde wacker fortgefeuert – so leicht lassen die Holsteiner einmal nicht locker, und die ersten, die aufhörten, waren die Franzosen.

Von da ging es nach Montigny la Grange. In dem Orte fiel mir ein Haus auf, in dessen oberem Theile die Granaten recht anständige Oeffnungen gerissen hatten. Ein Mann in Blouse und Strohhut stand unter der Thür, mit den Anzeichen jener Apathie und Indolenz, welche die Verheerungen des Krieges über die Einwohnerschaft dieser Landestheile gebracht haben. Man muß sein weiches Herz für diese harte Zeit in einen Feldpostbrief packen und nach Hause schicken, hier kommt es Einem immer in die Quere und verrückt den Standpunkt, welcher in den Worten des ersten Napoleon ausgesprochen ist: Das ist der Krieg! Das einzige und praktische Hülfsmittel gegen alle Aufregungen des Herzens ist der Gedanke: Wie wären die Franzosen mit uns verfahren, wenn sie Sieger gewesen wären? Der Besitzer des Hauses und eines bedeutenden Anwesens erging sich, als ich mich mit ihm in ein Gespräch einließ, in eine Fluth von Klagen über den Krieg, von Verwünschungen über den Kaiser. Was kann man dabei anders thun, als die Achsel zucken und schweigen? Ich frug ihn am Ende seiner Klagen, woher der ungeheure Riß im Dache des Hauses käme. „Von einer preußische Granate,“ war seine Antwort. „Der Marschall Canrobert lag bei mir im Quartiere. Man hörte von Mittag an die Kanonen, und daß eine Schlacht im Gange wäre – thut Nichts. Das Diner für den Marschall war um drei Uhr angesagt, und der Marschall setzte sich zu Tische: Die Kanonade wurde stärker. Die Champagnerflaschen wurden eben in Eis gestellt – der Marschall wollte auf den Sieg trinken. Die Ordonnanzen kamen – der Marschall blieb bei Tische. ‚Ah bah, die Preußen sind nicht so schnell und unhöflich, sie lieben selbst den Champagner viel zu sehr, um einen Andern im Genusse desselben zu stören‘. Die Meldungen kamen, der rechte Flügel sei in Gefahr, angegriffen zu werden. ‚Eh bien, ich greife ihn selbst an – den rechten Flügel dieses Hühnerbratens,‘ versetzte er lachend, als die Schüssel und zugleich der Eiskübel mit dem Champagner gebracht wurde. Er hob die Flasche, goß ein Glas ein, hob dasselbe und sagte zu den Officieren, die mit ihm bei Tische saßen: ‚Also, meine Herren, auf den Sieg!‘ Da schlug die Granate in das Dach, und ohne einen Tropfen Wein getrunken zu haben, sprang der Marschall vom Tische auf.“

Wie anders unsere Heerführer! Wenn zum Beispiel Prinz Friedrich Karl zum blutigen Strauße ausgeritten ist, bleibt das einfache Mittagessen oft tief bis in die Nacht servirt, und der Siegeswein nach St. Privat – nach Vionville bivouakirte der Prinz – war saurer Landwein, der für die folgenden Tage aus Vorsicht erst zu einem Glühwein umgeschaffen wurde.

Von Montigny ging es nach St. Privat. Hier war das Todtenfeld der Franzosen. In Haufen lagen die Leichen umher; wo die Kämpfenden keine Deckungen durch Erde- oder Steinaufwürfe hatten, konnte man ganz deutlich die Tirailleurlinien sehen, wie sie von den Unseren, die ihnen auf dreihundert Schritt nahegekommen waren, niedergestreckt worden waren. Bis auf dreihundert Schritte an den Feind hinan – dann ist die Macht, ist der Zauber der Chassepots gebrochen, dann schaut das grause Antlitz des Todes den Feind an. So war es in St. Privat, wo die preußische Garde Schrecken und Vernichtung in die Reihen des Feindes brachte, und das Entsetzen und die Wuth darüber starrt Einem aus tausend und abertausend todten Franzosengesichtern entgegen. „Die Wacht am Rhein“ war das Kampflied der Garde geworden; unter dessen Klängen stürmten sie die Anhöhe hinan, das deutsche Lied war der Franzosen Grabgesang bei St. Privat.

[656] In dem Dorfe war kein Haus mehr, das unversehrt gewesen wäre. In der zunächst nach St. Marie zu gelegenen Reihe war jedes Ruine – ausgebrannt oder zerschossen. Von der Kirche, die gerade in der Schußlinie der Gardeartillerie lag, waren nur noch die nackten Mauern übrig geblieben, kein Fenster, keine Thür nicht hier noch an einem anderen Hause, nicht ganz und nicht halb vorhanden. Die leeren Fenster- und Thürluken machten den Eindruck wie blinde Augen in einem Menschenantlitze. Und das ganze Dorf ein einziges großes Lazareth – eine Jammerstätte der Menschheit – ein Golgatha der Civilisation. Kein Raum war in dem Dorfe von vielleicht siebenzig Häusern zu finden, der nicht mit Verwundeten angefüllt gewesen wäre; die Stuben, die Küchen, die Böden, die Scheunen, die Ställe waren zu Leidensstätten umgewandelt worden, und als zuletzt die bedeckten Räume bei dem immer neuen und immer massenhafteren Andrängen von Blut und Wunden nicht mehr ausreichten, wurden auf der Straße Strohlager ausgebreitet und die zerschossenen, von Anstrengung des Kampfes und Blutverlust erschöpften Soldaten so lange hier niedergelegt, bis anderweitig zu ihrer Unterbringung Platz geschaffen war. Deutsche und Franzosen lagen durcheinander. Das Blut erzeugt eine Gemeinschaft der Herzen, die allen Haß überwindet. Der größte Heroismus begann sich hier auf den Schmerzenslagern von Stroh zu zeigen.

„Nicht eine einzige Klage,“ so versicherte mich später einer unserer Aerzte, „hatte ich aus dem Munde eines einzigen Soldaten darüber gehört, daß er im Dienste des Vaterlandes vielleicht Siech für sein ganzes Leben geworden und nun hier fast hülflos, von Schmerz und Fieber heimgesucht, liegen müsse. Sie klagten zwar über die Schmerzen der Wunden aber ihr Gemüth blieb rein von jeder Verbitterung. Sie sahen auch recht wohl ein, daß die Sache im Augenblicke sich nicht anders bewältigen lasse, und ergaben sich darein. Manche hatten an sechsunddreißig Stunden unverbunden liegen müssen; das waren zwar nur Ausnahmen, aber diese waren da.“

Welchen Contrast dagegen boten die Verwundeten der Franzosen! Nicht alle, aber sehr viele ergingen sich in den entsetzlichsten Verwünschungen gegen den Kaiser, die Regierung, gegen Gott und Menschen.

Und wenn es nur allein die Schmerzen, die Wunden gewesen wären, wenn nur nicht ein Schmerz über die armen Soldaten gekommen wäre, der noch viel schwerer zu ertragen war – der Hunger – der Hunger! In dem ganzen Dorfe war nicht ein Stückchen Brod aufzutreiben; vorher hatten die Franzosen Alles weggenommen. Die Colonnen mit Proviant mußten in kürzester Zeit wohl herankommen, aber für den Augenblick that Hülfe Noth, um die Entkräfteten durch Speise aufzurichten die Schmachtenden zu laben. Die Aerzte waren in größter Sorge und Rathlosigkeit, wie gegen den grimmigsten aller Feinde, den Hunger, Hülfe zu schaffen war. Da stiegen an einer Stelle zwischen zwei zerschossenen Dorfhäusern Rauchwolken auf, und ein Duft begann allmählich sich zu verbreiten, der gegen den Brandgeruch, welcher die Atmosphäre erfüllte, nur um so kräftiger wirkte.

„Das riecht gerade,“ fragte einer der Lazarethärzte zu einem Collegen, „als ob hier in der Verwüstung wieder eine Herdstätte aufgerichtet wäre, auf welcher kräftige Bouillon gekocht wird.“

Und wirklich, da kamen schon dienende Wesen die Dorfstraße herab; in der Hand trugen die Einen dampfende Kessel, die Anderen Näpfe und Löffel von Blech, wieder Andere Brod.

„Madame Simon,“ trat der Anführer der anrückenden Colonne an den Arzt heran, „läßt Ihnen sagen, daß sie hier eingerückt sei und ihr Hauptquartier aufgeschlagen habe und daß Sie, Herr Stabsarzt, nur zu sagen brauchen, wie viele Portionen Sie für Ihre Verwundeten bedürfen; Frau Simon sagt, es muß geschafft werden.“

„Frau Simon aus Dresden hier? Gott sei Dank! Nun ist uns wenigstens nach dieser Richtung hin geholfen. Dachte ich mir’s doch, daß uns die wackere Frau nicht im Stiche lassen würde. Ich will gleich selbst zu ihr hin. Was ist in den Kesseln?“

„Kräftige Reissuppe mit kleinen Fleischportionen.“

„Vortrefflich! Geben Sie den Verwundeten einen dieser Blechnäpfe voll, nicht mehr – der Zustand der Leute macht Diät nothwendig – nur so viel, als zur Labung und Erhaltung der körperlichen Kraft nöthig ist. Ich bin sogleich wieder hier.“

„Wer ist diese Frau Simon?“ frug ich den Arzt begleitend.

„Die Vorsteherin eines Frauenvereins; den Namen des letzteren weiß ich nicht, thut auch nichts; aber Sie sehen, er wirkt in der That und die Vorsteherin an seiner Spitze am allerkräftigsten. Frau Simon ist mit einer wahrhaften Colonne von Material hier angekommen; sie dirigirt und leitet Alles; das ist eine Frau mit einer kräftigen Hand und festem Herzen, die überall da ist, wo man sie braucht, die Tausende unserer sogenannten Lazarethnäscherinnen aufwiegt. Da ist sie!“

Und richtig war es dieselbe, die ich heute Morgen auf dem Leiterwagen in Mars la Tour hatte einziehen sehen. Jetzt stand sie, wie ein Orchesterdirigent mit dem Stabe, mit dem Schöpflöffel hinter einer langen Reihe von brodelnden Kesseln, bald den Schaum von der Fleischbrühe abschöpfend, bald die Portionen austheilend; und je mehr der Arzt Portionen verlangte, desto fröhlicher wurde ihr Gesicht. Es wurde Alles geschafft, dafür ist sie die Frau Simon; und auf ihrem runden, freundlichen Gesichte lag ein sprechender Ausdruck jener werkthätigen Liebe, die nicht erst nach dem Seelenheile der armen Kranken fragt, sondern gleich das Feuer unter die Kessel legt, um ihnen Nahrung und Stärkung zu schaffen. Und welche Wohlthat hat sie ihnen erwiesen! Das müßte man sehen, wie die halb erstorbenen Lebensgeister beim Dufte gesunder Nahrung sich wieder belebten, wie die verwundeten Leiber sich aufrichteten und wie junge Vögel, die lange keine Atzung bekommen, die Lippen nach der lange entbehrten Erquickung ausstreckten. Und nicht nur für die Verwundeten in St. Privat, sondern auch für die in St. Marie schaffte sie noch dreihundert Portionen, die Dr. Bitterfeld durch die Diaconen der Colonne in Kesseln nach dem eine halbe Stunde entfernten Orte bringen ließ. Nun bat ich dieser seltenen Frau die ironische Stimmung, die ich ihr nach der Eingangsfrage entgegengebracht hatte, im Gedanken ab, denn nun begriff ich, wie Jedermann ein Recht hat, jeden und selbst den wildfremdesten Menschen zu fragen, ob er Frau Simon nicht gesehen habe.

Wenn nicht schon Chlum und Rosberitz 1866 den Beweis geliefert hätten, daß die preußische Garde keine Paradetruppe, sondern wahrhaft eine Elitetruppe ist, wenn es noch eines weiteren, blutigeren bedurft hätte – nun wohl denn, so hat diesen St. Marie aux Chênes und St. Privat geliefert. Die Straße nach ersterem Dorfe hinabgehend und an den Eingang desselben gelangend – begegnete ich einem Leichenzuge. Um eine Grabstätte rechts von der Straße stand preußische Infanterie; die näheren Abzeichen der Mannschaften, die weißen Litzen, die weißen Achselklappen und Knöpfe sagten, daß es das erste Garderegiment, das erste Infanterieregiment der preußischen Armee sei. Wenn man dieses Regiment mit seinen Leuten, von denen wenige unter sechs Fuß haben, in glänzendem Paradeanzuge mit den historischen Blechmützen Friedrich’s des Großen bei den Frühjahrsparaden in Potsdam gesehen hatte und wenn man es jetzt sah am Tage nach der Schlacht mit all’ den Spuren der blutigen Affaire! Das Regiment erwies seinem gefallenen Oberst und sechs Officieren die letzten militärischen Ehren. Unter den Klängen des Chorals „Jesus meine Zuversicht“ bewegte sich der Trauerzug mit den sieben Särgen der heldenmütigen Officiere zu den Gräbern, die in zwei Reihen gegraben waren. Nur wenige Cameraden, Vorgesetzte und Mannschaften, konnten das Grabesgeleite geben, die drei Handvoll Staub in die letzte Ruhestätte in fremder Erde nachzuwerfen; die meisten lagen an ihren Wunden darnieder. Wem sonst noch mit seinem Herzen, seinen Thränen und Klagen an diesen Gräbern ein Platz gebührt hätte, Gattinnen und Kinder, Eltern und Geschwister, sie waren Alle fern und vielleicht nur von einer bangen Ahnung dieser schmerzensvollen Stunde durchschauert. So entstand an diesem Tage auf der Wahlstatt von St. Privat ein Grab nach dem andern für die braven Officiere und die tapferen Mannschaften; und ein roh gezimmertes Kreuz erhob sich nach dem andern mit den Namen der darunter Ruhenden. Die preußische Garde-Infanterie, mit Ausnahme der dritten Infanteriebrigade, die bei Amanvillers gekämpft hat, hat ihr Feld des Sieges mit einem Feld der Gräber bezahlt. Die Todten der ersten Garde-Infanteriebrigade liegen beisammen, ebenso die der zweiten rechts und die der vierten links von der Straße. Die tapferen Sachsen, die mit Blut und Leben der Ihrigen den Lorbeer erstreiten halfen, liegen weiter oben bei Roncourt bestattet.

Einige Tage später fuhren zwei Wagen über die im Abendscheine ruhende Todesstatt. In dem ersten saß ein Herr und eine [657] Dame, aus dem folgenden wurde ein Sarg gefahren und befanden sich mehrere Arbeiter mit Werkzeugen zum Graben. Vor einem Grabe, an dem mehrere Kreuze aufgerichtet waren, wurde still gehalten. Der Herr und die Dame stiegen ab, auch die Arbeiter, die den Sarg abhoben. Die Dame, eine schlanke, mittelgroße Gestalt mit festem energischen Ausdruck und mit jenem unsagbaren Etwas in den Zügen, das ein bewegter, ungewöhnlicher Lebensgang in dieselben verzeichnet hat, Fürstin, Amerikanerin, und ihr Gemahl hatten vor mehreren Jahren durch ihre Schicksale viel von sich reden gemacht; sie waren durch dieselben mit in eine tragische Katastrophe jenseits des Oceans verwickelt, und waren die letzten und einzigen Treuen eines unglücklichen Fürsten, der jetzt in seinem Grabe gerächt ist. Die Dame ging langsamen, aber festen Schrittes auf das Grab zu und sank in stillem Gebet auf demselben nieder. Ihr Begleiter in Johanniteruniform – es war der in Heidelberg lebende, auch als Dichter rühmlichst bekannte Kammerherr v. Oertzen – nahte sich mit den Worten:

„Bestehen Durchlaucht wirklich darauf, dem traurigen Geschäfte beizuwohnen? Wäre es nicht besser für Sie, wenn Sie sich zurückzögen, bis die Arbeit geschehen ist?“

Mecklenburgische Grenadiere überschreiten die französische Grenze bei dem Wirthshause zur „goldenen Bremm“, früherem Hauptquartier des Generals Frossard, und begegnen den ersten Verwundeten aus der Schlacht von Speicheren.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.

„Haben Sie keine Sorge, ich bin gefaßt, ich habe soviel Gewalt über mich. Ich war gekommen, meinen Mann zu pflegen, und finde ihn im Grabe. Ich will ihn wenigstens noch einmal sehen und dann in diesem Sarge mit mir nehmen.“

Die Leute machten sich an die Arbeit, das Grab zu öffnen. Ein Sarg wurde emporgehoben, geöffnet – die Leiche des Majors Fürsten Salm lag darin. Seine Gemahlin trat an den Rand des Grabes, um hinabzusehen, und brach mit einem Aufschrei des Schmerzes zusammen. …

In St. Marie war eine Gruppe gefangener französischer Officiere, die alle ihre Ordensdecorationen trugen und sich aus ihren Koffern funkelnagelneue Uniformen genommen hatten. Es war irgend eine Differenz mit den Cavalleristen entstanden, von denen sie escortirt wurden, sie sprachen sämmtlich mit lebhaftesten Geberden zu den schweren Reitern aus Westphalen oder Pommerland, sie wollten es diesen recht verständlich machen, aber die Reiter hatten unglücklicherweise in ihrer Dorfschule nicht Französisch gelernt, sie hielten nur den Carabiner aufgesetzt – das war ihre deutliche Antwort. Zufällig ritt der Commandeur der Feldgensd’armerie, Oberst K., vorüber, ein Französischsprecher, vor dem der selige Teschier Respect gehabt hätte. Er ritt an den Wagen heran und glich die Sache zwischen den Franzosen und der Escorte aus. Schließlich stellte sich der höchstgestellte der Officiere ihm vor.

„Colonel H.“

„Ah, Herr Oberst, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ versetzte der deutsche Camerad. „Sie waren vor ungefähr drei Wochen in Rohrbach.“

„Ja, gewiß – in der Suite des General Frossard,“ antwortete nicht ohne Befremden der Franzose.

„Ganz recht; Sie logirten dort in einem Gasthause, wo zwei junge Mädchen die Aufwartung hatten.“

„O, zwei Brünetten, allerliebste kleine Geschöpfe – deliciös!“

„Ich stimme Ihnen vollkommen bei. Die Herren, General Frossard an der Spitze, waren auch in einer vortrefflichen Stimmung. [658] In heiterster Scherzesstimmung fragten Sie die jungen Damen, was sie denn von Berlin, wohin Sie nun gingen, mitgebracht haben wollten.“

„O, das war nur Scherz mit den beiden kleinen Schwätzerinnen,“ versetzte schnell abweisend der Oberst. „Ich erinnere mich der Sache wohl – nur Scherz, Spaß. Weiter nichts.“

„Ich nehme es auch für nichts weiter, Herr Oberst. Schlimm für uns, wenn es Ernst gewesen wäre; es ist besser so, wie es gekommen ist, nur darum erzähle ich Ihnen die kleine Geschichte auch. Sie erinnern sich auch wohl, was sich die beiden kleinen Mädchen wünschten?“

„Es ist mir nicht mehr so genau erinnerlich.“

„Nun gut, so will ich es Ihnen sagen: un joli petit Prussien wünschten sie vom General sich mitgebracht, obwohl ihm, dem Franzosen, im ersten Augenblick ein solches Gelüste nicht ganz schmeichelhaft klang. Dennoch hat er das gewünschte Versprechen gegeben. Es sei! Einen kleinen netten Preußen. ‚Aber,‘ sagte die eine, die ältere der beiden Brünetten, sich an der Schürze zupfend und durch die Zusage des Generals offenbar noch immer nicht befriedigt, ‚so vornehme Herren haben oft ein kurzes Gedächtniß – und uns ist an einem kleinen hübschen Preußen wirklich viel gelegen!‘ Komische Auffassung der Französinnen, uns gerade als klein aufzufassen und zu wünschen, da wir doch nicht klein zu kriegen sind. ‚Eh bien! Herr General,‘ fuhr das Mädchen fort, ‚wollen Sie es uns nicht schriftlich geben?‘ Die Herren Officiere brachen bei diesem seltsamen Verlangen in ein lautes Gelächter aus, waren aber in einer so vortrefflichen Laune, daß Papier, Feder und Tinte gebracht und das schriftliche Instrument aufgesetzt wurde: Nous soussignés – promettons à Mesdemoiselles So und So – rapporter un petit joli Prussien en revenant de Berlin. Auf deutsch: ‚Wir Unterzeichnete – versprechen den Fräulein So und So – ihnen bei unserer Rückkunft von Berlin einen kleinen, netten Preußen mitzubringen.‘ Nun kamen der Reihe nach die Namen der Herren mit dem des Generals Frossard an der Spitze – der vierte oder fünfte war der Ihrige, Herr Oberst –“ „Ah, mais non –“ „Verzeihen Sie, ich habe das Actenstück gesehen, und habe mich herzlich gefreut, daß die Sehnsucht Ihrer beiden reizenden Landsmänninnen nach einem netten, kleinen Preußen so rasch befriedigt worden ist. Adieu!“


Textdaten
<<< >>>
Autor: Georg Horn
Titel: Siebenter Brief. Der Abschied des Kaiserreichs
aus: Die Gartenlaube 1870, Heft 51, S. 856-859
[856]
Siebenter Brief. Der Abschied des Kaiserreichs.

In den Tagen, in welchen die verehrten Leser der Gartenlaube die Schilderung des bewegten Gehens und Kommens, der stillen Arbeit und der drängenden Geschäfte in den Räumen des Schlosses von Corny lasen, bekam dieser Artikel noch einen glänzenden Schlußsatz durch das Resultat, in dessen Vorbereitungen ich die Leser habe einen Blick werfen lassen, ein Resultat, dem man mit mathematischer Gewißheit mit jedem neuen Tag ein Stück näher kam, durch eine That von weitreichendster Bedeutung, durch die Capitulation von Metz.

Die Kriegsgeschichte kennt kein ähnliches Ereigniß, weder das Alterthum, noch die neuere Zeit. Jenes kannte einem besiegten oder gefangenen Heere gegenüber nur zwei Maßregeln, entweder ließ man die Besiegten über die Klinge springen oder durch das caudinische Joch gehen, und Beides war nur eine um so sicherere

[857]

Im Barackenlager vor Metz.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.

[858] Vernichtung. Was die neuere Geschichte von Uebergabe ganzer Armeen kennt, wie die der Schweden unter Karl dem Zwölften an die Russen, der Engländer in Nordamerika, der Sachsen an Friedrich den Großen; des Generals Fink an die Sachsen und Oesterreicher als Revanche für jene Capitulation bei Pirna, endlich die Capitulation des Generals Mack in Ulm – alle diese Fälle stehen zu dem Factum von Metz in einem liliputanischen Verhältniß, das heißt, der Zahl nach. Aber auch dann noch, wenn man den großen Unterschied zwischen der kolossalen Stärke der heutigen Armeen und der unendlich schwächeren vor hundert bis hundertfünfzig Jahren durch eine Multiplication dieser letzteren durch drei ausgleichen wollte, auch dann noch ergäbe sich kein Resultat, welches dem von Metz an die Seite treten könnte.

Am 27. October wurde im Schlosse von Corny von dem Höchstcommandirenden ein Tagesbefehl ausgegeben, worin es unter Anderm heißt:

„Die Forts werden morgen Mittag zwölf Uhr besetzt, jedes durch zwei Bataillone, einen Zug schwere Batterie ohne Munitionswagen, hundert Mann Artillerie mit zahlreichen Officieren und ein Pionnierdetachement. Zwei Stunden vor der Besetzung – also Vormittags zehn Uhr – sind seitens der vorgenannten Corps je ein Artillerieofficier mit einigen Unterofficieren, sowie ein Ingenieurofficier mit einigen Pionnierunterofficieren in die betreffenden Forts vorauszusenden, welche das Pulvermagazin übernehmen und etwaige Minenleitungen von rückwärts aufsuchen und zerstören.“

So ein einfacher Tagesbefehl an die einzelnen Armeecorps wird zu einem hochbedeutsamen Document der Geschichte. Diese paar Artillerie- und Ingenieurofficiere mit ihren Mannschaften hatten sich durch dieses Commando allein das eiserne Kreuz verdient. Sie waren die Ersten, die nach den Forts gingen mitten hinein unter Tausende und aber Tausene von Soldaten, die sich noch im Besitze ihrer Waffen befanden, deren Disciplin durch das lange Elend gelockert war und die in der Uebergabe der Festung eine Schmach für Frankreich sahen. Aber das Ereigniß von Laon hatte vorsichtig gemacht; ein anderer Befehl lautete: „die französische Besatzung bleibt so lange in den Forts, bis die erwähnte Untersuchung zu Ende ist.“ Geschieht etwas, dann trifft die französischen Truppen das gleiche Schicksal; hätte man den Preußen eine Luftfahrt durch irgend eine Minenexplosion zugedacht, so wären die Franzosen ohne Zweifel bei der Partie gewesen und mit in die Luft gegangen. Es ging aber Alles gut ab; die Officiere fanden keine Minen, auch kein Pulver; was davon nicht verschossen, war anstatt des Salzes verwandt worden; sie fanden nur geleerte Magazine, auch mit dem besten Fernrohr der Welt hätte man in denselben nicht eine Speckseite mehr entdecken können; die Kriegscasse war vorher unter die Officiere und Mannschaften vertheilt worden. Trotz alledem hatte dieses Commando für die Betreffenden seine Gefahren; es gehörte Muth und Entschlossenheit dazu, sie konnten unter Umständen hier einem viel sicherern Tode entgegengehen, als wenn sie unter dem Hagel der Kugeln und Granaten standen.

Denn daß die Generale nicht mehr Herren der Situation ihren Truppen gegenüber waren, bewies die Verschwörung, von der ich in meinem letzten Artikel sprach; diese bestand in der That. Als einige Tage vor der Capitulation in der Stadt ein Aufstand entstanden war, und der Festungscommandant demselben mit aller Energie begegnen wollte, verweigerten die Officiere und Mannschaften von ihrer Waffe Gebrauch zu machen.

„Ich war von Schreck erfüllt, als ich sah, mit wie wenigen Truppen die Preußen von den Forts Besitz nahmen,“ sagte einer der französischen Generale zu einem unserer Stabsofficiere.

„Warum? Glauben Sie, wir hätten Furcht?“

„O Pardon! Wir haben Sie in dieser Beziehung zur Genüge kennen gelernt. Nein, das nicht, aber wer hätte Ihnen dafür gestanden, daß die Verschwörer trotz aller Verträge, die gerade sie verabscheuten, in Anbetracht Ihrer Minderheit einen Handstreich versuchten? Glauben Sie mir, wir hatten alle Fäden der Verschwörung in der Hand, alle Corps waren darein verwickelt, nur nicht das Gardecorps, mit Ausnahme eines einzigen Oberstlieutenants. Wenn die Sache so ruhig abging, wie man es nur wünschen konnte, so war das nur in der Voraussicht der Verschworenen geschehen, daß Sie mit größeren Truppenmassen kommen würden. Und jetzt haben Sie Jene durch Ihren Muth verblüfft.“

Derselbe Officier, gegen welchen der Franzose diese Aeußerungen machte, hatte den Auftrag, „des Hauses Schlüssel“ zu verlangen. Der Maire der Stadt überlieferte ihm die Schlüssel zu den fünf Thoren der Stadt – frühere Jahrhunderte hatten dieselben geschmiedet, die Zeit hatte ihren ehrwürdigen Rost dazu gegeben. Um sie in der Tasche zu tragen, dazu waren sie ein wenig zu gewichtig, darum wurde für dieselben auch ein Etui gemacht, in diesem wurden sie dem Generalfeldmarschall Prinz Friedrich Karl übergeben. Gegenwärtig sind sie mit den Fahnen nach Berlin gesandt und dort in dem Zeughaus niedergelegt worden. Der Maire war bei der Uebergabe der Symbole des Besitzes der Stadt und Festung Metz so gerührt, daß Thränen ihm fast die Stimme erstickten.

„Ich begreife Ihren Schmerz, Herr Maire,“ sagte der erwähnte Officier, dessen Hände die Schlüssel empfingen, „und würdige ihn; in ihm drückt sich derselbe nationale Schmerz aus, wie unsere Großeltern ihn bei der Uebergabe von Magdeburg im Jahre 1806 empfunden haben. Mein alter Vater, erinnere ich mich, der als Officier Friedrich Wilhelm’s des Dritten in der Schlacht von Jena lebensgefährlich verwundet wurde, betrachtete bis zu seinem Tode den Tag der Uebergabe der Festung Magdeburg, der letzten Festung Preußens, als einen Tag stiller und tiefer Trauer. Die Königin Louise, die Märtyrin auf dem Throne, die Großmutter des Mannes, für den ich diese Schlüssel übernehme, ist am gebrochenen Herzen über den Fall Magdeburgs gestorben. Die Geschichte der Völker nimmt und giebt Revanche – ich nehme diese Schlüssel von Metz als eine Ausgleichung für Magdeburg.“

„O mein Herr – ich verstehe. Es bleibt mir nur noch übrig, für unsere arme Stadt, die schon so viel gelitten hat, um Schonung, um Rücksicht zu bitten.“

„Sie dürfen sich jedes Entgegenkommens unserer Seite für versichert halten.“

„Die Verhältnisse sind so schwierig – die Gährung der Bevölkerung unverkennbar. Man sagt sich nicht, wir sind besiegt - man sagt sich, wir sind verkauft –“

Der Officier zuckte die Achseln. „So lange man sich an einen solchen eiteln Vorwand festklammert, Herr Maire,“ sagte er, „so lange ist auch keine Rettung für Frankreich. Wir haben es uns 1806 gesagt, daß wir besiegt sind, wir haben an unsere Brust geschlagen und uns selbst angeklagt. Und das war der Anfang des Weges, der uns hierher geführt hat. Im Uebrigen hoffen wir, daß in der Stadt keinerlei Excesse vorfallen; von unserer Seite wird Alles gethan werden, um diesen vorzubeugen, thun Sie, mein Herr Maire, das Ihrige. Sagen Sie den Einwohnern, daß wir für alle Fälle vorgesehen sind – die Kanonen der Forts sind alle nach der Stadt gerichtet.“

„Wir wissen es, wir haben es gesehen,“ war die Antwort des Vorstandes der Stadtgemeinde, der sich damit entfernte.

An demselben Tage hatte derselbe Officier eine ähnliche Unterhandlung mit dem Festungscommandanten, dem General Coffinières. Die Fahnen und Standarten sollten herausgegeben werden. Der General machte erst Ausflüchte; es seien leider die meisten von den Soldaten verbrannt oder vernichtet worden; dann aber auf das Andringen des Beantragten und auf den Hinweis der Convention, daß keinerlei Kriegsmaterial der Vernichtung anheimgegeben werden dürfe, gab er die Auskunft, daß dieselben in dem und dem Zimmer des Arsenals in einem Burean verborgen seien. Er habe sie am Tage vor der Uebergabe den Regimentern abnehmen, mit einer Leinwandhülle umwickeln und sie dorthin stellen lassen. Er sei dabei von der stillen Hoffnung geleitet worden, daß man der Fahnen und Siegeszeichen der Armee vergessen und ihn der traurigen Nothwendigkeit überheben würde, dieselben zu überliefern. Man hätte sie später wohl gefunden.

Es waren sechsundfünfzig Fahnen und Standarten, Tricoloren, blau-weiß-roth, mit gelben Kronen, Lorbeerkränzen und dem Buchstaben N gar reich verziert. So sehr zersetzt manche auch waren, und wenn auch viele darunter in den Namen Marengo bis Solferino die Kriegsgeschichte Frankreichs vom ersten Napoleon an bis heute in goldenen Lettern trugen, so wäre es dennoch ungerechtfertigt, anzunehmen, daß dies wirklich die alten historischen Waffenzeichen Frankreichs wären. Diese sind längst dahin. Wie in jeder Armee, so werden auch in der französischen die Fahnen und Standarten nach einer gewissen Reihe von Jahren erneuert; so sind auch die in Metz vorgefundenen neueren Datums, aber neu geschmückt mit den [859] unvergeßlichen Namen der historischen Waffenthaten, welche die betreffenden Regimenter von dem Gründer des ersten Kaiserreichs an verrichtet haben.

Ich hätte nicht an Stelle des Generallieutenants von Kummer, des neuernannten Commandanten von Metz, sein mögen. Der sehr verdiente General, der sich mit seiner braven Landwehrdivision soviel unter den Mauern der Forts von Metz hatte herumschlagen müssen, war einer der ersten Preußen in der Stadt; er kam kurz nach dem Ausmarsche der Franzosen eingeritten, ehe noch unsere Bataillone einmarschirt waren, nur von einigen Adjutanten begleitet. In der Stadt waren fast nur französische Soldaten zu sehen, die sich auf den Straßen drängten. Die Einwohner wagten sich nur erst ganz vereinzelt hervor. Der ganze weite Hof vor dem Hôtel de l’Europe, das durch einen Vorgarten und ein Gitterthor von der Straße abgeschlossen ist, war von Officieren aller Waffengattungen und Grade angefüllt. Jeder von ihnen war in diesem Augenblicke nur mit drei Fragen beschäftigt: „Wie und wann komme ich aus Metz? Wo komme ich hin? Wie wird es mir dort gehen?“ Alle Bande der Cameradschaft, der Gemeinsamkeit waren zerrissen; der Egoismus, der durch den Krieg so sehr geschärft war, drängte sich in seiner unverhülltesten Gestalt hervor. Einer trachtete über die Leiche des Andern hinweg zu seinem Ziele zu gelangen – das war ein buntes Gewimmel, ein nervöses und zuckendes Bewegen, ein aufgeregtes und lautes Peroriren, eine gespannte Erwartung auf den neuen Commandanten, den General de Chagrin, wie mich ein Franzose nach ihm fragte. Wahrscheinlich hatte man diesem den Namen übersetzt.

Es waren an sechstausend Officiere, über fünfzig Generale und drei Marschälle, denen ihr Aufenthalt in Deutschland angewiesen werden mußte, und von diesen hatte jeder einen Lieblingswunsch und mancher sogar deren mehrere. Der Eine wollte nach Aachen, weil man dort noch Französisch spräche und er sich mit dem Deutschen nicht herumzuplagen brauche und weil Aachen nicht in Preußen läge; ein Anderer nach Stuttgart, weil dahin seine Frau und Kinder nicht so weit zu reisen brauchten und man dort nicht wie in Preußen Bier zu trinken brauche, ein Getränk, das er verabscheue; ein Dritter wünschte seinen Aufenthalt in Offenbach zu nehmen, weil das die Geburtsstadt „du charmant musicien“ sei und er doch Menschen zu finden hoffe, die ebenso amüsant seien wie die Melodien seines Lieblingscomponisten; nach Wiesbaden und Baden-Baden wünschten die Meisten dirigirt zu werden, Viele auch nach Frankfurt am Main, weil es dort viele reiche Leute und hübsche Mädchen gäbe; aber über die Mainlinie wollte so leicht Keiner, wenigstens verlangte kein Einziger nach Spandau gebracht zu werden; denn dieser Ort sowie Potsdam gilt den Franzosen als der Inbegriff aller „terreur prussienne“. Sollten aber wirklich Rothhosen dorthin gebracht werden, dann bin ich gewiß, sie werden diese „terre maudite“ so reizend finden und werden deren Bewohner so lieb gewinnen, daß sie sich dort niederlassen, Bürger werden und um Aufnahme in einen Gesangverein nachsuchen. Und doch Einer, ein langer, schlanker Mensch mit einem gelben Wachsteint, schwarzem Barte und großen unternehmenden Augen – wenn ich nicht irre, wurde er mir als Husarenofficier bezeichnet –, der wollte nach Stettin gebracht werden. Nun ist dieses Verlangen zwar nicht etwas so Besonderes; bei einem Franzosen jedoch mußte ein solcher Wunsch immerhin auffallen, und der Officier konnte sich auch nicht enthalten, dem jungen Franzosen sein Erstaunen zu äußern.

„Ich will arbeiten lernen,“ versetzte dieser, den Kopf stolz und energisch zuriickwerfend. „Ich will Kaufmann werden, mein Vater ist ein großer Grundbesitzer in der Nähe von Bordeaux, und ein Weinhändler aus Stettin kam in jedem Jahre, ihm die Ernte abzukaufen. Daher kenne ich den Namen Stettin und weiß, daß es ein großer Handelsplatz ist.“

„Mein Herr,“ versetzte der preußische Ossteier, „erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Hand reiche, das ist ehrenhaft, das flößt mir nach dem Meisten, was ich hier gehört habe, vor Ihnen die größte Achtung ein. Verlassen Sie sich darauf, Ihr Wunsch soll, soweit ich es vermag, berücksichtigt werden.“

Bekanntlich wurden die Marschälle auf ihren Wunsch nach Kassel dirigirt. Einem viel genannten General mußte erst von einem preußischen Officier die Reiseroute dahin auf der Karte nachgewiesen werden, und Ersterer freute sich ungemein, daß Kassel nur etwa eine Stunde von Wiesbaden liege.

„Bitte, mein General, von Wiesbaden fahren Sie noch etwa sechs Stunden auf der Bahn bis Kassel, so lange etwa, als Sie von Saarbrücken zurück nach Metz gebraucht haben.“

„Ah, mais non! Wie ist das möglich? Hier liegt es doch ganz nahe von Mainz.“

„Ja, wenn Sie Castel meinen, das wohl, aber Kassel und Castel – das ist zweierlei.“

Am ersten November konnte man auf dem Bahnhofe von Metz von zwei zu zwei Stunden die deutschen Schaffner die Züge für die abreisenden Marschälle, für die Generalcommandeure der Corps und der Divisionen ausrufen hören; die Namen waren eine Geschichte des zweiten Kaiserreichs Napoleon’s des Dritten. Der zweite December, der Krimkrieg, Italien, Cochinchina und Mexico – alle diese Erinnerungen wurden in der Bahnhofshalle von Metz von deutschen Zungen aufgerufen, und die Aufgerufenen traten auf die Einladung eines preußischen Stabsofficiers, des Oberst Kurth, auf den Perron und nahmen in den Waggons Platz.

Als der Zug abfahren sollte, kam ein Divisionsgeneral auf den genannten Officier zu und bat ihn, zu erlauben, daß zwei in tiefe Trauer gekleidete Damen auf dem Perron zugelassen würden. Die eine derselben war etwa fünfzig Jahre alt und zeigte jene Würde, welche älteren Damen aus der guten Gesellschaft Frankreichs eigen zu sein pflegt; die andere war jung, elegant und schön wie ein Traum des Paradieses; beide Damen zeigten unverkennbare Aehnlichkeit miteinander.

Es war die Marschallin Niel mit ihrer Tochter, einer Gräfin ***; die Mutter und die Tochter wollten dem Sohne, dem Bruder vor seiner Abreise noch Adieu sagen.

Die Gemahlin und die Tochter des Mannes, des einzigen in Frankreich, der vielleicht General Moltke’s ebenbürtiger Gegner gewesen wäre – hier an diesem Orte! Sie waren in einer Ambulance thätig gewesen und in Metz eingeschlossen worden. Da sie nach der Capitulation bei der alle Quartiere mit Officieren und Soldaten belegt wurden, keine Wohnung finden konnten, waren sie die ganze vergangene Nacht auf dem Straßentrottoir auf und nieder gegangen und vor Anstrengung und Hunger so erschöpft, daß Oberst Kurth den beiden Damen aus dem Vorrathe des Banquiers Wolf aus Hamburg, der mit einem Eiszuge nach Metz gekommen war, Wein und kaltes Fleisch holen mußte.

Die Marschälle von Frankreich scheinen allesammt junge, reizende Frauen zu haben; die Marschallin Mac Mahon ist eine allerliebste Erscheinung, ebenso rühmt man die Schönheit der Gemahlin Bazaine’s, auch die Marschallin Caurobert kann man eine schöne Frau nennen, sie war auf dem Bahnhofe, als der Zug ihres Gemahls abfuhr; es war eine Scene, die zu Thränen rühren konnte, wenn man sah, mit welcher innigen, zärtlichen Liebe der alternde Mann und diese blühende Frau aneinander hingen, wie tief der Schmerz der Trennung in Beider Herzen wurzelte.

In dem Augenblicke, wo der Zug sich in Bewegung setzen sollte, drängte sich ein Civilist durch die Menge, übergab dem Oberst Kurth einen Brief und war verschwunden. Der Empfänger öffnete den Brief und las:

„Lassen Sie den Zug nicht abgehen; man führt Böses gegen die Marschälle und Generale im Sinne; vor Nancy sind die Schienen aufgerissen.“

Wer war der Schreiber dieser Zeilen? Woher hatte er die Nachricht? Was hatte man gegen die Abreisenden vor? Wo war der Ueberbringer? Er war fort – verschwunden, und jetzt ertönte das Zeichen zur Abfahrt. Sollte man den Zug auf Grund dieser Zeilen nicht zurückhalten? Oder führte man gegen die Reisenden vielleicht in Metz noch etwas im Schilde – wollte man die Abreise absichtlich verzögern? Nein! der Zug soll gehen, aber der elektrische Funke soll ihm vorausfliegen und von Bahnhof zu Bahnhof die größte Vorsicht empfehlen. In zwei Stunden konnte der Zug in Nancy sein – bange Erwartung bis dahin, endlich nach drei Stunden kam eine Depesche zurück,, sie war aus Nancy und lautete: „Alles in Ordnung gewesen, kein Unfall!“ Die Abreise des zweiten Kaiserreichs aus Frankreich war also glücklich von Statten gegangen.