Vernünftige Gedanken einer Hausmutter (12)

Textdaten
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Autor: C. Michael
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Titel: Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
12. „Als der Großvater die Großmutter nahm.“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 688–690
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
12. „Als der Großvater die Großmutter nahm.“

„Als der Großvater die Großmutter nahm“ – wißt ihr, was Großvater da war? „Da war der Großvater Bräutigam,“ sagt das alte Lied, das uns in seinen zwei Zeilen mit ihrer charakteristischen Melodie ein treues Bild der oft besungenen und gepriesenen, oft aber auch getadelten „guten alten Zeit“ giebt. Er war „ein Bräutigam“, der Großvater, weiter nichts in diesem wichtigen Augenblicke. Er war nicht, wie die heutigen Bräutigame, zugleich Mitglied von zwanzig verschiedenen Clubs und Vereinen, hatte nicht, wie sie, außer seinem erwählten Berufe noch mehrere Nebenbeschäftigungen und Passionen, auch mußte er nicht, wie sie, das Geschäft des Heirathens in aller Eile abmachen, weil er den Einberufungsschein zur nächsten Reserveübung schon in der Tasche des Hochzeitsfracks trug.

Als Großvater die Großmutter nahm, war er ein solider, fleißiger junger Geschäftsmann. Er hatte seine acht Jahre Bürgerschule hinter sich, sowie vier Lehrjahre und die doppelte Anzahl von Wanderjahren; er hatte sich weit umgesehen in der Welt – bis nach Böhmen auf der einen Seite, bis an den Rhein auf der andern Seite war er gekommen, ehe er mit Ränzel und Wanderstabe langsam und bedächtig wieder eingezogen in die alte [689] Vaterstadt. Nach seiner Heimkehr hatte er sodann noch zwei Jahre unter den Augen des Vaters gearbeitet und diese Zeit benutzt, sich zugleich unter den Mädchen umzuschauen, die, als er fortgezogen war, noch lustig am Rinnstein gespielt hatten.

Eine davon hatte er bald als die „Rechte“ erkannt, und der Vater hatte seine Wahl gebilligt. Wohlbedächtig war die Sache hin und wieder besprochen worden, bei mancher Sonntagspfeife und manchem kühlen Abendtrunk, ehe man sich dahin geeinigt, daß der Vater sich „zur Ruhe“ setzen und dem jungen Mann sein Geschäft übergeben würde. Genau hatten die beiderseitigen Eltern erwogen und abgeschätzt, auf welcher Basis der neue Hausstand zu begründen sei, und dieser Grund ward endlich allseitig als ein zuverlässig sicherer erkannt. So war denn nach und nach Alles fertig geworden.

Kein Fädchen mehr fehlt jetzt an der selbstgesponnenen, selbstgenähten und gebleichten Wäsche der Braut; neu getüncht und gedielt glänzt die alte Wohnstube dem Empfang der fünften Generation desselben Namens festlich entgegen, und das Elternpaar, welches sie heute verläßt, sieht noch stramm und rüstig aus, daß man wohl ahnt, wie tüchtig Beide den jungen Leuten noch manches Jahr unter die Arme greifen werden mit erprobtem Rath und kräftiger That.

Im Vollgefühle seiner Jugendkraft steht nun der achtundzwanzigjährige Mann an der Stelle, zu der er sicher und stetig vorgeschritten ist von Jahr zu Jahr. Er tritt mit dem Bewußtsein an den Altar, daß dieser Tag ihm von Gott gemacht ist, nicht früher und nicht später, als es eben bestimmt war. Haben doch auch Vater und Großvater in demselben Alter ihren Hausstand gegründet.

So steht unser Großvater am Altare, vom Wirbel bis zur Sohle, von innen und außen – ein Bräutigam!

Wenn er aber an seinem Ehrentage nicht nur pietätsvoll zurück schaute auf Vater und Vatersvater, sondern auch hoffnungsvoll vorwärts blickte auf Sohn und Enkel, wünschend, sie möchten es ihm in allen Stücken nachthun, so war diese Hoffnung eine sehr irrige.

Sein Enkel! Du lieber Gott – wie der in hastiger Eile seine weißen Handschuhe überstreift, ungeduldig in der eleganten Garçonwohnung auf- und niederschreitend, weil das vor zwei Stunden bestellte Brautbouquet noch immer nicht eintreffen will! Wie er dabei noch einmal alle Fächer seines Schreibtisches mustert, ob er auch kein verdächtiges Andenken an die Junggesellenzeit zu vernichten vergessen hat; wie er ärgerlich auf den Boden stampft bei der Entdeckung, daß die Hochzeitsreise gerade in die Tage des interessantesten Rennens fällt und in den Beginn der Jagdsaison; wie er dann endlich – während alle diese Fragen in seinem Kopfe spuken – in der kahlen Stube des Standesbeamten steht, die Feder in dessen beschmutztes Tintenfaß taucht und einen unleserlichen Namen hinkritzelt, darauf der wandelnden Atlasschleppe an seiner Seite den Arm bietet, um mit ihr zum Diner in das erste Restaurant der Stadt zu fahren – „zwanzig Mark das Couvert, ohne den Wein,“ erzählt der Schwiegerpapa in lautem Flüstertone seinem Nachbar – wie dann die kostbaren Gerichte eilig hinabgewürgt werden, weil man sich etwas verspätet hat und das junge Paar den Schnellzug nicht versäumen darf – wie nun endlich die Stunde des Abschiedes da ist und der Bräutigam ängstlich alle Schachteln und Taschen des Gepäckes überzählt und die Trinkgelder vertheilt – ach, dieser Enkel unseres Großvaters ist wohl alles Andere mehr, als: ein Bräutigam!

Von der Großmutter sagt unser altes Liedchen nur, daß Großvater sie „nahm“. Es war dies auch jedenfalls das einzig Erhebliche und Wichtige in ihrem Leben, aber doch steht auch ihre Gestalt, wie sie an den Altar getreten ist, gar lebendig vor unserer Seele!

Mit züchtig niedergeschlagenem Blicke, das Gebetbuch und das Rosmarinsträußchen zwischen den Fingern, das hohe, spitze Myrthenkrönchen auf dem festgeflochtenen Haare steht sie da, den einzigen Wunsch im hochklopfenden Busen, diesem ihrem Bräutigam eine brave, treue, gehorsame Hausfrau zu werden.

Wenn ihr aber etwa glaubt, die Eitelkeit ist eine neue Erfindung, so täuscht ihr euch sehr, liebe Leserinnen. Auch Großvaters Braut ist eitel. Da hebt sie beim Einsteigen in die hohe, altmodische, gelbe Kutsche den Saum des Rockes, damit die Nebenstehenden ihre feinen, selbstgestrickten Zwickelstrümpfe bewundern können. Auch das Taschentuch mit dem breiten, kunstvollen Hohlnähtelsaum hält sie nicht umsonst beim Hochzeitstanze so langflatternd vor sich hin. Sie hat ja schier drei Wochen lang daran genäht; also muß sie es doch auch ein bischen bewundern lassen. Mit Stolz denkt sie an die wohlgefüllten Leinwandtruhen, die man bereits in ihr neues Heim hinübergefahren hat, an die hochgethürmten Betten, deren Federn – jede einzeln – Mutter und Großmutter selbst geschlissen haben.

Ja, ihr mögt sagen, was ihr wollt, meine lieben, jungen Bräute, die ihr im nächsten Geschäfte die ganze Ausstattung für so und so viel tausend Mark gleich fix und fertig bestellt, es ist doch etwas Anderes um diejenige unserer Großmutter gewesen!

Ist ein modernes Paar unserer Tage vermählt und abgereist, so geht man meist erst an das Einrichten seiner Wohnung. Da hämmern Tapezierer und Tischler; ein lieblicher Duft von Oelfarben und Firniß durchzieht alle Räume, ja sogar Schneider und Wäscherin kommen wohl jetzt erst mit ihren verspäteten Lieferungen.

Was Wunder, wenn das Paar bei der Heimkehr feuchte Wände und nur halb getrocknete Fußböden findet, wenn alle Stuben nur halb möblirt sind – es ist ja dies Alles erst sechs Wochen vor der Hochzeit bestellt worden! Wie ungemüthlich wäre „Großvatern“ der Einzug in solch ein halbfertiges Haus gewesen! Seinen Enkel freilich stört es weniger; denn der ist ja ohnedem nur selten zu Hause. Am Tage halten ihn seine Geschäfte fern und des Abends Zusammenkünfte aller Art, die unter den verschiedensten Benennungen seine freien Stunden ausfüllen. Seine Jugendjahre sind an ihm vorübergeeilt, ohne daß er zu sagen vermag, wo sie geblieben sind. Selbstredend hat er studirt; denn sein Vater wollte aus ihm etwas Besseres machen, als einen einfachen Bürgersmann. Welcher von unseren Professionisten denkt heutzutage noch daran, seinem Sohne den „goldenen“ Boden des Handwerkes zu vererben?

„Mein Sohn muß etwas Besseres werden,“ heißt die Losung, und man hält Umfrage, in welchem der bestehenden Institute diese „bessere“ Erziehung am schnellsten zu Stande gebracht wird, und wenn die Dressur nicht rasch genug von Statten geht, wenn dem Sohne, der vielleicht ein vorzüglicher Tischler oder Schlosser, ein ausgezeichneter Kaufmann oder Oekonom geworden wäre, das Griechische nicht in den Kopf will, so trägt natürlich die Schule die Schuld daran. Man wechselt also. Man springt vom Gymnasium zur Realschule, von dieser zur Handels- oder Gewerbeschule über und sucht schließlich noch sein Heil in einer der vielen „Pressen“, die sich in jeder Zeitung rühmen, binnen drei Monaten oder in noch kürzerer Frist Freiwillige „zum Examen“ zu drillen. Nun ist das „Rechte“ gefunden. Freilich kostet es schmählich viel Geld, aber was schadet’s? „Time is money!“ – Zeit ist Geld, es sind ja dabei fast zwei Jahre Zeit erspart worden.

Mit einem Wuste von halb verstandenen und gänzlich unverdauten Kenntnissen im Kopfe, mit bleichen Wangen und kurzsichtig blöden Augen, aber – das Reifezeugniß in der Tasche, geht Großvaters Enkel aus der „Presse“ hervor und steckt sich in den bunten Rock. Jetzt kommt eine böse Zeit für die gesparten alten Silberthaler Großväterchens. Der junge Freiwillige versteht es meisterhaft, sie auf noble Art los zu werden. Wohl ärgert sich der Vater oft beim Eingehen der kolossalen Rechnungen, aber er freut sich doch auch wieder, wenn sein Sohn gerade so reiten, gerade so tanzen, schwadroniren, wetten und – fluchen kann, wie seine Vorgesetzten. Er blickt mit einer Art scheuen Staunens zu dem vornehmen Sohne empor und zieht seufzend, aber geduldig, immer wieder den Beutel.

Von dem ruhigen, naturgemäßen „Werdenlassen“ früherer Tage weiß unsere Zeit der Dampfeseile nichts mehr. Mit vierzehn Jahren lesen die Kinder Romane; bald darauf fangen sie an, selbst welche zu spielen, und dann geht die tolle Jagd, der athemlose Wettlauf weiter. Alles strebt nach fernen Zielen und flattert, dieselben nie erreichend, unbeständig hin und her. So wenig wie Knabe und Mädchen das stille friedliche Glück der Kindheit genossen haben, just so wenig genießen Jüngling und Jungfrau die herrliche Jugendzeit, und der reife Mann zersplittert erst recht seine Kraft in hundert verschiedenen Aufgaben.

Beständig vorwärts hastend, um seinen Nebenmenschen zu überflügeln, weiß er nichts vom ruhigen Genusse der Gegenwart; denn kaum hat er das eine Ziel erreicht, so ringt er schon wieder athemlos nach einem anderen. Niemand widmet einem Fache, [690] einem Lebensberufe seine ganze Kraft und bildet sich gründlich dafür aus. Verlangt doch unsere Zeit vor Allem Vielseitigkeit und zuckt spöttisch die Achseln über die Gründlichkeit der alten Tage von Anno dazumal, wo noch der Gelehrte nur Gelehrter war, der Soldat nur Soldat, der Professionist nicht auf der Geschwornen-Liste stand und der Künstler nicht nebenbei auch als Kaufmann speculirte.

Jetzt ist das anders geworden; jetzt muß Jeder – Alles sein, wenn er im großen Kampfe um’s Dasein nicht unterliegen, wenn er sich im ewigen Wettlauf nach Ruhm und Gewinn in den ersten Reihen behaupten will. Wehe dem Oekonomen, der nicht Chemiker, Kaufmann, Politiker ist! Er kommt gar bald unter den Schlitten. Um aber in gesellschaftlicher Beziehung zu bestehen, muß er auch noch Schöngeist und feiner Weltmann sein; er muß wenigstens eine Art von Sport cultiviren, Reisen gemacht und Alles gesehen haben, was es mindestens in Europa Sehenswerthes giebt.

Ich bitte euch, wie soll ein Menschenleben zu alledem ausreichen? Es reicht auch in Wahrheit nicht aus dazu. Deshalb die Oberflächlichkeit in Allem, und das ängstliche, unaufhörliche Hasten. Wir lesen in einem alten Buche: „Um Italiens Schätze mit Verstand zu genießen, bedürfe es eigentlich eines ganzen Menschenlebens. Die Jugend, sich durch Studien darauf vorzubereiten, die reifen Jahre, um das Wunderland zu schauen, und das Alter, um es zu beschreiben und in der Erinnerung daran zu schwelgen!“

Wie aber reist man in unseren Tagen nach Italien?

Man entschließt sich heute zur Reise, nimmt morgen ein Rundreisebillet oder schließt sich einem Vergnügungszuge an, der übermorgen abdampft. In vier Wochen ist man wieder daheim, hat Florenz, Rom und Neapel gesehen und weiß davon ebenso klug mit zu schwatzen, wie all die Anderen auch.

Wer liest heute ein gutes Buch so wie wir Alten zu unserer Zeit? Wohl sehr Wenige! Man durchfliegt Bücher und Zeitschriften, um von ihnen ebenso sagen zu können: „Ich habe sie gelesen,“ wie man von Italien sagt: „Ich habe es gesehen.“ Wie wollte man denn auch sonst allwöchentlich mit etlichen zwanzig Zeitschriften, einigen neuen Romanen und so vielen Zeitungen fertig werden?

Lächelnd erinnere ich mich der Zeit, wo ich Monate lang über einem Walter Scott’schen Roman las und denselben dann beim Spaziergang fast wörtlich getreu den jüngeren Geschwistern wieder erzählte!

Damals – ja damals lebte man wirklich mit diesem „Ivanhoe“ und „Richard“ während der Zeit, wo man sie las. Die jungen Frauen tauften ihre Kinder mit dem Namen ihres Lieblingshelden, die Mädchen träumten sich während des eifrigen Nähens und Strickens in die schottischen Königsgemächer und gaben sich gegenseitig scherzend die Namen der betreffenden Burgfräulein.

Wie viel Kinder hätten wir heute zu taufen, wenn wir in ihnen alle Namen verewigen wollten, die jede Woche an uns vorüber huschen! Kaum daß hier und da eine besonders pikante oder originelle Scene haften bleibt im Gedächtniß, kaum daß man sich im nächsten Jahr noch der Titel jener Bücher erinnert, die man in diesem gelesen hat – von Liebe zu einem schönen Buch kann nicht mehr die Rede sein. Es ist aber, als ob mit der Anhänglichkeit und Liebe zu den Dingen auch die zu den Personen uns mehr oder weniger abhanden gekommen wäre.

Das Kind unserer Tage besitzt ein Dutzend Puppen und Püppchen von der verschiedensten Art und bekommt alle Weihnachten wieder neue dazu. Unmöglich kann es diese bunte Schaar so lieben, wie wir unsere einzige Puppe mit dem gemalten Holzkopf und den schwarzen Korkzieherlocken geliebt haben. – Ob auch die Farben ihres Gesichtes längst in übel angebrachtem Eifer abgewaschen oder in übergroßer Zärtlichkeit ab – geküßt waren, doch wurde das steife Ding jeden Abend ausgezogen und in sein weißes Bettchen gelegt, am Morgen aber sorgfältigst wieder angekleidet, um auf unserm Schooß die süße warme Milch mit aus unserm Glase zu trinken; von keinem Leckerbissen vergaßen wir, der geliebten alten Puppe den ersten Bissen zu geben, aber wehe dem übermüthigen Bruder, der es gewagt hätte, den Liebling unseres kleinen Herzens zu schmähen!

So wuchs die Liebe und Anhänglichkeit groß in unserem Herzen und erstreckte sich später auch auf die wenigen Schulfreundinnen, mit welchen wir unzertrennlich verbunden blieben, nicht nur auf der Schulbank, sondern auch weiter hin, bis an den Rand des Grabes. Jetzt, wo ein Kind ein Dutzend Puppen hat und, bei dem häufigen Wechsel von Wohnort und Schule, noch viel mehr Gespielinnen, jetzt kann solch tiefe, mit uns groß gewachsene Anhänglichkeit und Treue nur schwer noch im Kinderherzen Wurzel fassen. Schnell vergißt es die zerbrochene Puppe über der glänzenden neuen, die alte Gespielin über der neuen; schnell vergißt es, heranwachsend, auch alle die Lieben, von welchen es zeitweilig oder durch den Tod geschieden wird.

Wir haben keine Zeit mehr, um geliebte Todte zu trauern, wie ehedem. Immer vorwärts geht das tolle Jagen, wie in der Feldschlacht, über die Opfer hinweg, für die man kaum noch einen kurzen Blick des Bedauerns hat. Es mag eine altmodische Ansicht sein, aber mich dünkt, als sei unser ganzes jetziges Leben zu reich, zu wechselnd, zu mannigfaltig geworden. Vielleicht gewinnt das Menschengeschlecht im großen Ganzen dadurch, aber jeder Einzelne verliert entschieden durch diese Ueberladung.

Um noch einmal auf die Kinder der alten Zeit zurückzukommen: mit welchem Vergnügen lasen wir damals unser einziges Buch wieder und immer wieder, bis wir es wörtlich auswendig wußten, um es dann – erst recht noch einmal zu lesen!

Ich besitze noch ein paar solch alter Bücher, die ich geliebt habe wie lebende Wesen. Waren ja doch auch alle Personen, von denen sie handelten, mir wirkliche Menschen, denen im Leben einmal zu begegnen, ich beständig hoffte. Ich frage euch alle, ihr Groß- und Urgroßmütter, steht der alte Campe nicht lebendig vor eurer Erinnerung? Oder sitzt er nicht vielmehr lebendig da, unter dem Apfelbaume, den „Robinson“ erzählend?

Welches von unsern Enkelkindern hat irgend ein Buch aus seiner reichen, schön ausgestatteten Bibliothek so lieb und kennt es so genau, wie wir den „Robinson“, „die Kinderbibliothek“ und „die Entdeckung von Amerika“? Welches Kind weint heiße Thränen über das Schicksal seiner Bücherhelden, wie wir sie geweint haben? – Das Alles ist versunken und verklungen mit der alten guten Zeit.

Das schöne Spielzeug aller Art, womit wir unsere Kinder so überladen, daß sie es weder in Ordnung zu halten, noch es lieb zu haben vermögen, ist eine würdige Vorbereitung für ein Leben, das ihnen auch so viel und Vielerlei bieten, auferlegen und zumuthen wird, daß es nur wie ein beängstigender, nebelhafter Traum an ihnen vorüber gleitet, ohne sie je zu voller Erkenntniß, zu innigem Verständniß, zu ruhigem Genusse gelangen zu lassen.

Wir erziehen, ohne es zu wollen, schon unsere Kinder dazu, in hastiger Eile über diese schöne herrliche Erdenwelt fortzujagen, die doch wahrlich verdiente, etwas näher besehen zu werden!

Das Kind der alten Zeit durfte sich ausspielen, der Jüngling sich auslernen; Mann und Frau genossen in vollen Zügen die Freuden des Familienlebens und begnügten sich mit der Erfüllung ihrer Berufs- und Elternpflichten; das Alter ruhte behaglich aus auf den Lorbeeren seiner Thätigkeit und nützte seine Erfahrungen noch reichlich in belehrenden Erzählungen und weisen Rathschlägen für die heranwachsende Generation. Es gönnte aber auch dieser nachfolgenden Generation ihren Antheil und verlangte nicht, selbst mit zu ringen und zu kämpfen, mit zu laufen und zu jagen bis zum letzten Athemzuge.

„Großvater“, der meinige zum Beispiel, war nicht nur ein echter Bräutigam, als er „Großmutter nahm“, er war auch ein seelenvolles Kind, da er im väterlichen Garten seine Drachen steigen ließ; er war ein fleißiger tüchtiger Student, und genoß die wenigen, aber schönen Reisen, die er zur Ferienzeit, größtentheils zu Fuß, mit Ränzel und Wanderstab, unternehmen durfte, in vollen Zügen. Er lebte sodann mit Leib und Seele für seinen Beruf und seine Familie und brachte schließlich sein heiter ruhiges, beschauliches Alter in ungetrübter Geistesfrische auf fünfundachtzig Jahre. Bis zum letzten Lebenstage mild, heiter und freundlich, theilte er seine Zeit zwischen den geliebten Bücherschätzen und den geliebten Kindern. Die letzteren meinten freilich zuweilen, dabei ein bischen zu kurz zu kommen, aber die Bücher waren ja auch Großvaters älteste Freunde, so mußte man ihnen schon den Vorrang gönnen. – So hat Großvater sich Zeit genommen, zu leben, wirklich zu leben, und jedem einzelnen Lebensabschnitt sein volles Recht zu geben; er nahm sich auch Zeit dazu, sanft und friedlich einzuschlummern – wer weiß, vielleicht zu einem schönen Erwachen dort oben, wo wir wohl gar Rechenschaft abzulegen haben werden von der Verwendung oder Verschwendung unseres Erdenlebens!