Unter den Tropen (2)
Unter den Tropen.[1]
Es ist eine Anzahl Jahre her. Ich befand mich zur Zeit in Surakarta, Hauptstadt des Kaiserreichs Solo – Surakarta Adining-rat, der Welt Ruhm und Stolz, wie die Javanen in ihrer blumen- und sinnreichen Sprache sie nennen, als mich am frühesten Morgen schon heitere Musik von der Straße her weckte. Rasch erhebe ich mich vom Lager und verlasse meine Wohnung. Die ganze Stadt trägt ein festliches Gepräge. Zahllose Gamellans, die beliebte nationale Musik der Javanen, lassen allerorten ihre fröhliche Weise ertönen und begrüßen munter, im schnellen Tempo, mit ihrem reinen vollen Metallklange weithin schallend, den anbrechenden Tag. Endlose Laubfestons, deren graziöse Bogenwindungen an buntbemalten Lanzenschäften befestigt sind, fassen die Hauptstraßen zu beiden Seiten ein, geschmackvoll aus schlanken Bambus errichtete, mit grünen Palmblättern und rothen Daluwangzweigen malerisch decorirte Ehrenpforten schmücken den Eingang des Vorhofs zum Residenz-Hôtel, und die Fähnlein der en haie aufgestellten Pikenträger flattern zu vielen Tausenden im Winde. Das Gewühl auf den Straßen wird lebhafter und immer lebhafter. In Gruppen zu zehn, zwölfen schreiten sie dahin, beherzte Männer, mit freudestrahlenden Augen, die lange Lanze in der Faust. Dann wieder ist’s ein Haufe Frauen, umringt und gefolgt von ganzen Schaaren fröhlicher Kindergesichter. Alle haben sie sich herausgeputzt, und stammt ihr Sonntagsstaat auch nicht aus den Pariser Modemagazinen, es ist eine Freude, wie reinlich, wie sauber der einfache Anzug ist und kleidsam. Das rabenschwarze Haar ganz glatt gekämmt und in der eigenthümlichen Landesfrisur als Sangul den Nacken bedeckend, um den sich ein duftender Kranz von Melati- oder Tandjung-Blumen windet.
Meilenweit sind die Bewohner aus der Umgegend herbeigeeilt. Wie die Wellen des Meeres wogt es in den breiten Straßen, Aller Gedanken concentriren sich auf einen Punkt, es ist nur ein Gedanke, welcher Groß wie Klein beschäftigt und dieser Gedanke findet seinen Ausdruck in der fieberhaften Erregung, womit aus aller Munde das Wort Rampok! rampok! ertönt. Und wirklich, ein Tigergefecht – rampok – das ist ein fürstliches Vergnügen, ein Schauspiel, welches man nur noch am Hofe der Fürsten in Solo oder Djokjo erlebt, das Größte, das Interessanteste der nationalen Volksbelustigungen der Javanen.
Wir folgen dem wogenden Menschenstrom. Er führt uns nach wenigen Minuten hin zu einem breiten, im modernen Stil erbauten Thor. Vor uns liegt ein weiter Platz, die Alun-Alun genannt, in Größe dem Pariser Champ de Mars so ziemlich gleich. An den vier Seiten ziert ihn eine Einfassung hoher hundertjähriger Waringins. Die dichtbelaubte feinblätterige Laubkrone spendet zu jeder Tagesstunde Schatten und Kühlung. Zur rechten Hand an der Alun-Alun erhebt sich die Moschee und unter ihrem Säulen-Portico läßt sich heute der kaiserliche Gamellan vernehmen. Er trägt seinen eigenen Namen, Sekaten. Sein voller, glockenreiner Ton macht einen überwältigenden, tief ergreifenden Eindruck. In nächtlicher Stille trägt die Vibration der Luftwelle, mit jedem Schlage der großen, wohl vier Fuß messenden Gongscheibe, den Schall bis zur Entfernung von zwei englischen Meilen. Selbstverständlich ertönt der Sekaten nur bei sehr feierlichen Gelegenheiten.
Gerade gegenüber unserm Standort nimmt eine hohe weißgetünchte Mauer diese ganze Seite der Alun-Alun ein. Hinter ihr liegt die Residenz des Kaisers. An der linken Seite des Platzes endlich fällt in’s Auge ein nur wenige Ellen hinter einer Mauer hervorragendes Gebäude – der kaiserliche Tigerzwinger, eigentlich ein kolossaler, ungefähr fünfundzwanzig Fuß in der Länge messender und ebenso breiter Käfig. Wände, Decke wie Flur bestehen aus starken, mit dicken eisernen Reifen und Klammern wohlbefestigten und miteinander verbundenen Palissaden aus vortrefflichem Teakholz. Zwei niedrige Oeffnungen, mit starken Fallthüren versehen, gewähren den gefangenen und lebend herbeigeschleppten Insassen Einlauf in den Zwinger. In diesem engen Raum hausen beständig die Königstiger, gewöhnlich sechs bis acht an der Zahl, keineswegs in gewünschter Harmonie, mit und neben einander. Das Recht des Stärksten gelangt hier in dieser idyllischen Tigerrepublik zur vollsten Geltung. Es ist ein Gebrüll, ein Springen, ein Lärm ohne Ende. Tritt einmal ein Augenblick relativer Ruhe ein, so scheint es den Bestien ein Bedürfniß, durch fortwährendes Knurren und Brummen und Zähnefletschen zu bekunden, daß dieses brüderliche Zusammenwohnen ihnen keineswegs behagt. Und darin mögen sie theilweise nicht ganz Unrecht haben. Ihre Nahrung ist gerade keine reichliche und leidet nicht an Abwechselung. Hunde, Hunde, toujors Hunde, an Fest- wie Wochentagen. Und wer den in den Javanischen Kampongs halbverwildert umherirrenden, räudigen, abgemagerten Dorfhund von Ansehen kennt, wird begreiflich finden, wie ein solcher Bissen gerade nicht zu den appetitlichsten gehört. Das Regime empfiehlt sich jedoch durch seine Billigkeit. Solch eine Hunde-Razzia kostet gar nichts und je mehr man sie wegfängt, je fruchtbarer scheint der Nachwuchs der Race zu werden.
Ein Hofbeamter, mit dem Titel und Sonnenschirm eines Mantri, ist Vorgesetzter des Zwingers. Der Zutritt in den Hofraum steht Allen und Jedem zu jeder Stunde frei. Die Segnungen des civilisirten Polizeistaats sind im Reiche Solo noch ziemlich unbekannt. An Gaffern ist denn auch selten Mangel. Vorzüglich umstehen die Neulinge von der europäischen Garnison der Citadelle oft schaarenweise den Zwinger, dem man sich bis an die Palissaden nähern kann. Wer jedoch den Eau de mille fleurs-Duft liebt und vorzieht, der thut besser, er hält sich in einer respectabeln Entfernung. Der Gestank ist ein wahrhaft pestilenzialischer, da an eine regelmäßige oder unregelmäßige Reinigung der Tigerhôtels selbstredend niemals gedacht wird.
Aber welch interessantes Schauspiel bietet jetzt der Anblick der Alun-Alun dar! Der ganze weite Platz hat sich nach und nach mit Menschen gefüllt. Es wogt dort wie ein Meer und immer strömen und drängen sich noch neue Zufuhren massenhaft durch die drei Eingangsthore heran. Alles jubelt und jauchzt wild durcheinander, Frauen, Männer und Kinder.
Links, in der Nähe der Eingangspforte zum Kraton, sind mehrere Tribünen errichtet, reich und geschmackvoll decorirt mit Grün und buntem Fahnenschmuck. Neben der Tribüne sieht es aus wie ein musikalisches Festlager. Eine ganze Reihe Gamellans, zu denen die Prinzen ihr hübsches Contingent geliefert, hat dort Posto gefaßt. Die Gamellans der Regenten und anderer höherer Beamten, welche als Untergebene des Reichsverwesers in den Provinzen das Regiment führen, sind ebenfalls herbeigeholt und an der dem Kraton gegenüberliegenden Seite der Alun-Alun aufgestellt. Jedes Orchester spielt ganz unbekümmert um seinen Nachbar und ohne Aufhören seine eigene lustige Weise und dazwischen ertönt, alle Concurrenz überwältigend und beschämend, der volle tiefe Ton des Sekaten mit seinen, fernem Kanonendonner ähnlichen Gongschlägen. Es ist ein Lärm, ein buntes Tohu-Bohu, ein Bild, des Pinsels eines Teniers oder Breughel würdig. Aber wohin das Auge immer späht, wohin das Ohr auch lauscht, nirgends selbst nur die Spur eines Excesses, unziemlichen Wesens oder Drängens, einer Balgerei oder Schlägerei. Wohl ihrer fünfzigtausend sind sie da zusammengeströmt, auf engem Raum, alles fröhliche, lustfreudige Menschen, keine Polizei, kein Militär ist zu erblicken und nicht Einer unter [669] so vielen Tausenden wird den Anstand verletzen, wird vergessen, was er seinem Nächsten schuldet. Es sind eben Javanen, arme, ungebildete, einfache Javanen, keine Europäer!
Die Uhr schlägt die zehnte Stunde. Eine mit Vieren bespannte Hofequipage, escortirt von einem Detachement der kaiserlichen Leibwache, Dragonern, verläßt das Thor des Kratons. Ehrerbietig weicht die Menge zur Seite. Es ist der Kronprinz, welcher sich in Gala im Auftrage seines kaiserlichen Bruders nach dem Hôtel des niederländischen Residenten begiebt, dem Residenten die Meldung zu überbringen, daß im Kraton Alles bereit sei für den Empfang Seiner königlichen Hoheit des Prinzen Heinrich, der eben erst wenige Tage vorher zum Besuche angekommen ist. In der Residenz haben sich gegen neun Uhr schon die niederländischen Beamten versammelt und ein Theil des nicht im Dienst befindlichen Officiercorps, sowie die Notabeln unter den europäischen Einwohnern der Hauptstadt. Zahlreiche Hof- und Privatequipagen stehen in dem geräumigen Vorhof aufgefahren. Der offene Galawagen des Residenten, mit seinem prächtigen Sechsgespann, fährt am Perron vor. Der Prinz der Niederlande und der Resident steigen ein. Ein uniformirter Lakai öffnet den großen goldenen Sonnenschirm und steigt hinten auf. Die Wache präsentirt das Gewehr. In demselben Augenblick donnert der erste Schuß eines königlichen Saluts von den Wällen der nahen Citadelle. Alle Gamellans ertönen. Langsamen Schrittes schlägt die lange Wagenreihe den Weg ein zum Kraton.
Der Kaiser, ein ehrwürdiger Mann in den fünfziger Jahren, empfängt seinen hohen Besuch an der untersten Treppe der großen Audienzstelle. Dem Prinzen den rechten Arm bietend schreitet er die Stufen hinauf. Nachdem alle Anwesenden sich auf die in zwei langen Reihen rechts und links vom kaiserlichen Dampar aufgestellten Sessel niedergelassen, reichen einige kaiserliche Pagen dem Prinzen und dem Residenten auf einem massiv goldenen, den übrigen Gästen auf silbernen Präsentirblättern den Thee dar, in Tassen von feinem französischen Porcellan. Nach einer Viertelstunde erhebt sich der Kaiser zum Aufbruch und begiebt sich, den Prinzen an seiner rechten Seite, nebst allen Anwesenden zu Fuß über mehrere Vorhöfe hinweg, wo die in Parade aufmarschirten kaiserlichen Truppen den vorüberschreitenden hohen Gästen mit gesenkter Fahne und Trommelwirbeln salutiren, hinaus zu der vor dem Kraton, auf der Alun-Alun errichteten kaiserlichen Tribüne.
Welch anderes Ansehen bietet jetzt dieser Platz dar! Gerade vor der Tribüne hat sich ein Quarré von Pikenträgern formirt. Jede Seite des Vierecks mag ungefähr fünfhundert Schritt in der Länge messen. In drei Gliedern stehen die Pikenträger, eng aneinander, jeder mit der Lanze in der Faust, zusammen mehr als sechstausend Mann stark. In der Mitte des Quarrés erblickt man fünf aus starken Bohlen gezimmerte Käfige, in einer Reihe mit je zehn Fuß Zwischenraum aufgestellt. Jeder enthält einen erwachsenen Königstiger. Die Käfige sind ganz niedrig und schmal. Der Tiger kann darin weder stehen noch sich umdrehen. Eine Schiebethür bildet den Verschluß in dem der Tribüne zugekehrten Eingang. Das andere entgegengesetzte Ende des ungefähr zehn Fuß langen Behälters ist von außen dick mit Stroh umwunden.
Außer jenen fünf Käfigen machen sich innerhalb des Quarrés noch zwei mysteriöse Gegenstände bemerkbar, am besten zu vergleichen mit großen zehn Fuß hohen länglichen Bienenkörben ohne Boden. Es ist ein Flechtwerk, aus unzähligen dicht durch- und ineinandergeflochtenen handbreiten Bambulatten zusammengesetzt.
Der Kaiser erscheint nebst seinen hohen Gästen auf der Tribüne. Sofort tritt eine allgemeine feierliche Stille ein. So eben noch allgemeiner fröhlicher Jubel und Lust – jetzt lautloses tiefes Schweigen des unzähligen Menschenmeers da unten. Auch die Gamellanmusik verstummt.
Die Tribüne, zehn bis zwölf Fuß hoch, steht dem Quarré ganz nahe. Gerade vor uns, die ganze Front entlang, zeigt sich eine Lücke in der Reihe der Pikenträger. Diese Lücke wird eingenommen von den jüngeren Prinzen und den Söhnen des höchsten Adels des kaiserlichen Hofes. Ihre persönliche Aufgabe ist es, für die Sicherheit ihres Gebieters und seiner hohen Gäste einzustehen. In zwei Reihen geschaart sitzen sie dort, la fine fleur de la chevalerie des Hofes, zu den Füßen des Kaisers, ihre langen kostbaren, oft mit Edelsteinen verzierten Lanzen neben sich. Die Etiquette legt diesem Corps d’élite ein durchaus passives Verhalten auf. Sie erheben sich nicht von ihren Teppichen, so lange keine directe Gefahr droht. Dann aber wird auch nicht Einer einen Moment zögern, wenn es sein muß, sein Leben zu wagen und zu opfern. Uebrigens hat’s damit so große Noth nicht. Noch niemals hat ein Tiger den majestätschänderischen Versuch gewagt, dort durch die Linien zu brechen.
Jetzt erscheint der Reichsverweser, umgeben von seinen Regenten. In demüthiger Haltung, nach Landessitte, nähern sie sich und nehmen ihren Sitz wenige Schritte von der Tribüne im Quarré ein, keiner redet, keiner erhebt nur den Blick.
„Ist Alles, meinem Befehl gemäß, zum Gefecht bereit?“ erklingt die Stimme des Kaisers.
„Inggih, Sinuhun!“ („Zu Befehl, Hoheit!“) antwortet der Reichsverweser.
„So laß dann beginnen!“
Der Reichsverweser verbeugt sich und tritt nun mit seinen Regenten, mit Piken bewaffnet, ebenfalls ein in das Quarré.
Sämmtliche Gamellans lassen jetzt ihr Spiel erklingen. Ihr Spiel ist jedoch kein wildes, kein lustiges, sondern ein langsames leises Adagio, gleichsam das Präludium, während Alles ringsum ihren Tönen lauscht, zu dem ergreifenden Schauspiel, welches nun folgt.
Wie ein elektrischer Schlag zuckt es in den Reihen der Pikenträger. Unwillkürlich schließen sich die Glieder, rücken näher zusammen. Der Körper richtet sich strammer in die Höhe, – der Fuß sucht festeren Boden. Scheint’s doch, als würde ein Jeder von einem gewissen bangen unsichern Vorgefühl ergriffen. Und nicht ganz ohne Ursache! Bringt doch der nächste Moment schon vielleicht Diesem oder Jenem ein frühzeitiges Ende, einen blutigen Tod. Wohl erstarken Kraft und Muth beim Anblick so vieler Tausende Lanzenträger, jedoch der Feind ist ein fürchterlicher, das Spiel ein gefahrvolles!
Ein Wink des Reichsverwesers. Langsam senken sich die Speerspitzen des vordersten Quarrés. Ein zweiter Wink erfolgt. Zwei Männer treten aus dem Gliede hervor. Ihre äußere Erscheinung macht sie kennbar als Hofbeamte. Die Arme, der ganze obere Theil des Körpers entblößt, das Haar lang und wallend, der Kopf verziert mit dem Kuluk, dem niedrigen weißen Hütchen der Hofkleidung, statt einer Waffe das kurze Messer an der Seite. Langsam, bedächtig, Schritt vor Schritt, in rhythmischer Bewegung nach dem Tacte der Gamellans, bald den rechten, bald den linken Fuß hebend und wieder senkend, nähern sie sich dem vordersten Käfig und bezeigen, indem sie sich zu Seiten des Käfigs niedersetzen, mit vornübergebeugtem Oberkörper, beide Hände an die Stirn streichend, dem kaiserlichen Gebieter ihre Reverenz. Sie erheben sich, der eine besteigt den Käfig, zieht das Messer, faßt, nachdem er die Taue durchschnitten, mit beiden Händen den schweren Schieber, hebt ihn langsam und läßt ihn einmal, dann zum zweiten Male wieder niederfallen. Dumpf wiederhallt in der lautlosen Stille das Einschlagen der Fallthür auf dem harten Holzboden der Unterlage. Sie wechseln einige Worte. Der zweite der Männer schlägt Feuer. Das Feuer zündet. Eine wirbelnde Rauchsäule am hintern entgegengesetzten Ende des Käfigs verräth, daß das dicke Strohkleid in Flammen steht. Zum dritten Male bückt der Mann sich oberhalb des Käfigs, erfaßt den Schieber, zieht an und schleudert ihn mit einem gewaltigen Rucke weit hin in die Arena.
Ihre Aufgabe ist gelöst. Ruhig kehren Beide wieder zurück zu ihren Sitzen rechts und links neben dem Käfig, dem Winke des Kaisers harrend, ehe sie sich entfernen. Keine Muskel zuckt, nicht die Spur innerer oder äußerer Erregung ist an ihnen ersichtlich. Zwei übermenschliche Wesen sitzen sie da, dort, wenige Fuß hinter ihnen die kräuselnde Rauchsäule, zwischen ihnen zwar ein Käfig, jedoch frei, ohne Bande der Tiger. Die Kehle preßt sich zusammen, kaum wagt man zu athmen. Es ist ein Augenblick höchster Spannung, eine That unerhörter Kühnheit. Selbst den stoischen Javanen muß das Herz schneller klopfen. Kein Laut, Grabesschweigen ringsum. Man könnte ein Blatt fallen hören!
Der Kaiser winkt. Eine kurze Bewegung der Hand. Langsamen Schrittes, wie sie gekommen, ohne nur einmal umzuschauen, schreiten die kühnen Gandeks auf das schützende Quarré zu. Nur die zunehmende Länge der letzten rhythmischen Fußbewegungen verräth, daß auch in ihnen – eine Menschenseele wohnt, menschliche Schwächen, menschliche Regungen!
[670] Inzwischen lodert das Stroh in heller Flamme. Vom Feuer verjagt, am Kopfe versengt, stürzt der Tiger hervor, ein stolzes prächtiges Thier. Die knechtenden Bande sind zerrissen, frei steht er da, der stolze Fürst des Waldes! Nur einen Augenblick, einen kurzen Augenblick, das schöne Trugbild ist verschwunden. Noch ist sein Stand neben dem brennenden Käfig. Mit flammenden Augen überblickt er das Gefahrvolle seiner Lage; aber was thut’s – seine Gegner da sind ja Menschen, nur Menschen, und zählen sie auch zu Tausenden, er kennt keine Furcht, keine Gefahr. Wild schlägt er mit seinem Schweife, sein Auge sprüht Flammen, den stolzen Kopf hoch erhoben, stürzt er in wildem Sprunge hinan zum Quarré. Nirgends ein Ausweg, nirgends eine Oeffnung. Schnell kehrt er um, stürmt hinüber zur andern Seite; fürchterlich brüllend sprengt er die Speergasse entlang. Schon längst ist das leise Adagio der Gamellans verklungen, schneller und schneller wird das Tempo, ein nervenerschütterndes Fortissimo mischt sich mit dem Gebrüll des Tigers. Der kühne Sprung wird gewagt, muß gewagt werden, hoch in der Luft schwebt der mächtige Körper. Von zahllosen kräftigen Speerstößen durchbohrt, zurückgeschleudert, sinkt er zusammen, aus allen Wunden trieft das Blut. Einen Augenblick nur, das tapfere Thier erhebt sich auf’s Neue, zum zweiten Sprunge. Aber schon ist seine Kraft gebrochen, der Sprung ist zu niedrig. Von den Speeren der vordersten Glieder tödtlich getroffen, taumelt er zurück und verendet auf dem Felde der Ehre. –
Das Halali der Gamellans ist verstummt. Hell lodert die Flamme am zweiten Käfig und leckt mit feuriger Zunge am dürren Holze herum. Längst schon sind die Gandeks wieder eingetreten in’s Quarré, noch immer bleibt’s regungslos und still im Käfig; an allen Ecken brennt’s und prasselt’s. Da endlich regt es sich und bewegt sich. Aber bei Allah, ist das Sinnenbetrug? Was da langsam hervorkriecht, ist das ein Tiger? Nie und niemals. Wo ist das prächtige gelbe Kleid mit seinen dunkelglänzenden Parallelstreifen? Kein ungestümes Hervorbrechen, kein todesmutiges Herausfordern des Feindes. Wie ein Esel liegt er da neben dem Käfig, grau und schwarz, alle Haare versengt, gleichgültig für den Genuß der wiedererlangten Freiheit. Dem Tode durch Ersticken nahe, halb geröstet, hatte das Unthier das feurige Gericht ruhig über sich ergehen lassen.
„Es strecket die Glieder und legt sich nieder.“
Ob dem Dichter aber gerade dieses Bild vorgeschwebt beim Dichten jener Strophe, ist zweifelhaft. – Da, mit einem Male, ein zweites Wunder! Der mysteriöse Bienenkorb wird lebendig, kommt herangerutscht und von einigen Lanzenstichen unsanft berührt, springt unser geeselter Gesell auf, taumelt wie betrunken vorwärts und rennt buchstäblich zum allgemeinen Hohngelächter dem Quarré in die gefällten Lanzen.
Zum dritten Male formiren und schließen sich die Reihen. Zum dritten Male lodert die Flamme. Noch haben die kaiserlichen Gandeks die schützende Linie nicht erreicht, da bricht schrecklich brüllend das Unthier hervor, ein stattlicher Königstiger, ein Patron seltener Größe. Vor zwei Tagen erst eingefangen, durch keine Hundediät geschwächt, steht er da, in seiner ungeschmälerten Kraft und Wildheit. Im schnellsten Tempo eilen die Bienenkorbmänner, im Schutze ihres trojanischen Pferdes, herbei zum Entsatz der gefährdeten Gandeks. In demselben Augenblick wirft der Tiger laut brüllend sich auf den Korb. Vergebens versucht er an dem dichten Flechtwerk die fürchterliche Kraft seines Gebisses; der zähe Bambu spottet seiner Wuth. Vergeblich hängt er mit der ganzen Wucht seines kolossalen Körpers am Korbe; die Widerstandsfähigkeit der breiten Grundlage macht ein Umstürzen unmöglich. Ein schreckliches Schauspiel, das wilde wüthende Thier! Starr blickt das Auge wie von Zauber gebannt, das Herz pocht schneller. Ein unheimliches Gefühl beschleicht die Zuschauer. Ja, das ist der Tiger, der Herr der Wildniß, in seiner ganzen unverdorbenen Wildheit. In diesem Moment höchster Spannung sitzt der Kaiser da, ein marmornes Bild. Kein Wort entschlüpft seinen Lippen, keine Muskel rührt sich. Eine leichte Bewegung dort unten verräth, daß die Edelgarde im Begriff steht, sich zu erheben, die Lanze zu ergreifen. Da, schnell wie der Blitz, springt der Tiger vom Korbe herunter. Er steht in der Mitte des Quarrés, wie feurige Kohlen funkeln die Augen. Kurz ist sein Zweifeln – der Entschluß gefaßt. In drei Sätzen wirft er sich todesmuthig dem Quarré entgegen. Zehn Lanzen durchbohren den tapfern Leib, zehn andere liegen in Splittern am Boden. Taumelnd sinkt das kühne Thier zurück, erhebt sich, stürzt im wilden Flug, wüthend, die abgebrochenen Lanzenschäfte in den Seiten, heran zu erneutem Anfall und stirbt ein Held, von hundert Lanzen durchbohrt!
Noch harren der vierte und fünfte Tiger ihrer Erlösung. Aber sei’s Ueberspannung der Nerven nach so langer Aufregung, sei’s weil der Geist noch ganz erfüllt ist von den vorhergehenden mächtigen Eindrücken – das Interesse ist abgestumpft. Beinahe gleichgültig sieht man den letzten der Tiger unter den Lanzen verbluten. –
Vor einigen Jahren weilte der Generalgouverneur Baron Sloet van de Beele zum Besuche in Surakarta. Ein Rampok wurde veranstaltet. Und sieh, ganz gegen Regel und Sitte und im Widerspruch mit der Tradition des Mataramschen Fürstenhauses, richtet der Tiger seinen Anfall nach der Seite der Tribüne hin. Zurückweichend vor den Lanzen der Edelgarde dringt das Thier kurz danach zum zweiten Male auf die Edlen ein. Die Adjutanten des Generalgouverneurs und die übrigen Officiere machen Miene, den Degen zu ziehen. Andere Herren des Gefolges sind der Ansicht, ihrer Würde nichts zu vergeben, indem sie im gymnastischen Schwunge das Gebälk des Daches ersteigen. Und wenn der Himmel selbst einstürzt, ein Bild steinerner Ruhe sitzt der Kaiser da; ebenso, vielleicht ein wenig wider Behagen, neben ihm der Generalgouverneur. Uebrigens war es schließlich doch nicht dort, sondern an einer andern Seite des Quarrés, wo man den Tiger erlegte.
Daß der Tiger selten oder nie diese Seite des Quarrés zum Ziele seines Angriffs erwählt, hat wohl wie manche andere dergleichen Wunder seinen einfachen Grund darin, daß die Tribüne mit ihren farbigen Fahnen und buntem Menschengewühl an jener Seite das Quarré wie mit einer Mauer begrenzt und abschließt. Der Tiger glaubt an den drei andern, wohl besser vertheidigten, aber jedenfalls niedrigeren Seiten eine bessere Aussicht auf Erfolg zu haben und wendet also dorthin seine Schritte. Die der Edelgarde drohende Gefahr ist daher auch keine so große, wie es anfänglich den Schein hat. Den Liebhabern von Aufregungen können wir jedoch immerhin ein Plätzchen in den Reihen dieses jungen Adels als durchaus zweckentsprechend anempfehlen.
- ↑ Eine neue Skizze aus der Feder des Herrn K. de C. in Holland, der, wie unsern Lesern aus dem vorigen Jahrgang bekannt ist, gegen dreißig Jahre in Java lebte und daselbst in verschiedenen Provinzen die Stelle eines Gouverneurs bekleidete. D. Red.