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Philon: Über die Unveränderlichkeit Gottes (Quod Deus sit immutabilis) übersetzt von Hans Leisegang

macht oder ganz verschwinden läßt. 44 Die Erscheinung und der Eindruck aber versetzen die Seele bald in eine geneigte, bald in die entgegengesetzte Stimmung. Diesen ihren Zustand nennt man Begehrungsvermögen, das wir, um es zu definieren, als die erste Bewegung der Seele bezeichnet haben.[1] Hierin nun besteht der Vorzug der Tiere vor den Pflanzen. Wir aber wollen nun betrachten, worin der Mensch sich vor den Tieren auszeichnet. [10] 45 Er erhielt ja als besondere Gabe die Vernunft, die das Wesen aller Körper und Handlungen begreift. Wie nämlich im Körper der Gesichtssinn die führende Stellung einnimmt, im Weltall aber das Wesen des Lichtes, ebenso ist in unserm Innern das Vorzüglichste der Geist; 46 denn er ist das Auge der Seele,[2] erleuchtet durch (seine) eigenen Strahlen,[3] durch die die große und tiefe Finsternis, welche die Unkenntnis der Tatsachen verbreitete, zerstreut wird. Dieser Teil der Seele wurde nicht aus denselben Elementen gebildet, aus denen das Übrige vollendet wurde, sondern er erhielt eine reinere und bessere Substanz, die, aus der die göttlichen Wesen geschaffen wurden.[4] Deshalb meint man[5] mit Recht, daß von unseren (Kräften) allein die Vernunft unvergänglich sei. 47 Denn sie allein würdigte der schaffende Vater der Freiheit, löste sie von den Fesseln der Notwendigkeit und ließ sie frei, indem er sie beschenkte mit dem ihm am besten anstehenden und zu ihm passenden Besitz, dem freien Willen,[6] soweit sie ihn fassen konnte. Die andern Lebewesen, in deren Seelen das Prinzip der freien Selbstbestimmung, der Geist, nicht vorhanden ist, sind, unterjocht und gebändigt, dem Menschen zum Dienste übergeben


  1. Eine nur bei Philo auftretende Definition der ὁρμή, die sonst wohl als Bewegung der Seele (Plutarch. Advers. Colot. 1122 D: ἡ ὁρμή, κίνησις οὖσα καὶ φορὰ τῆς ψυχῆς), aber nicht als „erste“ Bewegung bezeichnet wird.
  2. Vgl. Aristot. Topic. 1, 17 p. 108 a 11: ὡς ὄψις ἐν ὀφθαλμῷ, νοῦς ἐν ψυχῇ. Eth. Nic. 1, 6 p. 1096 b 28: ὡς γὰρ ἐv σώματι ὄψις, ἐν ψυχῇ νοῦς, vgl. Rhet. 1411 b 13. Chalc. in Tim. 266: Stoici deum visum vocantes, quod optimum putabant. Siehe Über die Weltschöpfung § 53. Über die Nüchternheit § 5.
  3. Das Licht offenbart sich selbst und die beleuchteten Dinge; Über die Einzelges. I § 42 u. ö.
  4. Unter den göttlichen Wesen sind die Sterne zu verstehen, die aus Äther bestehen, in dem Philo eine fünfte Substanz neben und über den vier Elementen sieht (Quis rer. div. her. § 283. Quaest. in Gen. III § 6), die er aber meist mit dem vierten Elemente, dem Feuer, in eins setzt.
  5. Jüngere Stoiker: Heinemann, Pos. met. Schr. I 59.
  6. Siehe die übernächste Anmerkung.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Unveränderlichkeit Gottes (Quod Deus sit immutabilis) übersetzt von Hans Leisegang. H. & M. Marcus, Breslau 1923, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloDeusGermanLeisegang.djvu/11&oldid=- (Version vom 4.2.2022)