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dieses hervorragenden, eigenthümlichen Mannes gebracht. Dr. Daniel Schenkel ist eine Quecksilbernatur, er macht den Eindruck, als ob er unter dem Einfluß einer ununterbrochenen Aufregung stände. Aus den kleinen Augen leuchtet hinter der Brille eine stets bereite Elasticität hervor. Jeden Gegenstand erfaßt er mit Lebendigkeit, in Scherz wie in Ernst geht er ein mit einem Feuer, das den Fremden überrascht. So ist auch seine Beredsamkeit stürmisch, fortreißend, er läßt nicht viel Zeit zum Besinnen; seine Schlagworte, seine kurzgefaßten Schlüsse, seine Ironie, mit raschen faßbaren Behauptungen den Gegner angreifend, versetzen den Hörer alsbald dramatisch mitten in den Gegenstand hinein. Er gönnt sich und den Hörern dabei wenig Ruhe, wie er denn auch in seiner amtlichen und gelehrten schriftstellerischen Thätigkeit diese Rastlosigkeit des Arbeitens, diese stets frische Lust, neue Aufgaben zu übernehmen, und diese Zähigkeit, dieselben mit Eifer zu lösen, an den Tag legt. Schenkel’s theologische Vergangenheit gehörte bis zum Jahre 1855 der Richtung einer sogenannten Vermittelungstheologie an, die mit der Orthodoxie den Geist der Verfolgung und Unduldsamkeit gemeinsam hat, und im Banne dieser falschen Richtung ist auch Schenkel zu manchen Schritten verleitet worden, die wenig Heil gebracht haben. Als aber im obengenannten Jahre die orthodoxe Reaction in stolzem Uebermuthe aller Vermittelung den Credit aufkündigte und Stahl die Umkehr der Wissenschaft frivol verlangte, da entschied sich Schenkel mit aller Lebhaftigkeit für die Sache der Freiheit. Sein Buch „Für Bunsen wider Stahl“ bezeichnet den Wendepunkt seiner Parteistellung. Von da an ist er der Feueranzünder geworden in den kirchlichen Bewegungen. In den Durlacher Conferenzen, in der Reformsynode von 1861 erscheint er als der unwiderstehliche Anwalt der Freiheit, seine Kraft als Volksredner, die von ihm mit größtem Erfolge in das praktische Leben eingeführten Forderungen: die Kirche muß Gemeindekirche werden und die Theologie muß vom Gewissen ausgehen, – ferner seine unermüdliche Arbeitsfähigkeit haben den größten Antheil an der Umgestaltung der Landeskirche in Baden, deren neue Verfassung von seinen Gedanken Zeugniß giebt. Auch Schenkel ist, wie sein College Bluntschli, ein Züricher von Geburt; auch er hat gleichzeitig an den politischen und kirchlichen Kämpfen der dreißiger und vierziger Jahre in der Schweiz Theil genommen, auch ihm kommt diese Vereinigung nun in den heutigen kirchenpolitischen Wirren gut zu Statten. Durch sein vielverbreitetes, berühmtes Buch „Charakterbild Jesu“ ist sein Name bei den Orthodoxen und den regierenden Halb-Orthodoxen ein Fluch und ein Gräuel geworden.

Diesen vier Süddeutschen reihen wir die Norddeutschen unter den Führern des Protestantenvereins an. Auch hier haben wir mit einer Todtenklage zu beginnen. In Berlin, dem Heerde der lutherischen Orthodoxie wie der verfolgungsfreudigen Bastardorthodoxie, hat sich mitten unter diesem Graus ein Häuflein guter liberaler Theologen erhalten, geschaart um des großen Schleiermacher’s treueste Schüler Jonas und Sydow. Aus diesem Häuflein, das jahrelangem Drucke nicht gewichen ist, ragte Dr. Heinrich Krause, der Redacteur der Protestantischen Kirchenzeitung, hervor durch seinen treuen Muth, mit dem er nicht abließ vom Kampfe für die Freiheit der Wissenschaft und für die Aufrechthaltung der Union. In denselben Tagen, wo sein Freund, Prediger Lisco, mit sammt der ganzen freisinnigen Theologie von der Friedrichswerder’schen Synode excommunicirt wurde, hat man Krause begraben. Ueber seinem Grabe aber leuchtet der Stern der mannhaften Treue und ehrlichen Wahrheitsliebe fort, der ihn geleitet hat sein Lebenlang. Krause’s Verdienst um den Protestantenverein bestand darin, daß er den Eintritt der preußischen Unionsvereine in den allgemeinen deutschen Protestantenverein ermöglicht hat; leider hat ihn die letzte langwierige Krankheit von thätiger Mitarbeit an den Protestantentagen abgehalten.

Dafür ist aber aus dem Kreise der Berliner Freunde eine hervorragende Gestalt mit an die Spitze des Vereins getreten, die weithin bekannt ist im Volke, ein Mann der Wissenschaft, der aber gleichzeitig ein Herz hat für die großen Fragen der Volkswohlfahrt, dem also der scharfsinnige Blick auch längst des deutschen Volkes kirchliche Noth offenbarte. Das ist Professor Franz von Holtzendorff. Er gilt als einer der Haupturheber des deutschen Juristentages, er ist mit Professor Virchow vereinigt zur Herausgabe der gemeinverständlichen wissenschaftlichen Vorträge, er hat vom juristischen Standpunkte aus die Gefängnißverwaltung der Brüder vom Rauhen Hause angegriffen – und wie klar er kirchliche Fragen zu behandeln weiß, wie beredt seine Darlegung und Beweisführung die Hörer überführen kann, das hat die glänzende Vertheidigung seiner Thesen über die gemischten Ehen auf dem ersten Protestantentage in Eisenach bewiesen. Der dritte Protestantentag in Bremen wählte ihn zu seinem Vicepräsidenten.

Ganz aus anderem Stoffe gebildet ist die hohe Prophetengestalt des Märtyrers von Rostock, Dr. Michael Baumgarten, dessen Lebensgeschichte die belehrendsten Illustrationen darbietet zu dem Heil und Segen, den die Orthodoxie über das Volk und seine besten Männer zu bringen pflegt, wenn es ihr, wie in dem unglückseligen Mecklenburg, gelingt, Jahrzehnte lang die Herrschergeißel zu schwingen. Baumgarten ist ein Holsteiner, ein Bauernsohn aus der Elbmarsch, also eine zähe, kraftvolle, verständige Natur. In ihm glüht aber die mächtige Flamme der frömmsten Begeisterung, genährt am Studium vorzüglich der alttestamentlichen Propheten, aus denen er das Mark seiner Theologie gesogen hat. Wie diese Propheten Volksmänner waren im höchsten Sinne des Wortes und nur in diesem Sinne Gottesmänner, so ist auch in Baumgarten die Liebe zum Volke verwachsen mit seinem religiösen Gefühl. Seiner theologischen Auffassung liegt der Gedanke zu Grunde, daß die Offenbarung Gottes des Volkes wegen da ist, nicht das Volk der Offenbarung wegen, und darum scheut er sich nicht, der Kirche, das heißt den Pastoren und Consistorien, Buße zu predigen, deren Schuld es sei, daß das Volk nichts mehr von der Predigt wissen wolle. Aus dem Munde eines Professors der Theologie diese Bußpredigt zu hören, hat um so größere Bedeutung, wenn dieser Professor, wie es bei Baumgarten der Fall ist, nicht der rationalen Seite der Theologie, sondern der bekenntnißgläubigen Seite angehört. Baumgarten vertritt mit Eifer und Geist den alten Wunderglauben, die Autorität der Bibel, die überlieferte Erlösungslehre, kurz die Hauptmasse der altgläubigen Dogmatik. Alles Das ist aber auf’s Innigste mit seinem ganz eigenthümlich freien und frischen Gemüthsleben verwoben, ist eingegangen in sein Denksystem und hat nicht vermocht, diese selbständige Holstennatur in inneren Widerspruch mit sich zu setzen. Er sagt: „Ich habe das Alles erlebt.“ Und das Gleiche verlangt er von Jedem. Man sieht, der Grund seiner Orthodoxie ist doch der der eigenen Denkarbeit und Gewissensüberzeugung, nicht, wie das System es eigentlich fordert, der Gehorsam unter die alleinseligmachende Kirchenlehre. Darum, weil er in dem Sinne der sonst landläufigen Orthodoxie kein Mann des gesetzlichen Buchstabens, der blinden Unterwerfung ist, kein Reactionär, kein „Conservativer“ nach Stahl’s Schablone, ist er zum Gegenstande der gehässigsten Verfolgung geworden. In Holstein war er zur Zeit des „offenen Briefes“ Christian des Achten ein thatkräftiger Vorkämpfer der nationalen Sache.

In der traurigen Thatsache, daß je nach Laune und Bedürfniß von Seiten der Staatsbehörden die evangelische Kirche als ein Zweig der Polizei ausgebeutet und dem Volke verhaßt gemacht worden ist, erkennt Baumgarten mit Recht einen Hauptgrund des kirchlichen Verfalls und der allgemeinen Gleichgültigkeit gegen Religion und Kirche. Von dieser Erkenntniß aus mußte er mit den kirchlichen Tyrannen Mecklenburgs in Zusammenstoß gerathen. Eine Aufgabe, welche er in seiner Eigenschaft als Mitglied der Prüfungscommission den Candidaten gestellt hatte „über die Berechtigung der Revolution nach der heiligen Schrift“, bot die ersehnte Handhabe, um Baumgarten erst aus jener Commission zu verstoßen, dann seines Amtes zu entsetzen, darauf mit Hülfe mecklenburgischer Justiz in Preßprocesse zu verwickeln, die ihm manchen Monat Gefängniß und viele Geldverluste eingetragen haben. Es half nichts, daß ganze Facultäten sich öffentlich gegen diese schamlose Mißhandlung eines Ehrenmannes erklärten, es half nichts, daß Hunderte von Rostocker Bürgern in öffentlichen Adressen, in Petitionen an den Fürsten sich für Baumgarten verwendeten, – die orthodoxe Coterie hat ihr Werk nicht aufgegeben. Baumgarten bleibt nach wie vor abgesetzt, bewacht von gunstgierigen Denuncianten, isolirt – und das Alles, weil Kliefoth, Krabbe und wie die Pharisäer des Sanhedrin von Schwerin noch heißen mögen, ihn hassen. Was Wunder, daß Baumgarten ein Feuerzeichen des bösen Gewissens für alle herrschenden Orthodoxien ist? Er hat alle Consequenzen des hierarchischen Systems durchgekostet, und sein Leben gehört dem Kampfe für die Freiheit, wie ihn der Protestantenverein kämpft.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_472.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)