CXVI. Liebenstein und Sternfels am Rhein Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band (1836) von Joseph Meyer
CXVII. Rouen
CXVIII. Zion, die Stätte der Burg David’s
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ROUEN

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CXVII. Rouen.




Rouen, die alte Capitale der Normandie, jetzt der Hauptort des Departements der untern Seine, liegt in einer niedrigen, sehr fruchtbaren Gegend an der hier breiten und tiefen, schon für kleinere Seeschiffe fahrbaren Seine, ohngefähr 5 Stunden von deren Mündung und 17 Meilen von Paris. Sie hat 12000 Häuser und etwa 100000 Bewohner. Nach Paris, Lyon und Marseille ist sie die größte und volkreichste Stadt Frankreichs.

Geschichtliche Erwähnung von ihr thut schon Ptolemäus, der im zweiten Jahrhundert lebte. Er nennt sie Rotomagus, Hauptstadt der Volcassen. Nach der Unterjochung dieser Völkerschaft durch die Römer, machten diese den Ort zu einem Waffenplatz. Er muß ansehnlich gewesen seyn, wie die aufgefundenen römischen Bauwerke beweisen.

Die Franken folgten den Römern in der Herrschaft, jenen die seeräuberischen Dänen (Normänner), welche 841 Rouen einnahmen, plünderten und im Lande sich festsetzten. Nach ihnen änderte die Provinz ihren frühern Namen (Neustria) und hieß fortan die Normandie.

[67] Der Dänen Herrschaft blieb nicht unangefochten. Die Könige von Frankreich, oft mit den Herzogen von Burgund und den deutschen Kaisern im Bunde, machten mehrmalige Versuche, die fremden Eindringlinge wieder zu verjagen. Es gelang nicht; aber das Land ging darüber zu Grunde. Auch Rouen hatte viel zu leiden; 930 und 941 hielt es schwere Belagerungen und Drangsale aus.

Der eroberungssüchtige Wilhelm, Herzog der Normandie, schiffte nach Britannien und stürzte die angelsächsischen sich unter einander befehdenden Fürsten. König von ganz England geworden, verwandelte er seine Erblande in eine Provinz des neuen Reichs. – Unter seinen Nachfolgern erneuerten sich Frankreichs Versuche zur Wiedergewinnung der Normandie mehrmals; doch erst nachdem Dunois, der Bastard, endlich die Britten aus der Normandie vertrieben hatte, blieb Rouen unter französischer Herrschaft. Die Kirchenreformation fand eifrige Anhänger in dieser Stadt, und zu Anfang des 16ten Jahrhunderts bekannte sich der größere Theil der Wohlhabenden und Vornehmen öffentlich zu der gereinigten Lehre. Gewaltsam unterdrückt, wagten die Protestanten einen Aufstand. Sie unterlagen einem gegen sie gesandten Heere, und was dieser Katastrophe entging – etwa 500 Familien – wurde an dem berüchtigten Bartholomäusabende (der pariser Bluthochzeit) erschlagen.

Es folgten nun lange Jahre der Ruhe. Rouen hob sich, anfänglich langsam; aber als es zum Mittelpunkte der Baumwollindustrie Frankreichs emporstieg, rasch. Es galt als die dritte Gewerb- und Handelsstadt Frankreichs, und besaß über 90000 Einwohner, als die Revolution ausbrach. Wie Paris und Lyon war es während der folgenden Schreckenszeit ein Schauplatz der Hungersnoth, der Plünderung und des Blutvergießens. 1200 Bürger fielen unter dem Messer der Guilliotine. Die Volkszahl sank bis auf 65000.

Das Wiederaufblühen der Stadt trifft mit der Herrschaft Napoleon’s zusammen. Dessen Kontinentalsystem war den einheimischen Manufakturen sehr günstig, und Rouen, als ein Centralsitz derselben, konnte nur dabei gewinnen und sich über den Verlust seines Seehandels trösten. Auch diesen besitzt es seit der Restauration wieder. Obschon von dem günstiger gelegenen Havre darin überflügelt, ist er immer noch sehr bedeutend, besonders nach England, den Niederlanden, dem Norden von Deutschland und den Colonien. –

Rouen, durch seine Lage an einem majestätischen Strome, dessen Ufer Schiffbrücken verbinden, und durch die Menge großartiger Bauwerke des Mittelalters herrlich, ist doch im Innern unschön, und die meistens sehr alten und schlecht gebauten Häuser, in vielen schmalen und winklichen Gäßchen zusammenstehend, entbehren das Gemüthliche, was die auch alten deutschen Städte, wie Nürnberg und Köln z. B., so anziehend macht. Die Hauptzierde der Stadt ist die weltberühmte Kathedrale[1], eine der kühnsten und erhabensten architektonischen Ideen, die je die christliche Welt sah. – Sie rührt von einem Deutschen her, und der Wunderbau, der den herrlichsten im Vaterlande, [68] dem Straßburger Münster, dem Dome in Köln, der Stephanskirche in Wien, an die Seite zu stellen ist, zeigt seinen Ursprung, den nationalen Sinn des Deutschen, in seiner ganzen Eigenthümlichkeit.

Bei dem Griechen tritt das Allgemeine als das Herrschende, im Leben, wie in der Kunst, immer hervor. Heiter und einfach weiß er Alles dem bestimmten Zweck anzupassen, und eben dadurch, daß Absicht und Ausführung auf eine Allen verständliche und klare Weise in Eins fallen, hat der Anblick eines griechischen Gebäudes etwas so allgemein Erfreuendes und Gefälliges. – Ganz anders der Deutsche in seinen Werken aus der Periode seiner eigenthümlichen Kunstentwickelung, dem Mittelalter. – In einen unermeßlichen Abgrund der Gedanken stürzt er sich kühn hinein, und eine Welt von Gestalten und Formen, jede mit gleicher Sorgfalt behandelt, quillt aus seiner belebenden Hand. So ist in der Rouener Kathedrale kaum eine Säule wie die andere, die Verzierungen der Kapitäler sind von unendlicher Mannichfaltigkeit, die Mauern und Thürme scheinen Seelen zu haben, und aus jedem Punkt drängt sich ein anders gestaltetes Leben hervor. Selbst das Licht muß sich in glänzende Farben zertheilen, die Farben in ätherische Gestalten zusammenrinnen, um durch mythische Beleuchtung das Ganze zu erhellen, damit allenthalben eine große, bedeutungsvolle, lebendige Welt uns entgegentrete. Alle Künste müssen sich gleichsam in eine Kunst verschmelzen, und eben diese Einheit der Malerei, der Skulptur und der Baukunst selbst ist das eigenthümliche Wesen der deutschen Bauart. – Man steht und staunt, sieht man das mit dem Kleinsten so sorgsam und ängstlich beschäftigte Streben und vergleicht damit die wundervoll-tiefe Absichtlichkeit und die Riesengröße des Gedankens, der das unübersehbare Ganze in Eins so harmonisch geordnet. – Unsymmetrisch heben sich die festen Mauern empor; stolz und schlank stehen die Säulen in ungezwungener Ordnung da; jede ist verschieden und doch nimmt man nicht einmal eine Verschiedenheit wahr. Bei aller und unendlicher Mannichfaltigkeit der Formen wird doch keiner der das Innere dieser Kathedrale Betretenden sich in seiner tiefen, stillen Empfindung gestört finden, und wenn dann die Orgel mit Meeresbrausen hereinstürmt, wenn der laute Gesang alter Choräle Freud und Leid aus den verborgensten Tiefen unserer Seele hervorlockt, dann bleibt uns nichts übrig, als die unmittelbarste Nähe des Heiligsten mit grauenvollem Entzücken zu empfinden und in dem überschwenglichen Gefühle eines höhern Daseyns hinzusinken und anzubeten. – –

Am Haupteingang dieses Tempels, welcher im 11. und 12. Jahrhundert erbaut und zu Anfang des 16. von deutschen Baumeistern restaurirt und erweitert worden ist, prangen zu beiden Seiten zwei kostbar verzierte Glockenthürme, jeder 230 Fuß hoch; aber der größte Schmuck des ganzen Baus, der berühmte Mittelthurm, welcher sich, als einer der höchsten der Welt, aus der Mitte des Gotteshauses zu den Wolken streckte, ist leider nicht mehr! Vor 14 Jahren zündete bei heftigem Sturm ein Blitz in demselben, und die Gluth beschädigte die Mauern so sehr, daß er abgenommen werden mußte.

Nächst der Kathedrale wird in Rouen die Kirche von St. Ouen und die große Halle des ehemaligen Justizpallastes von allen Verehrern der altdeutschen Baukunst bewundert.




  1. Sichtbar sind in unserm schönen Stahlstiche die Thürme und der obere Theil des Gebäudes.