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dem Straßburger Münster, dem Dome in Köln, der Stephanskirche in Wien, an die Seite zu stellen ist, zeigt seinen Ursprung, den nationalen Sinn des Deutschen, in seiner ganzen Eigenthümlichkeit.

Bei dem Griechen tritt das Allgemeine als das Herrschende, im Leben, wie in der Kunst, immer hervor. Heiter und einfach weiß er Alles dem bestimmten Zweck anzupassen, und eben dadurch, daß Absicht und Ausführung auf eine Allen verständliche und klare Weise in Eins fallen, hat der Anblick eines griechischen Gebäudes etwas so allgemein Erfreuendes und Gefälliges. – Ganz anders der Deutsche in seinen Werken aus der Periode seiner eigenthümlichen Kunstentwickelung, dem Mittelalter. – In einen unermeßlichen Abgrund der Gedanken stürzt er sich kühn hinein, und eine Welt von Gestalten und Formen, jede mit gleicher Sorgfalt behandelt, quillt aus seiner belebenden Hand. So ist in der Rouener Kathedrale kaum eine Säule wie die andere, die Verzierungen der Kapitäler sind von unendlicher Mannichfaltigkeit, die Mauern und Thürme scheinen Seelen zu haben, und aus jedem Punkt drängt sich ein anders gestaltetes Leben hervor. Selbst das Licht muß sich in glänzende Farben zertheilen, die Farben in ätherische Gestalten zusammenrinnen, um durch mythische Beleuchtung das Ganze zu erhellen, damit allenthalben eine große, bedeutungsvolle, lebendige Welt uns entgegentrete. Alle Künste müssen sich gleichsam in eine Kunst verschmelzen, und eben diese Einheit der Malerei, der Skulptur und der Baukunst selbst ist das eigenthümliche Wesen der deutschen Bauart. – Man steht und staunt, sieht man das mit dem Kleinsten so sorgsam und ängstlich beschäftigte Streben und vergleicht damit die wundervoll-tiefe Absichtlichkeit und die Riesengröße des Gedankens, der das unübersehbare Ganze in Eins so harmonisch geordnet. – Unsymmetrisch heben sich die festen Mauern empor; stolz und schlank stehen die Säulen in ungezwungener Ordnung da; jede ist verschieden und doch nimmt man nicht einmal eine Verschiedenheit wahr. Bei aller und unendlicher Mannichfaltigkeit der Formen wird doch keiner der das Innere dieser Kathedrale Betretenden sich in seiner tiefen, stillen Empfindung gestört finden, und wenn dann die Orgel mit Meeresbrausen hereinstürmt, wenn der laute Gesang alter Choräle Freud und Leid aus den verborgensten Tiefen unserer Seele hervorlockt, dann bleibt uns nichts übrig, als die unmittelbarste Nähe des Heiligsten mit grauenvollem Entzücken zu empfinden und in dem überschwenglichen Gefühle eines höhern Daseyns hinzusinken und anzubeten. – –

Am Haupteingang dieses Tempels, welcher im 11. und 12. Jahrhundert erbaut und zu Anfang des 16. von deutschen Baumeistern restaurirt und erweitert worden ist, prangen zu beiden Seiten zwei kostbar verzierte Glockenthürme, jeder 230 Fuß hoch; aber der größte Schmuck des ganzen Baus, der berühmte Mittelthurm, welcher sich, als einer der höchsten der Welt, aus der Mitte des Gotteshauses zu den Wolken streckte, ist leider nicht mehr! Vor 14 Jahren zündete bei heftigem Sturm ein Blitz in demselben, und die Gluth beschädigte die Mauern so sehr, daß er abgenommen werden mußte.

Nächst der Kathedrale wird in Rouen die Kirche von St. Ouen und die große Halle des ehemaligen Justizpallastes von allen Verehrern der altdeutschen Baukunst bewundert.