Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Name d. etr. Himmelsgottes
Band VI A,2 (1937) S. 13871391
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tinia, tina. Name des etruskischen Himmelsgottes, der uns durch die antike Überlieferung, durch die Bildkunst und durch zahlreiche Inschriften bezeugt ist.

1. Überlieferung. tinia-Iuppiter ist das Haupt der kapitolinischen Trias, die ihr Symbol in dem etruskischen Tempel tripartitus hat und der in den etruskischen Städten drei Tempel und drei Tore geweiht waren: Serv. Aen. I 422. Er ist oberster Blitzgott, und nur ihm gilt das ,fulgur consulere‘. Als Blitzgott hat er drei Regionen des Himmels inne: über den ersten Blitz hat er allein Gewalt, den zweiten sendet er in Übereinstimmung mit den dii complices (consentes), den dritten, verderblichen, das ,fulgur peremptale‘ nur mit Billigung der dei involuti, die an Namen und Zahl unbestimmt sind und als höchste Macht selbst über Iuppiter stehen (Διὸς αἶσα!); Thulin Die Etr. Disciplin I 24ff. mit Sammlung der Quellenbelege und III 57. über die Penaten des Iuppiter: Wissowa Ges. Abh. 100. Zu dieser Überlieferung tritt als Bestätigung die Bronzeleber von Piacenza, die den Namen des t. in der Form tin und tins (Genitiv) enthält, und zwar in den Randregionen 15, 16: tin | cilen; tin ϑvf und den Innenregionen 1’, 15’ tins | ϑvf; tins ϑ | neϑ. Nach Thulin RVV III 32f. handelt es sich um die Regionen des Blitzgottes (Region 1’ ist dem Iuppiter der ersten manubiae 15, 16 dem der gefährlichen geweiht). Über die Entsprechung des Veiovis der Randregion 13 vgl. Thulin 29, 31 und unten Art. vetis.

2. In der Bildkunst (vgl. Pauli Myth. Lex. V 967ff.) ist tinia (die Namensform tina ist hier nur einmal Etr. Sp. Taf. 66 belegt) mit dem griechischen Zeus identisch. Die Bildszenen gehören dem epischen Kreise an oder enthalten doch dessen Gestalten und finden sich vorwiegend [1388] auf Bronzespiegeln. Ein beliebter Gegenstand war die Geburt der Athena: Taf. 66 = CII 459 (aus Arrezzo; Museo Civico in Bologna); Taf. 284, 1 = CII 2478 (Fundort unbekannt, Berl. Mus.), Taf. 284, 2 = 2471 bis (Brit. Mus.); V Taf. 6 = CII 394 (aus Praeneste, Brit. Mus.); V S. 12 und 225 = CII I 395 (Verbleib unbekannt?). Ohne Inschriften: Taf. 285, 1. 285, 2. 285 A. Vgl. die Beschreibung der Spiegel Art. menrva. – Die Geburt des Bacchus zeigt ein Spiegel des Museums zu Neapel; Taf. 82 = CII 2470: ϑalna enthebt den Knaben dem Schenkel des sitzenden t. Links apulu (Apollo), rechts die geflügelte mean mit Alabastron. Im Griff eine geflügelte Gestalt, über der eine unleserliche Inschrift steht. Sie hat eine Parallele auf einem neuerdings veröffentlichten Spiegel aus Vetulonia (Doro Levi Studi Etruschi V 519f. Tav. XXV): t., tura (Aphrodite), lasa. Die Szene wird vom Herausgeber als Fürbitte Aphrodites für die Troianer erklärt. Die Gestalt im Griff ist hier lasa veçuvia genannt. Eine Götterversammlung im Olymp stellt die obere Bildhälfte des berühmten Spiegels Taf. 181 = CII 2500 dar (aus Vulci, Pariser Münzkabinett). Dem in der Mitte thronenden t. hält hercle (Herakles) das Knäblein epeur entgegen. Links und rechts je eine Göttin (turan und ϑalna); vgl. Gerhard Etr. Sp. III 174f.; zur Datierung Pallotino Rendiconti d. Accademia dei Lincei, Ser. 6, Vol. VI 79 (3. Jhdt.). t. ist zugegen bei der Säugung des Herakles durch Iuno: Taf. 59 (aus Vulci, Berl. Mus.): t. uni, hercle, merva, mean, und V 60 (aus Volterra, Museo Archeologico Florenz). über diesen letzteren interessanten Spiegel mit längerer Inschrift vgl. Herbig o. Bd. VIII S. 689. Bayet Herclé 150. Buonamici Epigrafia Etrusca, tav. LIV. – Im Mittelpunkt einer Bildgruppe findet sich t. auf einer Reihe von Spiegelszenen, die zum Teil der Deutung ermangeln: Taf. 396 = CII 2477 (Vaticanisches Museum): t. zwischen ϑeϑis und ϑesan, die um das Leben ihrer Söhne flehen? Neben ϑesan steht menrva. Gerhard Etr. Sp. IV 44. Taf. 325 (praenestinischer Spiegel): Iuppiter als Schiedsrichter zwischen Venus und Proserpina (Venos Diovem Prosepnai). Zu den Inschriften vgl. Matthies Die praenestinischen Spiegel 52, 56. Taf. 74 = CII 2471 (Collegio Romano): t. zwischen turms (Hermes) und apulu. Taf. 75 = CII 2139 (aus Vulci, Vaticanisches Museum): t. zwischen turms und dem Jüngling (!) ϑalna. Taf. 282 = CII 2097 bis (aus Toscana, Verbleib unbekannt?): Liebesszene zwischen t. und uni; über die anwesende Göttin Iris (?) vgl. Gerhard Etr. Sp. IV 10f. Praenestinischer Spiegel (Vaticanisches Museum); Iuppiter, Iuno, Hercules [Iovei, Iuno, Hercele]. Zu den Inschriften Matthies 53, 56. Taf. 346: t. uni, hercle, aile (?); vgl. Gerhard Etr. Sp. IV 91. – Etr. Sp. V 98, 1 (Mus. Kopenhagen): t. uni, menrva; im Hintergrund turms. In der Komposition verwandt ist Taf. 393, wo Zeus und Hera, Athena und Hermes je eine Gruppe bilden. Körte V S. 126. Gerhard IV S. 41. - t. mit einer Lasa (lasa) und maris: V Taf. 1 = Append. al CII 832. Zur Gruppierung vgl. oben [1389] Taf. 74. Zeus mit einer ihn kränzenden Lasa (Nike?): V Taf. 2-3; im erotischen Spiel mit Lasen: Taf. 81, 1. 2 und V 3 a (ohne Inschriften). Auf dem Spiegel V, Nachtrag 21 sind die Beischriften (t)inia und ap(l)u wohl einem Irrtum des etruskischen Handwerkers zuzuschreiben, denn offenbar stellt die Szene Philoktet und Machaon dar. Körte weist auf das analoge Spiegelbild Taf. 294 (feltuce, maχan) hin. Zu nennen ist auch eine Gemme des Britischen Museums, wo die unerklärten Beischriften aχers und iepetus lauten, Walters Cat. of the bronzes nr. 730, Abb. auch Myth. Lex. III 2342. Auf Willkür beruhen anscheinend auch die Bezeichnungen tinias (Genitiv?), turan auf einem archaischen Scarabäus aus Chiusi mit Eos und Kephalos, Doro Levi Notizie 1931, 207. In der etruskischen Glyptik sind sonst kaum Darstellungen des t. bezeugt: Eine archaische Gemme ohne Inschriften zeigt Zeus und Athena, zwischen beiden ein Gigant. Furtwängler Antike Gemmen LXIV, 28 und III 201.

Auf den genannten Bildern trägt t. in der Regel die Züge des Göttervaters Zeus, des Richters und Vermittlers, häufig thronend; bärtig, mit Szepter und Blitz (der nur selten fehlt, so Taf. 284, 2. 285 A. 347. 393). Doch finden sich auch Darstellungen eines jugendlichen Gottes, bartlos, mit Kranz oder Nimbus. So Taf. 74 (für dies Bild erinnert Gerhard Etr. Sp. III 75f. an den Iuppiter-Liber und den Zeus Philios), Taf. 75. 282. 346. V 98, 1. Die Gemme Furtwängler Antike Gemmen XVIII 6 zeigt einen jünglinghaften Gott mit Blitz und Dreizack den Wagen besteigend. Nach Furtwängler III 203 ist die Vermischung der Iuppiter- und Neptunsymbole speziell italisch. Taf. 346 und V 98, 1 ist der junge Gott mit einem Nimbus versehen (doch wohl kein Kranz, wie Körte V S. 125, 4 annimmt, sondern ein Strahlenkranz von der Form wie V Taf. 101 und 158). Der jünglinghafte Typ solcher Darstellungen und der Nimbus deuten vermutlich auf eine ältere Bedeutung als Lichtgott hin (s. u. nr. 4). Das würde auch die Namensbeischrift tinias auf der altertümlichen Gemme aus Chiusi verständlicher machen. Über den italisch-etruskischen Typ des jugendlichen Lichtgottes Iuppiter vgl. Thulin Etr. Disciplin I 40ff., s. auch Gerhard Gotth. d. Etr., Anm. 41.

3. Die inschriftlichen Zeugnisse: Außer den oben erwähnten Formen des templum von Piacenza ist der Name bezeugt als tinia auf einer Buccherovase des Museums in Viterbo (6.-5. Jhdt.). Herbig S.-Ber. Akad. Münch. 1904, 507. Ferner auf einem Vasenfragment aus Orvieto: t. calusna (4.-3. Jhdt.). Buonamici Studi Etruschi VI 459, I b. calusna ist Beiname und kann den Namen einer gens enthalten, oder von dem Unterweltsgott calu hergeleitet sein. Mehrere Inschriften aus Orvieta zeigen die Formel t, tinscvil, CIE 4919. 4920. 5168. (Über tinscvil s. u.) Sie ist vermutlich auch zu ergänzen auf dem Steinfragment aus dem ,nordetruskischen‘ Feltre; Danielsson ad CIE 4920. Buonamici Studi Etruschi I 509ff. Die berühmte Kylix aus Tarquinii (im Museum dort) aus dem Ende des 6. Jhdts. enthält eine Dedikationsformel an (die) tinas cliniiaras, CII III 356. In diesem [1390] Kompositum sieht Hammarström die etruskische Übersetzung von Διόσκουροι; vgl. die paelignische Form lovis pucles (etr. Clan = ‚Sohn', Plural = clenar, faliskischer Genitiv/Dativ cliusi1). Die Deutung kann als nahezu gesichert gelten. Studi Etruschi V 363ff. Pallottino ebd. 244ff. Tav. XV 1. Auf einer Tasse aus Capua (4. Jhdt.) CII Suppl. I 517 begegnet gleichfalls der Genitiv tinas, vgl. zu dieser Inschrift zuletzt Pallottino 246. t. hermu tins steht auf einer Schaleninschrift aus Orvieto, Deecke Etr. Forsch. u. Stud. VI 356; zuletzt Pallottino 246. Meines Erachtens ist auch bei dem archaischen phallosförmigen Väschen aus Tarquinii CII 2333 ter in mi larϑ atar tinaia zu zerlegen, mit alter ,Genitivform‘ aia.

Die Wendung ϑesan tinś ϑesan aiseraś, V 19 der Agramer Leinwandrolle enthält vermutlich gleichfalls den Götternamen, da ϑesan = Eos ist und in dem Stamm von aiseras das etruskische Wort für Gott steckt. Zweifelhaft aber bleibt, ob die Form tineri der Pfeilerinschrift aus Tarquinii CII 2279 (Tomba Tifone, 4. Jhdt.) auf den Gott t. zu beziehen ist, da der Stamm tin- noch in einer anderen Bedeutung: ,diēs‘, bezeugt ist; s. u. Derselbe Zweifel besteht auch für tins auf dem Blei von Magliano, CIE 5237 B. Die versuchten Übersetzungen dieser Inschriften sind alle unsicher. Vgl. die Literatur bei Goldmann Studi Etruschi II 246.

Das Kompositum tinscvil (tinścvil in Arrezzo und Cortona, CIE 377. 440. 471f.) ist von dem ‚Genitiv‘ mit Suffix gebildet. Zur Parallele mit dem weiblichen Vornamen ϑan(a)χvil ,Tanaquil‘ Fiesel Forsch. z. griech. u. lat. Gramm. VII 60. Die Bedeutung des Worts dürfte, grob gesprochen, der von griechisch ἀνάθημα entsprechen. Eine eventuelle Analogie bildet das oskische iúvila auf Votivinschriften; vgl. Vetter Glotta XX 14. Altheim Griech. Götter im alten Rom 64; aber auch Whatmough Classial Quarterly XVI 181ff.

Zu nennen sind auch die Eigennamen, die vom Stamm tin wohl als theophore Namen gebildet sind. Der Gentilname tin-s (in Chiusi) CIE 3632 (tinis) bis 3648. Das in einer lateinischen Inschrift hier CIE 3647 sich findende Gentilicium Iuventius ist nach Pauli BB XXV 24 Versuch einer Übersetzung von tin-s. CIE 3868 (Perugis), 5058 (Orvieto) bezeugen gleichfalls etruskisch tins. In der Form auf -s ist mit Schäfer Altital. Stud. II 60 und W. Schulze Eigennamen 338 ein ‚Genitiv‘ zu sehen. Ein Vorname tinϑur auf einer Vase des 4. Jhdts. aus Suessula Ga 936 und der Gentilname tinϑuri CIE 517f. sowie lat. Tintorius sind als Composita von tin mit dem bekannten etruskischen Suffix -ϑur zu werten. W. Schulze Eigennamen 338. Über tinϑun = Τιθωνός s. dort.

Die Bedeutung ‚Tag‘ für tin- erhellt aus der achtmal in dem liber linteus von Agram begegnenden Formel tinśi tiurim avils χiś [Skutsch o. Bd. VI S. 1733: avil = ,annus‘, tiur = ,mensis‘, s. auch Art. tiv). Die Verbindung tim avilutuleiti | r der Capuataf. IV 21 - eventuell auch ebd. III 19 acas. ri tim antule - scheint gleichfalls das Wort ‚Tag‘ zu enthalten. -m wechselt etruskisch mit -n; vgl. unter anderer Literatur [1391] Danielsson Sertum philologicum f. Johannson 101.

4. Sprachliche Beurteilung. Wir haben also tin ,diēs‘ und adjektivisch (?) abgeleitetes tin-ia, tin (n?) a ‚Iovis‘. Neben ‚genitivischem‘ tinas des Götternamens steht auch tins, wie bei dem Appellativum. Es ist möglich, daß es sich hier um sekundäre Vokalsynkope handelt, vielleicht aber ist auch ein altes *tin = tinia anzusetzen [tinśi ist vermutlich Genitiv-Dativ, das Leinwandrolle fragm. nov. A 2 belegte tinśin adverbial?]

Der Göttername ist altbezeugt, zumindest seit dem 6. Jhdt. Die Parallele zu den Entwicklungen in den indogermanischen Sprachen wird niemand verkennen können. Hier wie dort sind von der gleichen Wurzel die Worte für den Himmel(sgott) und für Tag (als Zeit der Helle) herzuleiten. Altindisch Dyans, griechisch Ζεύς:, lateinisch Iovis verhalten sich zu etruskisch tin(i)a, wie lateinisch diēs, armenisch tiw zu etruskisch tin-. Wie oben deutlich wurde, ist auch den Darstellungen nach die Bedeutung eines Lichtgottes für t. wahrscheinlich. Aber auch lautlich liegt eine Übereinstimmung vor. Etruskisch tin läßt sich mit dem n-Stamm der indogermanischen Wortsippen identifizieren, der in lateinisch nundinae, sanskrit -dinam usw. bezeugt ist; vgl. Walde-Hofmann 346 (deus). Ernout-Meillet Dict. Etymol. 259 (diēs). Daß es sich um zufällige Laut- und Bedeutungsgleichheit handelt, wird dadurch unwahrscheinlich, daß etruskisch usil (Sonnengott) und tiv-r (Mond) — s. die beiden Artikel —, uns vor analoge Probleme stellen. Dadurch wird auch die Annahme einer etruskischen Entlehnung aus dem Italischen (t. von einer Nebenform *Dinos = Dies(piters), die Kretschmer Glotta XIII 111 vertreten hat, sehr unwahrscheinlich, denn es ist schwer vorstellbar, daß die Etrusker (nach einer Einwanderung im 9. Jhdt.?) Entlehnungen und Bedeutungsentwicklungen dieser Art vollzogen hätten (s. vor allem auch unter tiv). So bleibt eine andere Möglichkeit zu erwägen: daß die etruskischen Bezeichnungen auf vorhistorische Völker- und Sprachzusammenhänge zurückgehen, deren Provenienz und Charakter wir heute nicht zu bestimmen vermögen. Die von Kretschmer angenommene ,protindogermanische Schicht‘, die eine vorgeschichtliche Übernahme solcher Worte durch Tyrsener in Kleinasien vermittelt hätte (Glotta XIV 303ff.) ist nicht mehr als eine Hypothese. Für das etruskische Wort tin- fehlt es ihr um so mehr an Stützpunkten, als die Gleichsetzung von Τινδάρ[ιδαι] und etruskisch tinϑur (ebenso natürlich das von Altheim analogisch angesetzte hybride *div tures) lautlich und sachlich schwere Bedenken hat. Vgl. Hammarström Studi Etruschi V 368f. Fiesel 5. Beih. z. KZ 701. — Vgl. auch den Art. tinϑun.