Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Livia Drusilla Gattin des Augustus
Band XIII,1 (1926) S. 900924
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37) Livia Drusilla [Prosop. imp. Rom. II p. 291 nr. 210].

Name und Abstammung. Livia Drusilla, gewöhnlich Livia genannt; der Name Drusilla kommt fast stets in Verbindung mit L. vor, nur ausnahmsweise (Suet. Aug. 69. Nepos v. Att. 19) wird sie kurzhin Drusilla genannt (Plin. n. h. XV 137. Suet. Aug. 62.; Tib. 4. Cass. Dio XLVIII 15. CIL VI 13 179. Rev. arch. N. S. XXXVII (1879) 282f. (tit. Thasius). Mionnet Suppl. I p. 43 nr. 239). Offiziell führt sie nach ihrer Vermählung mit Octavian das Kognomen Drusilla nicht mehr (CIL VI 13 179 adn. VI 4616, 6. VI 883 usw.). Nach ihrer Adoption in die Familie der Iulier auf Grund des Testaments des Augustus ist ihr offizieller Name Iulia Augusta (z.B. CIL II 2038), sie wird aber häufig auch Livia Augusta (Suet. Cal. 23; Galba 5; Otho 1) oder nur Augusta (Suet. Claud. 3. Tac. passim. CIL

[901] IX 3661. XI 3303) oder nur Iulia (Mionnet V p. 553 nr. 204-215. Suppl. VIII 377 nr. 67) genannt. Auf den zahlreichen griechischen Münzen erscheint sie lange vor der Annahme des Augustatitels, zu Lebzeiten des Augustus, als Λιβία oder Λιουΐα, später als Σεβαστή schlechthin oder als Ἰουλία Σεβαστή. Nach der im J. 42 n. Chr. erfolgten Konsekration durch Kaiser Claudius lautet der offizielle Titel der L. Diva Augusta (CIL VIII 6987. X 1413).

Der Vater der L. war M. Livius Drusus Claudianus (s. o. Nr. 19, auch Bd. III S. 2846 Nr. 290), ein direkter Nachkomme des berühmten Censors Appius Claudias Pulcher, der durch Adoption zum Geschlecht der Livier gehörte (Vell. Paterc. II 75 und 94. Suet. Tib. 3. Tac. ann. VI 51. Cass. Dio XLVIII 44. CIL IX 3660 = Dessau 124. Athen. Mitt. IX 257 [tit. Samius]. Borghesi Oeuvres V 3 [1869] 314–317). In einigen Inschriften begegnet auch der Name der Mutter der L., Alfidia (CIL II 1667 [vg]. Bull. de l’école franç. d’Athènes I 11 nr. 9]. IX 3661 = Dessau 125), deren Vater Aufidius Lurco in Fundi das Amt eines decurio bekleidet hatte, dann aber auch in Rom zu Ämtern und Ehrenstellen gelangt war (Suet. Tib. 5; Cal. 23).

Leben bis zur Ehe mit Augustus. L. wurde am 30. Januar 58 v. Chr. geboren (Henzen Acta fratr. Arv. XXIV. XLIII; das Geburtsjahr läßt sich nur aus dem Todesjahr und der Altersangabe bei Cass. Dio LVIII 2 errechnen; über die scheinbare Unstimmigkeit zwischen der Altersangabe bei Plin. n. h. XIV 60 und bei Cass. Dio a. a. O. vgl. Gardthausen II 2, S. 633, 9). Die Kindheit der L. ist in Dunkel gehüllt. Kaum erwachsen, wurde sie, wohl im J. 43 v. Chr., mit dem Brudersohn ihres Vaters, Ti. Claudius Nero, vermählt (o. Bd. III S. 2777 Nr. 254. CIL VI 15 567. IX 3662 = Dessau 125a) und gebar am 16. November 42 v. Chr. in Rom, wo Ti. Claudius Nero auf dem Palatin ein Haus besaß, einen Sohn, der den gleichen Namen erhielt wie sein Vater, den späteren Kaiser Tiberius (Dessau 108. Suet. Tib. 5. 14 Willrich Livia [1911] 75; o. Bd. X S. 478 Nr. 154). Diese Ereignisse fallen mitten in die bewegten Zeitläufte nach der Ermordung Caesars. Der Vater und der Gatte der L. waren an den Kämpfen dieser Epoche nicht unbeteiligt. Beide standen zunächst auf seiten der Caesarmörder, und der Vater der L. gab sich nach der Schlacht bei Philippi selbst den Tod (Vell. Paterc. II 71. Cass. Dio XLVIII 44). L.s Gatte dagegen, der unter Caesar zu Einfluß und Ehrenstellen gelangt war (Suet. Tib. 4. CIL XII p. 83), ließ sich bald von den Triumvirn für ihre Sache gewinnen (Suet. a. a. O.), um sich dann im Kampf zwischen den drei Machthabern auf die Seite der Gegner des Octavian zu schlagen. Auch nach der Niederlage des L. Antonius wollte er den Kampf noch auf eigene Faust fortsetzen, mußte aber bald, geächtet, dem vordringenden Octavian weichen. Seine Gattin L. mit dem kleinen Tiberius entbot er zu sich, um mit seiner Familie zusammen zunächst zu Sex. Pompeius nach Sizilien zu stoßen (Tac. ann. V 1. VI 51. Cass. Dio XLVIII 15). Die Schwierigkeiten der Flucht, die Gefahr, in die der Knabe Tiberius die Fliehenden durch

[902] sein Geschrei versetzte, spielen in der Erzählung dieser Ereignisse bei den Schriftstellern eine große Rolle (Vell. Paterc. II 75. Suet. Tib. 6). Aber auch in Sizilien fanden die Flüchtigen noch keine Ruhe, da Ti. Claudius Nero sich durch das Verhalten des Sex. Pompeius gekränkt fühlte (Suet. Tib. 4). Er beschloß darum, sich nach Griechenland zu begeben und M. Antonius aufzusuchen. Zunächst machten die Flüchtlinge eine Zeitlang Rast in Sparta (Suet. Tib. 6). Für die der L. damals gewährte Gastfreundschaft stattete Augustus später auf einer seiner Reisen nach dem Orient der Stadt seinen besonderen Dank ab (Cass. Dio LIV 7; s. u.). Auch die Flucht durch Griechenland verlief nicht ohne gefährliche Zwischenfälle. Auf einsamen Pfaden überraschte die Flüchtlinge mitten in der Nacht ein Waldbrand, bei dem schon L.s Kleid und Haar in Flammen gesetzt wurden, so daß sie sich nur mit Mühe in Sicherheit bringen konnte (Suet. Tib. 6). Bald nach der Ankunft bei Antonius aber erfolgte ein Umschwung der politischen Lage, der zugleich für L.s Geschick von ausschlaggebender Bedeutung wurde.

L. und Augustus. Zwischen Octavian und Antonius fand eine Verständigung statt, und im Gefolge des Antonius kehrte auch Ti. Claudius Nero mit seiner Gattin und seinem Söhnchen nach Rom zurück (Vell. Paterc. II 77. Tac. ann. V 1. Suet. Tib. 4. Drumann I 431, A. 17). Hier lernte Octavian die junge, schöne (über die Bildnisse s. u.) Frau kennen und wurde von heftiger Leidenschaft für sie ergriffen. Seine Liebe scheint nicht unerwidert geblieben zu sein (Suet. Aug. 62. Cass. Dio XLVIII 34), denn die Überstürzung, mit der die Scheidung des Octavian von Scribonia und die der L. von ihrem Gatten betrieben wurde‚ spricht nicht für die Ansicht Ferreros, daß hier auf beiden Seiten ledig1ich politische Überlegungen den Ausschlag gaben (Ferrero Die Frauen der Caesaren, übers. von Kapff², Stuttg. 1914; vgl. auch Tac. ann. V 1). L. erwartete damals in wenigen Monaten die Geburt ihres zweiten Kindes (Suet. Tib. 4), und Octavian hielt es für angebracht, die pontifices zu befragen, ob dieser Umstand kein Hindernis für die sofortige Heirat bilde (Tac. ann. V 1. Cass. Dio XLVIII 44). Für diesen außergewöhnlichen Fall erfanden die pontifices eine außergewöhnlich scharfsinnige Antwort (Cass. Dio a. a. O.), und so wurde, wohl zu Beginn des J. 38 v. Chr., die Hochzeit gefeiert. Der verlassene Gatte der L. ließ sich bereit finden, bei der Hochzeitsfeier die Stelle des Brautvaters zu vertreten (Suet. Tib. 4. Cass, Dio XLVIII 44). Daß die sonderbare überstürzte Art der Scheidung und neuen Eheschließung Anstoß erregte und Stoff zu allerhand Anekdoten und ernstgemeinter Entrüstung bot, ist selbstverständlich (Suet. Aug. 69; Cal. 25. Cass. Dio XLVIII 44), zumal die Kritik an der späteren Ehegesetzgebung des Augustus wird an diesen Ereignissen nicht vorübergegangen sein. Drei Monate nach der Hochzeit kam der zweite Sohn der L.‚ Nero Claudius Drusus (o. Bd. III S. 2703 Nr. 139), zur Welt. Der Geburtstag des Drusus ist nicht genau zu ermitteln, er fällt in die Zeit von Ende März bis Anfang Juli des J. 38 v. Chr. (Gardthausen Augustus und seine Zeit II 2

[903] S. 634, 14, o. Bd. III S. 2706). Die Spottvögel in Rom machten sich auch diese Begebenheit zunutze, und bald war überall der Spottvers: τοῖς εὐτυχοῦσι καὶ τρίμηνα παιδία (CAF III 449 nr. 213. Suet. Claud. 1. Cass. Dio XLVIII 44) in Umlauf. Es wurde aber auch im Ernst die Frage diskutiert, ob Drusus nicht ein im Ehebruch mit L. gezeugter natürlicher Sohn des Augustus sei (Suet. Claud. 1). Vielleicht war dies der Grund, der den Augustus veranlaßte, den richtigen Sachverhalt in seinem Tagebuch zu verzeichnen (Cass. Dio XLVIII 44). Den neugeborenen Knaben schickte er sofort dem Vater zu, in dessen Hause er zusammen mit seinem älteren Bruder Tiberius bis zum Tode des Ti. Claudius Nero, der im J. 33 v. Chr. erfolgte (Suet. Tib. 6. Cass. Dio a. a. O.), verblieb. Die beiden Knaben kehrten darauf zu ihrer Mutter ins Haus des Octavian, den ihr Vater zu ihrem Vormund bestellt hatte, zurück (Cass. Dio a. a. O.). Die Ehe des Octavian und der L. blieb kinderlos, so sehr sich auch Augustus zur Stütze und Fortpflanzung der Dynastie einen männlichen Leibeserben wünschte. Das einzige Kind der beiden kam zu früh und tot zur Welt (Suet. Aug. 63. Plin. n. h. VII 57).

Die so mit allen Zeichen der Überstürzung erfolgte Eheschließung zwischen Augustus und L. erwies sich nicht als eine übereilte. L. war nach ihren Geistes- und Charakteranlagen ganz die geeignete Persönlichkeit, sich ihre Stellung neben Augustus zu schaffen, zu seiner unentbehrlichen Helferin und Beraterin zu erwachsen und nicht nur ihr Amt als Hausfrau und Mutter in mustergültiger Weise zu verwalten, sondern auch die Stelle der Kaiserin, der ersten Frau des Reiches, voll auszufüllen, ja eigentlich erst zu begründen (Suet. Aug. 62: Liviam Drusillam .. .. abduxit dilexitque et probavit unice ac perseveranter). Schon bei Betrachtung der gut beglaubigten Bildnisse der L. (s. u.) erkennt man, daß sie nicht nur eine außergewöhnlich schöne, sondern auch sehr willensstarke und energische Frau war, die das Gefühl nicht leicht über den Verstand Herr werden ließ. Dieser Eindruck wird durch die Schilderung ihres Charakters bei den antiken Schriftstellern bestätigt. Sie konnte, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, sich auch über gelegentliche eheliche Untreue ihres Gatten in großzügiger Weise hinwegsetzen (Suet. Aug. 69. Tac. ann. V 1: uxcor facilis. Cass. Dio LIV 19. LVI 43). Der törichten Ausschmückung des Berichts bei Cass. Dio LIV 19 von dem Schönheitswettstreit zwischen L. und Terentia, der Gattin des Maecenas und Geliebten des Augustus, anläßlich der Reise nach Gallien im J. 16 v. Chr. (Gardthausen I 2, 776ff.) und dem noch unsinnigeren Gerücht, daß L. selbst den Gatten zu Ausschweifungen ermuntert habe (Suet. Aug. 71), braucht man deshalb noch keinen Glauben zu schenken (im Hinblick auf dies Verhalten der L. erscheint die Deutung des Bildes von Hermes, Argus und Io, das im Hause der L. noch erhalten ist, bei Gardthausen I 2, 1026 doppelt anfechtbar, zumal L. erst nach dem Tode des Augustus das Haus, in dem das fragliche Bild gefunden wurde, bezogen hat [Willrich 76]). L. selbst leitete aus dem Benehmen ihres Gatten [904] für sich nicht die gleichen Rechte her, sondern wachte sorgfältig über ihren Ruf (Sen. dial. VI 4, 3: opinionis suae custos diligentissima. Tac. ann. V 1: sanctitate domus priscum ad morem. Val. Max. VI 1, 1).

Obwohl ihr Pflichtenkreis weit über den einer römischen Hausfrau alten Schlages hinausging, sah sie doch in erster Linie ihren Stolz darin, ihrem großen Hauswesen in würdiger Weise vorzustehen und durch ihre Lebens- und Haushaltsführung gleichzeitig anderen zum Muster zu dienen (Tac. ann. V 1). Augustus trug kein Gewand, das nicht im Hause von den Sklavinnen unter Aufsicht seiner Gattin selbst gefertigt war (Suet. Aug. 73). Durch ihre schlichte Lebensführung, durch ihre Abneigung gegen Tafel- und Kleiderluxus (Plin. n. h. XIV 60. XIX 29. Cass. Dio LIV 16) kam sie den Bestrebungen des Augustus, der Sittenverwilderung in der Hauptstadt zu steuern, entgegen, wie sie auch auf ihre Weise die Sitten- und Ehegesetzgebung des Kaisers, auf die Ferrero 48 ihr einen bedeutenden Einfluß zuschreibt, unterstützte, indem sie Töchtern verarmter Familien Aussteuern gewährte und die Mittel zur Erziehung vieler Kinder senatorischen Standes zur Verfügung stellte (Cass. Dio LVIII 2). Vielleicht steht damit ihre Verehrung als Ehepatronin in Ägypten im Zusammenhang (Arch. f. Papyrusf. V 34l). Aber nicht nur in diesen, dem eigentlichen Interessegebiet der Frau naheliegenden Fragen konnte Augustus sich auf den Rat und die tätige Mithilfe der L. stützen. Daß er wichtige Dinge mit ihr zu besprechen pflegte (Sen. dial. VI 3, 3: cui non tantum quae in publicum emittuntur nota, sed omnes animorum vestrorum motus) und auf ihre Meinung Gewicht legte, geht daraus hervor, daß er für derartige Unterredungen ein Konzept anfertigte, um die wichtigsten Punkte beisammen zu haben und sachlich erörtern zu können, vielleicht auch, um die Meinung der Gattin zu jedem Punkt zu notieren und später noch einmal in Ruhe durchzudenken (Suet. Aug. 84). Aus dieser nicht nur bei Unterredungen mit L. geübten Gewohnheit schließen zu wollen, daß Augustus damit seinem Mißtrauen gegen L. Ausdruck gegeben habe, scheint nicht statthaft (Gardthausen I 2, 1024). Aus den Worten bei Tac. ann. V 1: cum artibus mariti bene composita geht hervor, daß sie den politischen Maßnahmen des Augustus volles Verständnis entgegenbrachte. Ihren Einfluß auf den Gatten scheint sie mit Vorliebe dahin geltend gemacht zu haben, seine strengeren Maßnahmen zu mildern, soweit die berechtigten Interessen der Politik es zuließen, wie bei der Verschwörung des Cornelius Cinna im J. 4 v. Chr. (Cass. Dio LV 22. LVIII 2. Sen. de clem. I 9, 6). Es wäre aber verfehlt, wollte man aus diesen Berichten gleich auf einen beherrschenden Einfluß der Kaiserin auf Augustus schließen. Daß Augustus seinen Standpunkt der Gattin gegenüber wohl zu wahren wußte, zeigt der Fall eines ihrer Schützlinge, eines Galliers, für den sie von Augustus das Bürgerrecht erbat, aber nur die Bewilligung der Steuerfreiheit durchsetzte (Suet. Aug. 40).

Augustus hatte sich im Laufe der Zeit allmählich so daran gewöhnt, in allen wichtigen [905] Angelegenheiten L.s Rat zu hören, daß sie ihn auf fast allen seinen Reisen, auch wenn sie ihn über Jahr und Tag von Rom fernhielten, begleiten mußte (Sen. dial. VI 4, 3. Tac. ann. III 34). Aus der Notiz bei Plut. Ant. 83 schließen zu wollen, daß L. den Octavian nach dem Sieg über Antonius auch nach Ägypten begleitete (Aschbach Livia, Gemahlin des Kais. Augustus 1864, 11), scheint kaum berechtigt. Man kann nur die Folgerung daraus ziehen, daB auch Kleopatra der Fürbitte der L. einen für ihre Sache günstigen Einfluß auf Augustus zuschrieb. Mit Sicherheit läßt sich nachweisen, daß L. an der zweiten Orientreise des Augustus im J. 22 v. Chr. teilnahm, bei der ihretwegen sogar eine Milchziege mit an Bord genommen wurde (Krinagoras c. 26 Rub. Cichorius Rom u. Mytilene 58. Gardthausen I 2, 810). Wäre nicht L. in seiner Begleitung gewesen, hätte der Kaiser auch kaum Veranlassung genommen, Sparta zu besuchen, das jetzt die Belohnung für die einstmals der L. auf der Flucht gewährte Hilfe und Gastfreundschaft erhielt (Cass. Dio LIV 7). An Athen aber fuhr der Kaiser vorüber, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Athener, um die verlorene Gunst des Kaisers wiederzugewinnen, damals die göttliche Verehrung der L. und der Tochter des Kaisers, der Iulia, beschlossen haben (IG III 316. Athen. Mitt. XIV [1889] 32l. Judeich Topogr. v. Athen 94. 221 A. 16). Der Kultus der neuen Göttinnen wurde mit dem der Hestia auf der Akropolis verbunden (Willrich 64). Vielleicht stiftete L. auf dieser Reise das goldene Ei für den Tempel von Delphi (Plut. de Ei apud Delphos 3). Bei dem Besuch Syriens erschien mit ihrem Bruder auch die Schwester des Herodes, Salome, zur Begrüßung des Kaiserpaares, und die kurze Bekanntschaft genügte zur Anknüpfung einer für beide Frauen bedeutungsvollen Freundschaft (u. S. 914).

Daß sich L. auch bei der Reise des Augustus nach Gallien im J. 16 v. Chr. in seiner Begleitung befand, wurde schon erwähnt (o. S. 904). Abgesehen von der Reise des Kaiserpaares nach Ticinum zum Empfang der Leiche des Drusus und von der letzten Reise des Kaisers nach Kampanien (s. u.) läßt sich das Wort des Tac. ann. III 34: quotiens divum Augustum in Occidentem atque Orientem meavisse comite Livia mit positiven Nachrichten nicht belegen, wenn es sicherlich auch noch für weit mehr Fälle zutrifft.

Wir sehen jedenfalls, daß L. keineswegs auf den engen Pflichtenkreis der römischen Matrone im Hause beschränkt war, sondern daß sie als Gattin des ersten Mannes im Reich eine Sonderstellung einnahm und auch im öffentlichen Leben eine wichtige Rolle spielte.

Auch gesetzlich war diese Sonderstellung der L. schon bald nach ihrer Verheiratung mit Octavian festgelegt worden. Schon im J. 35 v. Chr. erhielten L. und Octavia, die Schwester des Octavian und Gattin des Antonius, das Recht, ihr Vermögen selbst zu verwalten. Außerdem wurde ihnen die sacrosanctitas, die Unverletzlichkeit der Volkstribunen, zuerkannt. Auch die Errichtung von Bildnisstatuen der beiden Frauen wurde schon damals gestattet (Cass. Dio XLIX 38. LVIII 2. Willrich 54). Das Recht der selbständigen [906] Vermögensverwaltung war für L. keine leere Formel, da sie wohl schon damals eigenen Besitz hatte und allmählich durch Schenkungeu, Erbschaften usw. immer mehr hinzugewann‚ so daß sie ein ganzes Heer von Beamten, Freigelassenen und Sklaven beschäftigt haben muß. Schon bald nach ihrer Verheiratung mit Octavian besaß sie die berühmte Villa ad Gallinas bei Primaporta, deren Lorbeerhain für das iulische Haus eine besondere Bedeutung gewann (Cass. Dio LVIII 52. Plin. n. h. XV 137ff. Suet. Gal. 1. Serv. Aen. VI 230). Die hier gefundene schöne Statue des Augustus von Primaporta ist vielleicht auch im Auftrage und auf Kosten der L. hergestellt. Ihre Entstehung setzt Studniczka (Röm. Mitt. XXV 28ff.) ins J. 18 v. Chr. Wie der Name (aes Livianum) zeigt, besaß die Kaiserin, ebenfalls schon zu Lebzeiten des Augustus, ein Bergwerk in Gallien, aus dem eine besondere Kupferart gewonnen wurde (Plin. n. h. XXXIV 3. Hirschfeld Kaiserl. Verwaltungsb.² 158). Gleichfalls noch zu Lebzeiten des Gemahls hat sie auf eigene Kosten den verfallenen Tempel der Fortuna muliebris an der Via Latina wiederherstellen lassen (CIL VI 883 Val. Max. I 8. 4). L. beteiligte sich auch an den Kosten für die Ausstattung der penteterischen Spiele, die Herodes im J. 10 v. Chr. bei der Einweihung der neuen Hafenstadt Caesarea stiftete. Auch für den neuen Tempel in Jerusalem sandte das Kaiserpaar dem befreundeten Herrscher reiche Weihgeschenke (Joseph. ant. Iud. XVI 5, 1; bell. Iud. V 13. 6). Auf dem Kapitol weihte L. einen riesigen Kristall von 150 Pfund (Plin. n. h. XXXVII 27).

Für ihre Sklaven und Freigelassenen stiftete L. ein eigenes Grabmal, das Columbarium (CIL VI p. 878ff.), und die in den Inschriften genannten verschiedenen Titel der hier bestatteten Beamten der Kaiserin zeigen, daß die Verwaltung ihres Vermögens und die Aufgaben ihrer Haushaltung, schon bei Lebzeiten ihres Gatten, ein ganz bestimmt abgestuftes Beamtensystem erforderten (CIL VI 3965-3968. VI 4250. 9064. VI 3938. 8722. VI 4358. Hirschfeld Kaiserl. Verwaltungsb.² 27, 1).

Nicht nur auf den Reisen des Kaiserpaares trat L. aus den Schranken des Hauses an die Öffentlichkeit. Auch in Rom hatte sie Repräsentationspflichten zu erfüllen, und ihr würdevolles Auftreten in der Öffentlichkeit war mustergültig und wurde von Augustus seiner Tochter Iulia zur Nacheiferung empfohlen (Cass. Dio XLIV 16. Macrob. Sat. II 5). Zusammen mit dem Gatten wurde ihr die Auszeichnung zuteil, im Tempel der Concordia speisen zu dürfen (Cass. Dio XLIX 18. Gesandte, die dem Kaiser in Rom ein Gesuch vorzutragen hatten, sicherten sich auch die Fürsprache der Kaiserin. Andere wieder machten ihr ihren Besuch, um ihr für einen Gnadenbeweis Ihren Dank abzustatten (IG XII 2, 60 Z. 28–34. XII 2, 58 b; merkwürdig ist, daß sie hier im J. 29 v. Chr. schon als Ἰουλία erscheint). Namentlich im Osten des Reiches suchten die Vasallenfürsten und Städte sich sehr bald die Gunst des Kaisers zu sichern, indem sie auch die Kaiserin durch Inschriften ehrten und ihr Bild auf Ihre Münzen setzten. Solche Auszeichnungen sind vielleicht mehrfach – wie in Athen – mit den Reisen des [907] Kaiserpaares und persönlicher Anwesenheit in den betreffenden Städten und Gemeinden in Verbindung zu setzen (CIG 2370 [Inseln des äg. Meeres]. Journ. hell. stud. XII [1891] 176). Wichtig ist, daß die Kaiserin lange vor der Konsekration ihres Gatten und ihrer eigenen – also noch zu Lebzeiten des Augustus – als Göttin oder die Inkarnation irgendeiner Gottheit erscheint (Riewald De imperatorum Romanorum cum certis dis et comparatione et aequatione, Diss. Hall. phil. XX [1912] 287).

Als θεὰ εὐεργέτις wurde sie in Thasos verehrt (Rev. arch. [1879] N. S. XXXVII 283, vgl. IG XII 8 [1909] nr. 381 A. B vom J. 19-12 v. Chr.) Auf Münzen von Pergamon erscheint sie als Livia Hera, auch hier in Verbindung mit ihrer Stieftochter Iulia (Mionnet II 595 nr. 542. Suppl. V. 429 nr. 935. Cat. Gr. coins of the Brit. Mus. Bd. Mysia 139 nr. 248). Auf anderen Münzen heißt sie Σεβαστῆς Ἥρα (Mionnet III 73 nr. 389). In Klazomenai haben sich Münzen mit den Bildnissen der L. und des Augustus gefunden, die die Legende Θεὰ Λιβία tragen (Mionnet III 70 nr. 79. Suppl. VI 92 nr. 80. Cat. Gr. Coins, Ionia 31 nr. 119). Auch auf der Insel Lesbos wird die Kaiserin als Θεὰ Λιουΐα verehrt (Mionnet III 39 nr. 55). Häufig wird sie als Demeter durch die dieser Göttin charakteristischen Attribute gekennzeichnet, ohne daß die Legende sie ausdrücklich so benennt (vgl. Cat. of Gr. coins, Lydia 344 nr. 114). In vereinzelten Beispielen erscheint sie als Ὑγίεια (in Athen: IG III 460; vgl. Judeich Topograph. von Athen 221, A. 16), als Πρόνοια (CIG 3931 a15 p. 1062, Vgl. Willrich 66) und als Εὐθηνία (Cat. Gr. coins, Alexandreia p. 4 nr. 28. vgl. Athen. Mitt. XXXV [1910] 443). Auch die Vasallenfürsten des Ostens setzten das Bild der Kaiserin auf ihre Münzen (Cat. Gr. coins of the Brit. Mus. Thrace 208; auf den Münzen des Königreichs Pontus erscheint sie mit den Attributen der Aphrodite: Cat. Gr. coins Pontus 1. 51. 54). (Eine kurze Übersicht über die verschiedenen Formen der L.-Verehrung gibt Heinen Zur Begründung des römischen Kaiserkults, Klio XI 175f, vgl. auch Hirschfeld Kl. Schriften [1913] 484 und Kahrstedt Frauen auf antiken Münzen, Klio X 289ff.). In dem Augustus und der Göttin Roma geweihten Tempel der Provinz Asia wurde L. als Σεβαστή in den Kult mit eingeschlossen. Ihre Bilder wurden mit denen ihres Gemahls im Tempel aufgestellt und ihr Geburtstag als Festtag, allerdings nicht an dem eigentlichen Datum, sondern in Verbindung mit dem des Augustus begangen (Fränkel Inschriften von Pergam. [1895] 261ff.). Aus diesen der Kaiserin bei Lebzeiten erwiesenen göttlichen Ehrungen, die im Westen des Reichs damals noch als etwas Ungewöhnliches angesehen wurden, erkennt man, daß L. im Orient einfach als die Nachfolgerin der hellenistischen Königinnen galt, bei denen das schon bei ihren Lebzeiten die übliche Form der Verehrung bildete.

Wenn L. durch ihre Repräsentationspflichten und als ständige Begleiterin, Beraterin und Pflegerin ihres Gatten, wie wir gesehen haben, auch im öffentlichen Leben eine bedeutende Rolle spielte, so ist doch ihr Leben am engsten mit den Schicksalen der einzelnen Familienmitglieder verknüpft, [908] und gerade in den die Familien betreffenden Fragen wird Augustus sich in erster Linie auf den Rat der Gattin gestützt haben. Die Familienpolitik ist daher auch von den meisten Schriftstellern als das ureigenste Betätigungsfeld der Kaiserin betrachtet worden.

Nach dem Tode des Vaters wuchsen die beiden Knaben der L.‚ Tiberius und Drusus, zusammen mit der Tochter des Augustus aus der Ehe mit Scribonia, Iulia, die einige Monate älter war als der jüngere Sohn der L.‚ im Hause des Augustus auf. Nachdem Tiberius im J. 27 v. Chr. die Männertoga angelegt hatte (s. o. Bd. X S. 479), veranstaltete er auf Kosten seiner Mutter und seines Stiefvaters prächtige Leichenspiele für seinen verstorbenen Vater und Großvater (Suet. Tib. 7: cuncta magnifice, impensa matris ac vitrici). Willrich betont mit Recht, daß es von vornherein nahegelegen hätte, durch eine Verbindung zwischen Tiberius und Iulia die Nachfolgerfrage zu lösen, aber die damalige politische Konstellation, namentlich die Rücksicht auf Agrippa, den Freund und Mitarbeiter des Kaisers, ließen diese einfachste Lösung nicht zu. Iulias Hand war, schon als Tiberius noch im Hause seines Vaters Nero lebte, einem Sohn des Antonius zugesagt (Suet. Aug. 63), und kurz nach dem Tode seines leiblichen Vaters wurde Tiberius‚ schon im Hause des Stiefvaters, mit Vipsania, der Tochter des Agrippa, verlobt (Corn. Nepos Att. 19) im J. 33/32 v. Chr. (Willrich 18, 2). Durch den Bruch zwischen den Triumvirn löste sich auch die Verlobung zwischen der Tochter des Octavian und dem Sohne des Antonius von selbst, aber nicht nur die Rücksicht auf Agrippa wird Octavian veranlaßt haben, die Verlobung zwischen Tiberius und Vipsania bestehen zu lassen und die Hand seiner Tochter Iulia dem Sohn seiner Schwester Octavia, dem jungen Marcellus, zu bestimmen, sondern auch der Wunsch, seinen Nachfolger und Erben aus der Reihe seiner nächsten Blutsverwandten zu entnehmen (Suet. Aug. 63). Aber schon im J. 23 v. Chr. wurde der junge Gatte der Iulia nach kurzer Krankheit vom Tode dahingerafft. In dem Bericht über die Ereignisse bei Cass. Dio LIII 33 taucht sofort das Gerücht auf, daß L. am Tode des Marcellus nicht unschuldig gewesen sei, obwohl der Historiker selbst zugibt, daß er an die Wahrheit des Gerüchtes nicht glaube und daß in jenem Jahre viele derselben Krankheit erlegen seien. Auch aus der Bemerkung bei Seneca über den Haß der Octavia gegen L. (dial. VI 2, 5) kann man die Überzeugung des Seneca von der Schuld der L. am Tode des Marcellus nicht herauslesen. Daß L. eine ehrgeizige und kühle Verstandesnatur war und auch für ihre Söhne ehrgeizige Pläne gehegt hat, soll nicht geleugnet werden. Aber diese Eigenschaften stempeln sie noch nicht zur Verbrecherin, und gerade bei ihrem politischen Scharfblick und ihrer Einsicht in die damalige Konstellation mußte sie sich sagen, daß durch den Tod des Marcellus nur dem Agrippa der Weg freigemacht wurde. Augustus konnte die Hilfe des Agrippa, der schon die Bevorzugung des Marcellus mit Unwillen ertragen hatte, nicht entbehren und durfte es nicht wagen, ihn jetzt in doppelter Weise zu brüskieren, indem er seiner Tochter den Verlobten nahm und [909] ihm, dem bewährten Feldherrn, einen jungen, noch kaum erprobten Mann vor die Nase setzte, der nicht wie Marcellus auf das Vorrecht der Blutsverwandtschaft mit dem Kaiser pochen konnte. Es ist durchaus nicht erwiesen, daß schon damals, auch nur zwischen Augustus und L., die Kombination Tiberius-Iulia überhaupt erwogen worden ist. Der ganzen kritischen Lage nach blieb Augustus gar keine andere Entscheidung übrig, als sich mit der Hand der Iulia aufs neue die Hilfe und Mitarbeit des Agrippa bei den damaligen schwierigen Aufgaben zu sichern (21 v. Chr. Cass. Dio LIV 6. Gardthausen I 2, 809. I 3, 1099) und L. wäre die letzte gewesen, sich dieser Einsicht zu verschließen. Nachdem diese Angelegenheit glücklich geregelt war, konnte das Kaiserpaar, den Westen in der Obhut des Agrippa zurücklassend, die oben erwähnte Orientreise antreten. Einige Jahre später fand dann auch die Vermählung der beiden L.-Söhne statt. Tiberius heiratete die ihm seit ihrem ersten Lebensjahr anverlobte Vipsania, und Drusus wurde mit der jüngsten Tochter der Octavia und Nichte des Augustus, Antonia, vermählt (Suet. Tib. 7). Voller Freude konnte L. an dem sich glücklich gestaltenden Familienleben der beiden Söhne teilnehmen (Suet. a. O. Val. Max. IV 33. Joseph. ant. Iud. XVIII § 180) und voll Stolz auf ihre Feldherrntaten in den Kämpfen gegen die Rätier und Noriker blicken (Cass. Dio XLIV 22). Nicht gleiche Freude erlebte das Kaiserpaar an der Ehe der Tochter bzw. Stieftochter Iulia, obwohl sie ihrem Gatten fünf Kinder gebar und der Kaiser sich geflissentlich der Einsicht verschloß, daß der Lebenswandel seiner Tochter alles andere als ehrsam war (Gardthausen I 3, 1099). Der unerwartete Tod des Agrippa im J. 12 v. Chr. warf nun plötzlich die im J. 21 v. Chr. gefundene Lösung der Personenfrage wieder über den Haufen. Die Nachfolgerfrage zwar blieb unberührt, da Augustus bereits zu Lebzeiten des Agrippa die beiden ältesten Enkelsöhne adoptiert hatte (Suet. Aug. 64). Diese Kinder aber konnten zunächst die Stelle ihres Vaters im Reich nicht ausfüllen, und so mußte sich Augustus nach einem Vormund für sie umsehen, dem aber mit der Hand der Kaisertochter nicht die Nachfolge in der Herrschaft, sondern nur die Stelle des Platzhalters für die Kaiserenkel verliehen wurde. Die Kombination Iulia–Tiberius lag jetzt außerordentlich nahe, auch ohne daß L. – wie Gardthausen (I 2, 1028), ohne seine Vermutung durch eine Andeutung in den Berichten der Historiker zu stützen, annimmt – gegen den Widerstand aller Beteiligten für diese Lösung zu kämpfen brauchte. Denn die Stellung, die ihr Sohn durch diese Heirat als Platzhalter und Stiefvater der anmaßenden Kaiserenkel und präsumptiven Thronfolger und als Gatte der berüchtigten Iulia erlangte, war keine beneidenswerte, zumal er sehr gegen seinen Willen seine geliebte Gattin Vipsania, die Mutter seines Sohnes Drusus, verstoßen mußte (Suet. Tib. 7). So wird L. nicht ohne Sorge die neue Ordnung der Dinge betrachtet haben, deren politische Notwendigkeit sie einsah. Und ihre Besorgnisse täuschten sie nicht, denn nach kurzer Eintracht zwischen den Ehegatten verfiel Iulia wieder in ihren alten Lebenswandel und das eheliche Zusammenleben der [910] Beiden nahm ein Ende. Die Politik hatte das Lebensglück des Tiberius zerbrochen (Suet. Tib. a. a. O.).

Als Feldherren aber gingen die beiden L.-Söhne in jenen Jahren weiter ihren Ruhmesweg. Als Tiberius im J. 9 v. Chr. für seine Verdienste um die Sicherheit des Reiches durch die Ovation gefeiert wurde und bei dieser Gelegenheit das Volk zu Gaste lud, übernahmen L. und Iulia die Bewirtung der Frauen (Cass. Dio LV 2). Auch dem Drusus war die gleiche Ehrung für seine erfolgreichen Kämpfe in Germanien zugedacht (Cass. Dio LV 2, 4; o. Bd. III S. 2713). Aber noch ehe der junge Feldherr dieser Ehre teilhaftig geworden war, noch ehe L. auch ihren zweiten Sohn als siegreichen Heerführer in die Heimat zurückkehren sah (Consol. ad Liv. 21ff.), traf das Kaiserhaus und in ihm L. ein schwerer, unersetzlicher Verlust. Drusus starb mitten in Germanien nach kurzem Krankenlager an den Folgen eines Sturzes vom Pferde. Tiberius, der in Eilmärschen an das Krankenlager des Bruders geeilt war (Liv. perioch. 142 p. 121. Val. Max. V 5, 3), kam gerade noch zur Zeit, um dem Sterbenden die Augen zuzudrücken. L. mußte in untätiger, angstvoller Erwartung daheimbleiben (Consol. ad Liv. 195f.). Sie konnte nicht daran denken, Tiberius zu begleiten, um dem Sohn wenigstens in den letzten Stunden nahe zu sein, seine letzten Worte zu hören (Consol. ad Liv. 95ff., 393. Sen. dial. VI 2, 3-5). Man kann aber sicherlich den Worten Senecas Glauben schenken, der berichtet, daß L. in der allgemeinen Trauer noch die größte Fassung bewahrte, in philosophischen Gesprächen und Betrachtungen mit dem Hofphilosophen Areus Trost suchte und fand und sich bemühte, nicht durch ihren Schmerz die Trauer des Gatten und Sohnes noch zu vergrößern (Sen. dial. VI 4, 2-4. Consol. ad Liv. 341ff.). Mitten im Winter reiste L. sodann mit dem Gatten nach Ticinum (Pavia), um dort den Tiberius mit der Leiche des Drusus zu empfangen (Tac. ann. III 5. Sen. dial. VI 3, 2). Zusammen mit Augustus und Tiberius geleitete sie die Leiche in die Hauptstadt und war Zeugin der rührenden Teilnahme des Volkes in ganz Italien (Sen. a. O.). Der Gattin zuliebe ließ Augustus den Stiefsohn im Grabmal der Iulier auf dem Marsfelde beisetzen (Cass. Dio LV 2. Consol. ad Liv. 161ff. Hirschfeld Kl. Schriften [1913] 452ff.). Um L. durch Ehren- und Teilnahmebezeugungen zu erfreuen und sie von ihrem Schmerz abzulenken, wurden ihr die Vorrechte der Frauen, die drei Kinder geboren hatten, zuerkannt, und der Senat erhielt die Erlaubnis, ihr Statuen setzen zu lassen (Cass. Dio LV 2. LVI 10. Willrich 55). Ein Zeugnis der allgemeinen Teilnahme für L. beim Tode des Drusus ist uns noch in dem bald nach dem traurigen Ereignis verfaßten Trostgedicht, der Consolatio ad Liviam, erhalten (s. o. Bd. IV S. 940. Hirschfeld Kleine Schriften 452f.). L. selbst ehrte und belebte das Andenken des Sohnes auf jede Weise (Sen. dial. VI 3, 2); noch lange nach dem Tode des Drusus unter der Regierung des Tiberius wird auf ihren Inschriften auch der längst verstorbene Sohn mehrfach erwähnt (CIL II 2038. IX 3304), und für ihre vornehmste Pflicht hielt sie es, den Hinterbliebenen des Sohnes Trost und Stütze zu sein. [911] Antonia, die Witwe des Verstorbenen, fand mit ihren drei Kindern im Hause der L. eine neue Heimat, und erst der Tod der L. trennte das Zusammenleben und die Freundschaft der beiden Frauen (Val. Max. IV 3, 3. Willrich 23). Aus dem Briefwechsel zwischen L. und Augustus ersehen wir, daß sie auch an der Erziehung der Kinder des verstorbenen Sohnes lebhaften Anteil nahm. Vor allem der jüngste Sohn Claudius, der spätere Kaiser, machte ihr große Sorge, und eingehend hat sie mit Augustus das Problem der Erziehung dieses Sorgenkindes erörtert (Suet. Claud. 4). Vielleicht war bei diesem etwas merkwürdig veranlagten Prinzen auch gelegentlich Strenge in der Behandlung am Platz, die der Kaiserin von Sueton (Claud. 3) als Härte, Lieblosigkeit und Verachtung ausgelegt wird. Der Inhalt der eben angeführten Briefe beweist das Gegenteil, und auch Claudius scheint die Großmutter nicht in schlechtem Andenken behalten zu haben, da gerade er es war, der ihre Konsekration, die Tiberius verhindert hatte, durchführte. Er ließ sich auch von ihr und der Mutter Antonia von dem unglücklichen Plan abbringen, eine Geschichte der Zeit seit Caesars Tod zu schreiben, und wandte sich auf ihren Vorschlag ungefährlicheren, ferner liegenden Stoffen zu (Suet. Claud. 41f.). Sicherlich auf L.s Betreiben wurde er später mit einer Urenkelin des Augustus, der Tochter der jüngeren Iulia, verlobt, und nachdem diese Verlobung aus politischen Gründen gelöst werden mußte, heiratete er die Enkelin der Freundin der L. Urgulania, Plautia Urgulanilla. (Von ihrer Fürsorge für die übrigen Mitglieder der Familie des Drusus, namentlich für die Enkel des Sohnes, die Kinder des Germanicus und der Agrippina, wird weiterhin die Rede sein).

Zu der Trauer um den Tod des Drusus gesellte sich für L. in den nächsten Jahren die Sorge um das Schicksal des Tiberius. Im J. 7 v. Chr. weihte er noch zusammen mit seiner Mutter die Porticus Liviae, die an Stelle des Palastes des berüchtigten Vedius Pollio‚ der Augustus zu seinem Erben gemacht hatte, errichtet war. Der Bau hatte bereits im J. 15 v. Chr. begonnen und war jetzt abgeschlossen (Ovid. Fast. VI 637ff. Cass. Dio LIV 23. LV 8). (Über die Lage und Anlage der Säulenhalle usw. Richter Topographie von Rom² 326). Wie der von Ovid (a. a. O.) erwähnte Tempel der Concordia mit der Porticus zusammenhängt, ist nicht klar zu ersehen. Gardthausen nimmt an, daß er den Mittelpunkt der Anlage bildete (II 2 S. 64l, 2), Richter sagt dagegen, daß er nicht innerhalb der Porticus gelegen habe. Da der Bau der Porticus eine Huldigung des Augustus für seine Gattin darstellte (Suet. Aug. 29), wird sie kaum zu den Baukosten beigetragen haben, während Ovid ausdrücklich sagt: te quoque magnifica, Concordia, dedicat aede Livia, quam caro praestitit ipsa viro. Immerhin ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß der von L. zu Ehren des Gatten errichtete Concordientempel gleichzeitig mit der Porticus Liviae geweiht wurde und daß Cass. Dio den ganzen Bezirk unter dem Namen τεμένισμα Λίουϊον zusammenfaßt (da Ovid den Tempel in den schon 8 v. Chr. vorliegenden Fasti nennt und anscheinend auch kennt, ist nicht anzunehmen, [912] daß das Concordienheiligtum erst nach dem Tode des Augustus zur Erinnerung an die glückliche Ehe des Kaiserpaares geweiht wurde). Bei den festlichen Veranstaltungen der Einweihung bewirtete Tiberius die Senatoren auf dem Kapitol, während L. die Frauen zu Gaste lud (Cass. Dio LV 8). Die Porticus bildete einen beliebten Spaziergang der Römer (Ovid. ars am. I 71. Strab. V 236). Plinius erwähnt als besondere Schönheit der Porticus ihre schattigen Rebenlaubgänge (n. h. XIV 11). Vielleicht wurde auch in dieser Zeit zur weiteren Verschönerung des neuen Stadtquartiers auf dem Esquilin das Macellum Liviae, ebenfalls eine Huldigung des Augustus für Livia, erbaut (CIL VI 1178. Richter 109. 113. 332).

Im J. 6 v. Chr. waren dann die Zerwürfnisse zwischen Tiberius und seiner Gattin nebst ihren Söhnen so tief geworden (Tac. ann. I 53), daß Tiberius beschloß, sich der Anmaßung der Kaiserenkel und der Schmach seiner Ehe durch freiwillige Verbannung zu entziehen. Vergeblich suchte die Mutter ihn von seinem Vorhaben abzubringen (Suet. Tib. 10. Cass. Dio LV 9). Durch den Fortgang des Tiberius aus Rom wurde für Fernerstehende vielleicht jetzt erst die Stellung der Prinzen zu Augustus geklärt. So wurde im J. 4 v. Chr. dem Augustus und seinem Haus, dem Kaiser, L., den Prinzen und ihrer Mutter Iulia von einem Privatmann ein Altar geweiht (IGR 380 nr. 1109). In diesen Zusammenhang gehören auch einige Münzen, auf denen die Σεβαστοί, Augustus und L., mit den Caesares erscheinen (Mionnet III 307 nr. 21. IV 73 nr. 387. 388. Suppl. VII 375 nr. 273-275 und Cat. Gr. coins Brit. Mus. Bd. Mysia 140 nr. 250). (Diese Münzen können auch gleich als Beweis dafür dienen, daß schon vor dem Tode und der Konsekration des Augustus der Begriff der θεοὶ Σεβαστοί bestand vgl. Mommsen Mon. Ancyr.² XI A. 1 und Gardthausen II² 639 gegen Dessau Athen. Mitt. VII [1882] 398]). Als aber dann durch die Katastrophe der Iulia im J. 2 v. Chr. und die Abwesenheit der Prinzen von Rom das Hindernis beseitigt war, das den Tiberius von Rom fernhielt, und er selbst und seine Mutter sich mit Eifer für seine Rückkehr verwandten, konnte L. zunächst nur mit Mühe erreichen, daß Tiberius wenigstens nominell den Titel eines Legaten erhielt (Suet. Tib. 12). Erst als auch der junge C. Caesar beim Kaiser für ihn eintrat, führten L.s und Tiberius’ Bitten zum Ziel (Suet. Tib. 13). Augustus und L. sandten ein Schiff ab, das dem Tiberius die Erlaubnis zur Rückkehr brachte (Cass. Dio LV 10a). Er mußte aber versprechen, sich jeder politischen Betätigung zu enthalten (Suet. a. O.).

Wohl aber wird der L. von den antiken Historikern (Tac. ann. I 3. Cass. Dio LV 10a) die Schuld am Tode der beiden Kaiserenkel Lucius und Gaius, die schnell nacheinander in den J. 2 und 4 n. Chr., der eine in Massilia, der andere im Orient, starben, zugeschrieben. Diese Vermutung ist durch den Gang der Ereignisse nicht begründet und erscheint gerade deshalb, weil die Prinzen so weit entfernt von der Heimat starben und L. daher nicht ohne einen ganzen Stab von Mitwissern und Helfershelfern hätte arbeiten können, doppelt unsinnig (Niebuhr Vorträge über [913] röm. Gesch. III 147. Willrich 25). Sueton (Aug. 65) und Plinius (n. h. VII 46) erzählen nur die Tatsache vom Tode der beiden Prinzen, ohne L. in diesem Zusammenhang überhaupt zu erwähnen. Augustus, der den Tod der beiden Enkel nie verwinden konnte (Mon. Ancyr.² c. 14. Suet. Tib. 23), blieb jetzt keine andere Wahl, als dem Sohn der L., Tiberius, auch rechtlich die Stelle einzuräumen, die er schon während der Knabenzeit seiner Stiefsöhne faktisch innegehabt hatte. Velleius Paterculus (II 103) berichtet, daß Augustus schon nach dem Tode des Lucius die Adoption des Tiberius beschlossen habe, daß Tiberius sich aber widersetzte, während Tacitus behauptet, Augustus habe sich nur auf L.s Bitten hin zu dieser Lösung bereit gefunden und hätte lieber unter Übergehung des Tiberius den Sohn des Drusus und der Antonia, Germanicus, zu seinem unmittelbaren Nachfolger ernannt (Tac. ann. IV 57; ähnlich Cass. Dio LVII 3; vgl. Gardthausen I 2, 1027 und 1029). Zusammen mit Tiberius adoptierte Augustus auch seinen jüngsten Enkel, den Agrippa Postumus.

Nunmehr war L. nicht nur die Gattin des Herrschers, sondern auch die Mutter des präsumptiven Thronfolgers, und es läßt sich nicht verkennen, daß namentlich im Westen des Reiches ihre Stellung nach außen hin dadurch noch wesentlich verstärkt wurde, wie die Inschriften und Münzen zeigen. Schon aus dem J. 3 n. Chr. stammt die Inschrift Ephem. epigr. V P. 372 = Dessau 120: Iunoni Liviae Augusti sacrum (Afrika, vgl. Mommsen Mon. Ancyr.² 19 adn.). In der Zeit nach der Adoption des Tiberius sind der L. z. B. folgende Inschriften gewidmet CIL IX 3304 und XIV 3575 = Dessau 118. Auch auf dem in den J. 7-8 n. Chr. errichteten Triumphbogen von Pavia erscheint ihr Name neben denen des Kaisers und des Tiberius (CIL V 6416, 6. Gardthausen I 3, 1187. 1257). Einige Inschriften bilden die Vorstufe zu der der L. später auch im Westen des Reichs zuteil gewordenen göttlichen Verehrung und Konsekration. Wie die afrikanische Inschrift werden auch die Inschriften CIL X 7340 und XI 3076 ihrer Iuno, d. h. dem göttlichen Geiste, der in ihr lebendig ist, gewidmet, und die Inschrift CIL X 7464 lautet: Liviae Augusti Deae Municipium (vgl. Willrich 65). In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, daß man auf dem Relief in S. Vitale zu Ravenna in der weiblichen Gestalt neben Augustus L. unter der Gestalt der Venus, der genetrix gentis Iuliae, zu erkennen glaubt (Riewaldt 315. Conze Die Familie d. Augustus [1867]). Daß die göttliche Verehrung der L. im Osten des Reiches schon viel früher einsetzt, wurde bereits erwähnt, aber die Annahme ist berechtigt, daß diese Form der Verehrung sich erst allmählich Bahn brach und gegen Ende der Regierungszeit des Augustus immer mehr zunahm. Es hat fast den Anschein, als ob allmählich der Augustustitel allein schon seinen Träger in die Sphäre der Gottheit erhoben habe, so daß das Kaiserpaar häufig als (θεοί) Σεβαστοί, L. als Λιουΐα oder Λιβία Σεβαστή auf den Münzen erscheint (Mionnet III 42 nr. 1218 nr. 1215/1216. IV 72 nr. 386 Suppl. VI 328 nr. 1626; dazu die o. S. 912 erwähnten Inschriften des Kaiserpaares [914] mit den Caesares. Mionnet III 147 nr. 635. IV 208 nr. 78. VI 50 nr. 44ff. Suppl. V1I 28 nr. 193. 270 nr. 1236. VII 140 nr. 238. 489 nr. 38. 557 nr. 326). Ein Seitenstück zu der Iuno Liviae bildet die Inschrift Σεβαστῆς Ἥρα (Mionnet IV 73 nr. 389. Riewald 302 nr. 45), während sie als Θεὰν Λειουΐαν Ἥραν νέαν Σεβαστήν in der Inschrift Amer. Journ. of Arch. I (1883) 150 erscheint.

Die Gleichsetzung der Kaiserin mit irgend einer Göttin war natürlich auch lange vor ihrem Tode oder ihrer Konsekration eine beliebte Form der Schmeichelei bei den Dichtern. So vergleicht Ovid, der durch L.s Fürsprache bei Augustus die Erlaubnis zur Rückkehr aus der Verbannung zu erlangen hoffte, die Kaiserin mehrfach mit der Iuno, einmal auch mit Venus und Vesta (Ovid. ex Ponto III 1, 117f. 145. IV 13, 29; fast. I 649).

In diesem Zusammenhang seien noch andere Formen erwähnt, in denen die allgemeine Verehrung für die erste Frau des Reiches Ausdruck fand. Dinge des täglichen Gebrauchs wurden ganz allgemein mit ihrem Namen benannt, so eine Papiersorte, die frühere charta regia Plin. n. h. XIII 74), der Wein, den sie täglich zu trinken pflegte und dem sie eine so kräftigende, lebenerhaltende Wirkung zuschrieb (XIV 60), der Alant (inula)-Salat, der auch keinen Tag auf ihrem Tische fehlen durfte (XIX 92), eine bestimmte Feigensorte (XV 70) und der Lorbeer, der in dem Hain der Villa ad Gallinas wuchs (XV 130), ein Beweis dafür, wie sich allmählich auch im Westen der dynastische Gedanke und die Idee von der Herrscherstellung auch der Gemahlin des regierenden Kaisers Bahn brach. Eine andere Form der Ehrung erfand man im Königreich Pontus und in Iudaea. Dort wurde eine Stadt zu Ehren der L. Liviopolis genannt (VI 11) und Herodes Antipas taufte die Stadt Bethramphtha in Livias (später Iulias) um (XIII 44. Joseph. bell. Iud. IV 7, 6. 8, 2. Schürer Gesch. des jüd. Volkes II³ 167f.). Hier sei gleich erwähnt, daß Herodes d. Gr. bei seinem Tode im J. 4 v. Chr. der Kaiserin L. und anderen Angehörigen des Kaiserhauses 500 Talente hinterließ (Joseph. ant. Iud. XVII 61 = § 147 und XVII 8, 1 = § 190. Hirschfeld Kl. Schriften S. 519), und daß Salome‚ die Schwester des Herodes, die während der Orientreise des Kaiserpaares mit L. Freundschaft geschlossen und die Verbindung immer aufrechterhalten hatte (Joseph. bell. Iud. I 28, 6; ant. Iud. XVII 1, 1 = § 10), bei ihrem Tode im J. 10 n. Chr. der Kaiserin ihren bedeutenden Grundbesitz, der jährlich annähernd 60 Talente einbrachte (ant. Iud. XVII 8, 1 = § 189. XVII 11,5 = § 321. XVIII 2, 2 = § 31; bell. Iud. II 9, 1. Hirschfeld Kaiserl. Verw.-B.² 26, 1), vermachte.

Aber nicht nur nach außen hin wurde die Stellung der L. durch die Adoption des Tiberius noch gefestigt. Nach Ansicht der antiken Schriftsteller brachte sie jetzt auch den alternden Kaiser noch mehr als bisher unter ihren Einfluß und veranlaßte ihn, um Tiberius’ Stellung noch unerschütterlicher zu machen, seinen leiblichen Enkel Agrippa Postumus zu verstoßen und zu verbannen (Tac. ann. I 3), im J. 7 n. Chr. Die [915] übrigen Berichte bei Tacitus und Sueton über diesen entarteten Kaiserenkel stimmen allerdings nicht zu dieser Vermutung des Tacitus, sondern lassen erkennen, daß das Vorgehen des Kaisers gegen seinen Enkel eine Staatsnotwendigkeit war. Wenn L. also mit ihrem Rat in dieser Angelegenheit den Ausschlag gab, so wäre das nur ein weiterer Beweis für ihre klare, politische Einsicht, die sich von Familienrücksichten nicht beeinflussen ließ. Im J. 8 n. Chr. sah sich Augustus gezwungen, auch seine Enkelin Iulia, die Schwester des Agrippa, in die Verbannung zu schicken. Auch an ihrem Schicksal will Tacitus der L. die Schuld geben, obwohl gerade L. sich der Verbannten bis zu ihrem Tod annahm und für sie sorgte (Tac. ann. IV 71. Gardthausen I 3, 1253f.).

Am 1. Juli 13 n. Chr. wurde dem Tiberius dann feierlich die Mitregentschaft übertragen. Damit kam der Wille des Kaisers die Nachfolge betreffend eindeutig zum Ausdruck (Vell. Pat. II 121. Suet. Tib. 21). Nach Abschluß des Census im Mai des J. 14 n. Chr. rüstete sich Tiberius zum Aufbruch nach Illyricum, und Augustus und L. beschloßen, ihm bis Benevent das Geleit zu geben. Während dieser Reise soll sich der Kaiser für einige Tage, heimlich, nur mit einem Begleiter und ohne Wissen der L. nach Planasia begeben haben, um sich mit dem verstoßenen Enkel zu versöhnen. Willrich (28) weist die Entwicklungsstadien der Entstehung dieses Gerüchts nach (Plin. n. h. VII 46. Plut. de garrul. 11. Tac. ann. I 5. Cass. Dio LVI 30) und bringt auch die Gegenbeweise vor (Willrich a. a. O. Stahr Röm. Kaiserfrauen (1865) 93. Aschbach 46. Gardthausen I 2, 1251f.). Die Erfindung vom Besuche des alten Kaisers in Planasia bildet die Grundlage für die Verleumdung, daß L. aus Furcht vor der Rehabilitierung des Agrippa schnell entschlossen den Kaiser durch am Baum vergiftete Feigen getötet habe (Tac. ann. I 5: scelus uxoris. Cass. Dio LVI 30). Der offizielle Bericht über den Tod des Kaisers (bei Vell. Pat. II 123, 1-3 und Suet. Aug. 97-100; Tib. 21) kennt dies Gerücht nicht. Augustus erkrankte in Nola, und sein Zustand war bei seinem hohen Alter so besorgniserregend, daß L. den Tiberius sofort zurückrufen ließ. Tiberius traf den Kaiser noch lebend an. Bald darauf verschied er in den Armen seiner Gattin, an die er auch seine letzten Worte richtete: Livia nostri coniugii memor vive ac vale (Suet. Aug. 99). Tacitus (ann. I 5), der bei seinen Lesern den Glauben erwecken will, als habe L. den schon früher eingetretenen Tod des Augustus bis zur Ankunft des Tiberius verheimlicht, widerspricht durch den Bericht ann. I 13 eigentlich seinen eigenen Angaben. Beide Versionen finden sich bei Cass. Dio LVI 31, der aber nicht durchblicken läßt, welcher er Glauben schenkt, und bei Aurel. Vict epit. I 29 (alii scribunt dolo Liviae).

Die Leiche des Kaisers wurde zur Bestattung nach Rom gebracht und L. ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit den vornehmsten Rittern selbst an fünf Tagen die Gebeine aus der Asche zu sammeln, um sie im Mausoleum des Augustus beizusetzen (Cass. Dio LVI 42. Suet. Aug. 100). Unmittelbar nach dem Tode des Augustus erfolgte [916] seine Konsekration. L. machte dem Senator, der eidlich bekräftigte, daß er Augustus habe zum Himmel fahren sehen, ein ansehnliches Geldgeschenk (Suet. Aug. 100. Cass. Dio LVI 46). Sie selbst wurde die erste Priesterin des Divus Augustus. Mit Tiberius zusammen übernahm sie den Bau des Tempels, den der Senat ihm zuerkannte. Außerdem stiftete sie zu seinem Andenken dreitägige Spiele auf dem Palatin, die alljährlich begangen werden sollten (Tac. ann. I 73. Cass. Dio LVI 46). ‚Überhaupt‘, sagt Cassius Dio, ‚wurden alle Ehrenbezeigungen für Augustus λόγῳ vom Senat, ἔργῳ von Tiberius und L. beschlossen‘.

L. und Tiberius. Von großer Bedeutung für die Stellung, die L. nach dem Tode des Kaisers einzunehmen gedachte, war das Testament des Augustus. Auf Grund einer darin ausgesprochenen Bitte gewährte der Senat der L. Befreiung von den Bestimmungen der Lex Voconia, und erst dadurch wurde es möglich, daß L. die Erbschaft der 50 Millionen Sesterzen antrat, die ihr Gatte für sie bestimmt hatte (Suet. Aug. 101. Tac. ann. I 8. Cass. Dio LVI 32. Jörs Die Ehegesetze des Augustus, Festschr. für Mommsen Marburg 1893] 41. 64). Außerdem wurde L. durch das Testament in die iulische Familie adoptiert und ihr der Augustanamen verliehen, sodaß sie seither offiziell den Namen Iulia Augusta führt (Tac. ann. I 8. Cass. Dio LVI 43). Mommsen (St.-R II 2, 795. 764) nimmt an, daß Augustus der L. damit offiziell die Mitregentschaft einräumen wollte. Vielleicht beabsichtigte er aber auch nur dadurch eine Stärkung der Stellung des Tiberius und seiner Nachfolger herbeizuführen, indem er die Stammutter der neuen iulisch-claudischen Dynastie auch in die Familie des Divus Iulius erhob. Der Senat und L. selbst sahen jedenfalls in der Adoption die Gleichstellung der Kaiserinmutter mit dem regierenden Kaiser. Der Senat konnte sich daher im Erdenken immer neuer Ehrenbezeigungen für die Kaiserin nicht genug tun. Man beschloß, der adoptio einen Altar zu errichten (Tac. ann. I 14). Bei der Ausübung ihres Amtes als Priesterin des unter die Götter erhobenen Gemahls sollte ihr wie den Vestalinnen ein Lictor zur Seite stehen (Tac. a. a. O.). Man machte auch den Vorschlag, ihr den offiziellen Titel parens oder mater patriae zu verleihen (Tac. a. a. O. Cass. Dio LVII 12). In dem Antrag, dem Namen des Tiberius den Zusatz Iuliae filius zu geben (Tac. und Cass. Dio a. a. O.), kam vielleicht der Wunsch zum Ausdruck, L. den Vorrang vor Tiberius einzuräumen oder ihn immer daran zu erinnern, wem er die Herrschaft verdanke. Ein anderer Antrag ging dahin, den Monat Oktober in Livius umzutaufen (Suct. Tib. 26). Tiberius gelang es, die Durchführung aller dieser übertriebenen Ehrenbezeigungen zu unterbinden (Tac ann. I 14).

Die Stellung des Tiberius und der L. zu der Ermordung des Agrippa Postumus unmittelbar nach dem Regierungsantritt des Tiberius ist aus den Quellen nicht klar ersichtlich. Aus der Tatsache. daß L. es war, die den Tiberius davon abhielt, die Untersuchung vor den Senat zu bringen (Tac. ann. I 6). schließen zu wollen, daß der Befehl dazu von ihr ausging (Cass. Dio LVII [917] 3), dürfte nicht angängig sein, andererseits hatten weder L. noch Tiberius ein Interesse daran, einen derartigen Befehl des Augustus, falls ein solcher vorlag, zu widerrufen (Tac. a. a. O. Suet. Tib. 22. Cass. Dio a. a. O. Willrich 34f.).

Wie der Senat durch seine Ehrenbezeigungen die Kaiserinmutter bereitwilligst zur Mitregentin stempelte, so war auch L. gewillt, diesen Anspruch Tiberius gegenüber mit aller Konsequenz geltend zu machen. Aber wenn sie auch bei allen offiziellen Veranstaltungen eine größere Rolle gespielt haben und ihren Repräsentationspflichten noch eifriger nachgekommen sein mag als früher, so hat sich Tiberius in seine Politik von ihr nicht hineinreden lassen und die Ansprüche der Mutter in den richtigen Schranken zu halten gewußt. Wie Tiberius hielt L. ihre Empfänge ab und ließ darüber in den Acta diurna berichten (Cass. Dio LVII 12. Suet. Tib. 50. Tac. ann. IV 57). Offizielle Höflichkeitsschreihen an Vasallendynastien wurden auch von beiden gemeinsam unterzeichnet (a. a. O.), und wie unter Augustus suchten die orientalischen Dynasten durch L.s Vermittlung Tiberius sich günstig zu stimmen (Tac. ann. II 42).

Überhaupt ist ihr Ansehen durch die Konsekration des Augustus, durch ihre neue priesterliche Würde und durch die Adoption in die iulische Familie noch bedeutend gestiegen (vgl. Ovid fast. I 536, der schon jetzt der L. die Konsekration weissagte: sic Augusta novum Iulia numen erit). Die Zahl der ihr Bild tragenden Münzen und der ihr zu Ehren errichteten Standbilder und Inschriften nimmt bedeutend zu. Hierin gehören die Inschriften CIL IX 4514. X 459. 799. 7340. Als Eltern des neuen Augustus erscheinen die (θεοί) Σεβαστοί L. und Augustus in den Inschriften und Münzen IG VII 195. XII 3, 104 v. 6ff. Athen. Mitt. VII (1882) 398. Mionnet Suppl. V 428 nr. 933. Auf zahlreichen Münzen erscheint jetzt die Ἰουλία Σεβαστή neben dem regierenden Kaiser (Mionnet II 596 nr. 547. Cat. Gr. coins Brit. Mus. Mysia 140 nr. 251 = Mionnet II 595 nr. 54l. 140 nr. 252 [vgl. Mionnet Suppl. V 429 nr. 939. 941 [θεῶν Σεβαστῶν]; Thrace 99 nr. 61; Macedonia 39 nr. 18. 53 nr. 79). Die Formen für die göttliche Verehrung der Kaiserinmutter sind fast noch mannigfaltiger als bisher. Auf den Münzen Cat. Gr. coins Brit. Mus. Mysia 140 nr. 251 und Macedonia 117 nr. 76 erscheint sie als Demeter, in Cilicia XC als Hera, in der Inschrift IGR IV 319 (= Riewald 44) als Ἥρα νέα, in der Inschrift IG III 461 als Πρόνοια. In der Legende der Münze Cat. Gr. coins Brit. Mus. Troas usw. 204 nr. 157 heißt sie Ἰου θεά Σεβαστή. Die Konjektur in der Inschrift IGR I 1150 = Riewald 328 νέας Ἴσσιδος ist nicht gesichert. Auch Tempel mit Priesterinnen waren schon damals für den Kult der L. eingerichtet, wie die Inschriften IG IX 2, 333 = Riewald nr. 47 und CIG 2815 = Riewald nr. 57 lehren. Auf einer Inschrift aus Samos erscheint eine Priesterin τῆς Ἀρχηγέτιδος Ἥρας καὶ Θεᾶς Ἰουλίας Σεβαστῆς (Vischer Rh. Mus. XXII [1867] 314), und in Samos scheint sich ein Tempel der L. befunden zu haben, in dem auch die Standbilder ihrer Eltern neben [918] ihrem Kultbild Raum gefunden hatten (Bull. de l’école franç. d’Athènes I 11 nr. 9 p. 231 und Athen. Mitt. IX 257; vgl. auch CIL IX 3660. 3661). In Kyzikos wurde sie σύνναος der Minerva (IGR IV 144 = Riewald nr. 128 p. 330). Im Augustustempel von Ankyra stellte ein vornehmer Galater Statuen des Tiberius und der Ἰουλία σεβαστή auf (Syll. or. 533, 25). Aber auch im Westen des Reichs macht die göttliche Verehrung der L. jetzt schnelle Fortschritte. Nach der Inschrift CIL X 7340 wurde für sie und den Kaiser Tiberius in Himera ein Altar errichtet. In Spanien erscheint sie auf Münzen und Inschriften als die genetrix orbis (Cohen Méd. Imp. I 169 nr. 3. CIL II 2038). Die genannte Inschrift läßt erkennen, daß Tiberius auch im Westen schon ihren Kult mit Priestern und Priesterinnen gestattete. Als Beweis dafür gelten auch die Inschriften CIL II 194. XII 1363. 4249. In Gaulos wird sie als Ceres verehrt (CIL X 750l = Dessau 121). Auf dem großen Pariser Kameo, der als Ehrung für Germanicus gedacht, aber erst nach seinem Tode fertig wurde, erscheint L. in Haltung und Tracht der Göttermutter Kybele. Auf Münzen der Stadt Leptis in Afrika heißt sie mater patriae (Cohen Méd. Imp. 165 nr. 807). Ihr Geburtstag wurde natürlich an den verschiedensten Orten festlich begangen. Zeugnisse dafür haben wir in den Inschriften CIL VI 2968. V 3303 und in den Acta der fratrum Arvalium (ed. Henzen XXIV. XLIII). Auch nach ihrem Tode blieb ihr Geburtstag ein Festtag der Fratres Arvales, wie auch in Ägypten zwei ihr gewidmete Festtage, die allerdings mit den aus ihrem Leben bekannten Daten nicht zusammenstimmen, noch Jahre nach ihrem Tode gefeiert wurden (Archiv f. Pap. V 341). Wie schon erwähnt, wurde sie hier als Ehepatronin verehrt. Die Provinz Asia erbat und erhielt die Erlaubnis, in Smyrna einen Tempel für Tiberius, den Senat und die Iulia Augusta zu bauen (Tac. ann. IV 15. Hirschfeld Kl. Schr. 1913. 485. Willrich S. 68). Für den Okzident aber lehnte Tiberius eine gleiche Ehrung energisch ab (Tac. ann. IV 37. Hirschfeld a. a. O.).

Das alles sind mehr oder minder offizielle Ehrungen, die für ihre Stellung und Wirksamkeit nicht von entscheidender Bedeutung sein können. Was diesen Punkt betrifft, so sehen wir die Iulia Augusta in Regierungsfragen und in der Familie dieselbe Rolle spielen wie die L. unter Augustus. Auch bei Tiberius gelang es ihr, ihn, soweit es nicht gegen das Staatsinteresse verstieß, in manchen Maßnahmen zur Milde zu stimmen (Tac. ann. I 13) oder auch für ihre Günstlinge, den späteren Kaiser Galba, den Großvater des Kaisers Otho und den Gardepräfekten Burrus, diesen oder jenen Vorteil zu erreichen (Suet. Galba 6; Otho 1. Tac. ann. V 1. CIL XII 5842). Allerdings mißte Tiberius hier allzu weitgehenden Wünschen einen Riegel vorzuschieben, wenn sie wie beim Prozeß der Urgulania seiner Ansicht nach den Interessen des Staates entgegenliefen (Suet. Tib. 50 und 51. Tac. ann. II 34). Daß der Senat sich den Bitten der Kaiserinmutter gegenüber nicht so standhaft erwies und daß ihre Macht hier ziemlich groß gewesen sein muß, zeigt die Erzählung vom Verhör der Urgulania (Tac. [919] a. a. O.) und die Bemerkung bei Tacitus ann. IV 21 (spreta Augustae potentia). Selbstverständlich mußte L. bei offiziellen Veranstaltungen auch weiterhin persönlich hervortreten. Tiberius hielt sich aber auch hierbei streng an das unter Augustus Übliche, er versuchte sogar ihrer Mitwirkung bei derartigen Veranlassungen die Schranken noch enger zu ziehen (Suet. Tib. 50. Cass. Dio LVII 12). Auch die Regelung der testamentarischen Bestimmungen des Augustus ergab die Notwendigkeit gemeinsamer Maßnahmen, da ihnen ein Teil der den beiden Haupterben zugewiesenen Besitzungen gemeinsam gehörte. In den Inschriften werden daher häufig gemeinsame Beamte der beiden genannt (CIL VI 4358. 9066. X 7489. XII 5842. Hirschfeld Kaiserl. Verwaltungsb.² 26ff. 27, 1. 28, 1). Aus den Inschriften CIL X 7489 und XV 7814 folgert Willrich mit Recht, daß Tiberius und L. gemeinsam Landgüter auf der Insel Lipara und eine Villa in Tusculum besaßen (72f.). Auch auf Capri, dem Lieblingssitz des Tiberius, war L. begütert (CIL VI 8958). Die Inschriften des Columbarium Liviae (s. o.) lehren, daß die Zahl ihrer Sklaven und Freigelassenen auch nach dem Tode des Augustus nicht kleiner geworden ist. Entsprechend der Adoption der L. in die Familie der Iulier heißen ihre Freigelassenen nach 14 n. Chr. M. Iulii (CIL VI 2 p. 878). Die Freigelassenen der L. mit dem Namen Maroniani stammen aus der Erbschaft des Augustus, der sie seinerseits von Vergil geerbt hatte (Hirschfeld Kl. Schriften: Der Grundbesitz der röm. Kaiser in den ersten 2 Jhdten. 518). Vielleicht rühren auch der Besitz der Kaiserinmutter in Ägypten (Papyr. Lond. II 445 p. 166. Hirschfeld 554) und die Ziegeleien in Kampanien (CIL X 8042, 41a. 60. Hirschfeld Verwaltungsb.² 27) aus der Erbmasse des Augustus her. Sollte allerdings die Inschrift IG XIV 2414, 40 auch mit dieser Ziegelei in Verbindung stehen, so müßte sie schon vor dem Tode des Augustus in L.s Besitz gewesen sein. So gab es bei dem weitverzweigten gemeinsamen Besitz viele gemeinsame Verwaltungsgeschäfte und Beratungen über zweckmäßige und soziale Verwendung der daraus fließenden Einkünfte. Noch in den letzten Lebensjahren der L. haben der Kaiser und seine Mutter auf ihre Kosten in Etrurien eine Wasserleitung bauen lassen (CIL XI 3322).

Mit der ihr von dem Sohne eingeräumten politischen Stellung wollte sich L. nicht ganz zufrieden geben, sondern wagte gelegentlich immer wieder einen Vorstoß, um auch nach außen hin als Mitregentin in Erscheinung zu treten. So ließ sie in der Inschrift für eine Statue des Augustus, die sie und Tiberius im J. 22 n. Chr. weihten, ihren Namen dem des Sohnes voranstellen (Tac. ann. III 64. CIL I² p. 236 und 316). Reibungspunkte zwischen ihr und dem regierenden Kaiser waren also immerhin vorhanden, und es mag tatsächlich manchmal zu erregten Szenen zwischen ihr und dem Sohne gekommen sein (Cass. Dio LVII 12. Suet. Tib. 51). In der Familie und Familienpolitik behauptete L. ihre Stellung wie unter der Regierung des Augustus. Besonders mit der Familie der Antonia verband sie nach wie vor engste Freundschaft, die sich auch auf Germanicus und seine Kinder erstreckte. Bald [920] nach dem Tode des Augustus siedelten die beiden Frauen aus dem Palast des Augustus, der Staatseigentum geworden war, in ein benachbartes Haus auf dem Palatin über (Lanciani Silloge aquaria 446 nr. 155 a–d. Über die Gemälde in diesem Hause vgl. Perrot Les peintures du palatin. Rev. archéol. [1870] N. S. XXI 387ff. XXII 47ff.). Über das Schicksal des jüngsten Sohnes der Antonia, Claudius, und sein Verhältnis zur Großmutter wurde schon gesprochen. Livilla, die einzige überlebende Tochter der Antonia, wurde wohl sicher nicht ohne Mitwirkung der L. in die dynastische Politik der Kaiserfamilie hineingezogen und zuerst mit Gaius Caesar und nach dessen Tode mit dem Sohne des Tiberius, dem jüngeren Drusus, vermählt. Germanicus nannte seine beiden jüngsten, in den J. 16 und 18 n. Chr. geborenen Töchter der Kaiserinmutter zu Ehren Livia Drusilla und Iulia Livia und L. stellte aus ihrer Dienerschaft eine Amme (CIL VI 4252) und später einen Pädagogen (CIL VI 3998) für die jüngere der beiden zur Verfügung. Als ein Söhnchen des Germanicus – noch zu Lebzeiten des Augustus – starb, ließ L. eine kleine Statue, die ihn mit den Attributen des Cupido darstellte, anfertigen und im Tempel der Venus auf dem Capitol aufstellen (Suet. Cal. 7). Daß also von vornherein zwischen Germanicus und Agrippina einerseits und L. andererseits Mißtrauen und Abneigung bestanden habe, wie Tacitus seine Leser glauben machen möchte (Tac. ann. I 32), ist nicht bewiesen, wenn auch zwischen der Lebensauffassung der alten und jungen Generation ein natürlicher Gegensatz bestanden haben mag (Tac. ann. I 69). Die spätere Feindschaft zwischen L. und Agrippina begann erst mit dem Aufenthalt des Thronfolgerpaares im Orient und mit seinem Zerwürfnis mit Piso und seiner Gattin Plancina, die für eine vertraute Freundin der L. galt; das von Agrippina der L. gegenüber beobachtete Benehmen nach dem Tode des Germanicus und dem Prozeß des Piso und der Plancina führte dann zum vollkommenen Bruch zwischen den beiden Frauen. Daß L. ihrer Trauer über den Tod des Enkels nicht in überschwänglicher Weise Ausdruck gab, entspricht ganz ihrer in ähnlichen Fällen, z. B. beim Tode des Drusus, beobachteten Haltung und ihrer Ansicht von ihrer Würde als Kaiserin und römische Matrone. Darin einen Beweis für das Bewußtsein der Mitschuld am Tode des Germanicus zu sehen, ist nicht angängig (Tac. ann. III 3). Es ist häufig genug dargelegt, daß der Verlauf des Prozesses die Grundlosigkeit der Beschuldigung des Giftmordes ergab, und damit wird auch der Verdacht gegen L. und Tiberius, durch geheime Aufträge an dem Morde beteiligt zu sein, hinfällig; Agrippina aber hielt an ihrer Überzeugung fest und hat vielleicht später L. mit noch größerem Haß verfolgt als Tiberius, weil durch ihre Fürbitte beim Kaiser und beim Senat Plancina gerettet wurde (Tac. ann. II 43. 71. 82. III 10. 15). Die Anklage gegen Piso hat L. mit den übrigen nächsten Beteiligten des Kaiserhauses vor dem Senat vertreten, jedenfalls wurde sie in den Dank des Senats für die Unterstützung der Rache für den Tod des Germanicus mit eingeschlossen (Tac. ann. III 18). Das Zerwürfnis zwischen den kaiserlichen Frauen aber konnte [921] nicht wieder ausgeglichen werden und hat L.s und des Kaisers Leben verbittert. Eifrige Parteigänger auf beiden Seiten schürten noch dazu das Feuer, statt es zu löschen (Tac. ann. IV 12; Ferrero Die Frauen der Caesaren 98ff.), und der herrschsüchtige Charakter beider Frauen war auch nur dazu angetan, die Gegensätze noch zu verschärfen.

Im J. 22 n. Chr. erkrankte die greise Kaiserinmutter schwer, und bei dieser Gelegenheit zeigte sich besonders deutlich, welche Liebe und Verehrung L. in ihrer Familie und in den weitesten Kreisen der Öffentlichkeit genoß, auch wenn man einen großen Teil der Beweise der Anhänglichkeit auf das Konto Byzantinismus setzt. Der Kaiser eilte an ihr Krankenbett (Tac. ann. III 64. 71), und Weihungen und Gelübde für ihre Genesung wurden veranstaltet (CIL VI 562. Eckhel D.N. VI 150). Ihr zu Ehren prägte der Senat in den J. 22 und 23 n. Chr. Münzen mit dem Kopf der L. als Iustitia, Pietas und Salus (Cohen Méd. imp. I 170 nr. 1–4. Bernoulli Röm. Ikonogr. II 1, 83ff. Kahrstedt Klio X 289f.).

Bald darauf wurde L. auch das Recht verliehen, bei öffentlichen Festlichkeiten unter den Vestalinnen Platz zu nehmen (Tac. ann. IV 16). Damit war sie jetzt rechtlich den Vestalinnen vollkommen gleichgestellt (Willrich 55).

Mit diesen Ehren anläßlich ihrer schweren Krankheit steht vielleicht auch die Inschrift Orelli-Henzen 441 nr. 7165 im Zusammenhang, die Spiele zu Ehren des Geburtstags der L. eines Collegium magistratuum Augustalium einer unbekannten Kolonie im J. 23 n. Chr. erwähnt.

In der Leichenrede auf den Sohn des Tiberius‚ den jüngeren Drusus, im J. 23 n. Chr. und beim Tode des einen Sohnes dieses Drusus und der Livilla wird der Vereinsamung der Kaiserinmutter mit besonderer Teilnahme gedacht (Tac. ann. IV 8 und 15), wohl ein Beweis dafür, daß gerade L. mit besonderem Interesse an allen Freuden und Leiden der Kaiserfamilie teilnahm und alle Familienmitglieder mit gleicher Fürsorge bedachte.

Die Gründe zu untersuchen, die Tiberius schließlich im J. 26 n. Chr. zu dauernder Übersiedlung nach Capri veranlaßten, gehört nicht hierher. Daß die Herrschsucht der L. der Hauptgrund für seine Entfernung war, ist nicht sehr wahrscheinlich (Suet. Tib. 50, 51. Tac. ann. IV 57. Cass. Dio LVII 12). Er hatte L. bis hierhin in ihren Schranken zu halten gewußt, er hätte ihr gerade in dem Fall nicht das Feld geräumt und ihr die Sorge für die Familie und die Familienpolitik überlassen. (So ist anzunehmen, daß die Verheiratung der beiden ältesten Germanicuskinder, der Agrippina und des Nero, die nach dem Fortgang des Tiberius aus Rom erfolgte, ein Werk der L. waren, wenigstens ihr Rat dabei den Ausschlag gab [Tac. ann. IV 75. III 29]). Wir hören in den Quellen auch nichts darüber, daß L. nun die Entfernung des Tiberius benutzt habe, um politisch stärker hervorzutreten. Wieweit die Mißstimmung über die Streitigkeiten unter den kaiserlichen Frauen den Entschluß des Tiberius, der wohl hauptsächlich psychologisch zu erklären ist, beeinflußt hat, läßt sich nicht entscheiden (Ferrero 102ff.). Tiberius erwies der Mutter auch weiterhin durch [922] Schonung ihrer Günstlinge, die ihm längst Anlaß gegeben hätten, gegen sie einzuschreiten (Suet. Tib. 51 dreht das Verhältnis allerdings gerade um. Tac. ann. VI 26), sein Entgegenkommen und seine Ehrfurcht. Aus Schonung für die alte Kaiserin hat Tiberius vielleicht auch bei ihren Lebzeiten von der Anklage der Agrippina und ihrer Söhne abgesehen, vielleicht hat auch Tacitus recht, wenn er darin ein Zeichen des günstigen Einflusses der Kaiserin auf Tiberius und der Furcht des Seian vor den wachsamen Augen der L. erblickt (Tac. ann. V 1 und 3). Tiberius selbst übertrug ihr, als Agrippina und ihre älteren Söhne unter Bewachung gestellt wurden (s. o. Bd. X S. 382. Suet. Cal. 10, 1), die Erziehung des jüngsten Germanicussohnes, des späteren Kaisers Caligula, auch ein Beweis dafür, daß Tiberius von der Herrschsucht der Mutter keine Gefahr fürchtete. Die allmählich zunehmende Schwerfälligkeit und Menschenscheu des Kaisers hat ihn natürlich auch der Mutter nach und nach entfremdet, und langsam erkalteten alle persönlichen Beziehungen zwischen beiden. In den drei Jahren von seiner Entfernung aus Rom bis zu ihrem Tode hat er sie nur ein einziges Mal für wenige Stunden gesehen und gesprochen (Suet. Tib. 51. Cass. Dio LVIII 2). Nicht einmal auf die Nachricht von ihrer schweren Erkrankung im J. 29 n. Chr eilte er nach Rom (Cass. Dio a. O.). L.‚ die das Ende nahen fühlte, traf sterbend noch ihre Bestimmungen über die Bestattung (Suet. 51, 2) und starb im Alter von 86 Jahren (Cass. Dio LVIII 2), ohne den Sohn wiedergesehen zu haben. Tiberius konnte seine Schwerfälligkeit und seine Abneigung gegen Rom auch jetzt nicht soweit überwinden, um zur Leichenfeier in der Hauptstadt zu erscheinen (Suet. 51, 2). So hielt ihr der Urenkel Gaius bei der Bestattung die Leichenrede (Tac. ann. V 1. Suet. Cal. 10). Die überschwänglichen Ehrenbezeigungen, die der Senat der Toten bei der Bestattung erweisen wollte, ließ Tiberius nicht zu. Tacitus (ann. V 1) spricht von dem funus modicum (vgl. Cass. Dio LVIII 2). Sie wurde im Mausoleum des Augustus beigesetzt (Cass. Dio. a. O.). Der Senat aber kehrte sich nicht in allem an die Bestimmungen des Kaisers. Zwar konnte er die Konsekration der Verstorbenen gegen den kaiserlichen Willen nicht durchsetzen; und auch der Ehrenbogen, den der Senat ihr zuerkannte und dessen Ausführung der Kaiser übernahm, kam nicht zustande (Cass. Dio LVIII 2). Dafür veranstaltete der Senat ihr Begräbnis auf Staatskosten und ordnete an, daß die Matronen ein Jahr um die verstorbene Kaiserin trauern sollten (Cass. Dio). Die Bestimmungen ihres Testaments ließ Tiberius nicht ausführen, wie Willrich annimmt, aus übertriebener Sparsamkeit. Erst Caligula hat den letzten Willen der Urgroßmutter zur Ausführung gebracht und alle Legate und Geschenke ausgezahlt (Cass. Dio LIX 1f.).

Die Konsekration der L. erfolgte erst unter Claudius im J. 42 n. Chr.‚ der damit wohl die Absicht verband, seine Stellung als Enkel der Diva Julia oder Diva Augusta auch durch göttlichen Ursprung zu legitimieren. Im Tempel des Augustus auf dem Palatin erschien jetzt auch ihr Standbild. Der Opferdienst für die Diva Augusta wird den Vestalinnen übertragen und bei der [923] Diva Augusta sollen die römischen Frauen fortan den Eid leisten (Cass. Dio LX 5). Fanden sich, wie erwähnt, auch schon bei Lebzeiten der L. namentlich im Orient, vereinzelt auch im Westen des Reichs, Spuren ihrer göttlichen Verehrung, so nehmen die Zeugnisse für ihren Kult nach ihrer Konsekration noch bedeutend zu. Ihre Priesterinnen werden in den Inschriften bald als sacerdos, bald als flaminica bezeichnet (CIL II 157]. VIII 6987. X 1413. XII 1845. 4249. XIV 399. IG XII 3, 104. XII 5, 629).

Persönlichkeit. Aus den verhältnismäßig spärlichen positiven Nachrichten über die Kaiserin und trotz der Verzerrung ihres Charakters in den Schilderungen der antiken Schriftsteller können wir uns doch ganz gut ein klares Bild von der Persönlichkeit der L. machen. Sie ist sich in erster Linie ihrer Pflichten als Gattin und Mutter immer voll bewußt gewesen. Das zeigt sich sowohl ihrem ersten Gemahl wie Augustus gegenüber, und bei der Scheidung von Claudius und der Vermählung mit Octavian war es vielleicht das einzige Mal, daß sie ihrem Gefühl eine starke Herrschaft über sich einräumte. Daß hier aber auch der Ehrgeiz ein gewichtiges Wort mitsprach, wurde oben angedeutet. Mit ihren Pflichten als der ersten Frau des Kaiserhauses und des Reiches hat sie es sehr ernst genommen (Ovid. ex Ponto III 1, 142) und das starke dynastische Empfinden des Augustus geteilt, nicht einseitig zugunsten ihrer eigenen Kinder, wie die Schriftsteller uns glauben machen wollen (Tac. ann. I 10 Livia gravis in rem publicam mater, gravis domui Caesarum noverca), sondern dem ganzen Kaiserhause galt ihre Fürsorge, und an dem persönlichen Ergehen und Schicksal aller Mitglieder der kaiserlichen Familie nahm sie persönlichsten Anteil. Daß mit der Befestigung ihrer äußeren Stellung, mit den äußeren Ehrungen und Auszeichnungen, die ihr nicht unverdient zuteil wurden, auch ihr Selbstbewußtsein und, wenn man will, ihre Herrschsucht zunahmen, daß sie allmählich ganz in der Sache aufging und daher nach außen hin wohl oft nur als politisch berechnender, kühler Kopf erscheint (Caligula nennt sie boshaft einen Odysseus im Unterrock, Suet. Cal. 23), daraus kann man ihr keinen Vorwurf machen, zumal sie ihre Stellung niemals zum Nachteil des Reichs mißbraucht hat (Vell. Pat. II 131. Tac. ann. V 317.). Alles in allem eine energische, zielbewußte, in sich abgerundete und innerlich vornehme Persönlichkeit von bedeutendem Verstand und großer Tatkraft, die durch ihre kluge und klare Haltung die Stellung der Kaiserin erst eigentlich begründet und sie gleich zu einem bedeutenden Faktor der werdenden Monarchie gestaltet hat (vgl. Willrich a. a. O. das Kapitel L. als Kaiserin 45-70). Bildnisse. Die uns erhaltenen beglaubigten Bildnisse der L. machen nicht nur die schnell entflammte Leidenschaft des Octavian für diese Frau begreiflich, sondern bestätigen auch den Eindruck, den man von ihrer Persönlichkeit gewonnen hat. Auf den meisten griechischen Münzen ist sie als Gottheit in idealisiertem, nicht individuellem Charakter wiedergegeben. Als gut beglaubigtes Porträt gilt die Münze des Senats, auf der sie als Salus erscheint. Als die am besten beglaubigten Darstellungen der L. können die

[924] kleine Bronzebüste im Louvre (Bernoulli Röm. Ikonographie II 1, 83ff.), ein Wiener Sardonyx, der L, als Priesterin des Augustus darstellt (Aschbach Taf. III 2), und der von Helbig Röm. Mitt. II 8ff. veröffentlichte Porträtkopf (vgl. auch Delbrück Antike Porträts, Bonn [1912] XLVIIf. Taf. 34) angesehen werden. Fast alle übrigen Darstellungen der L., so auch auf dem großen Pariser Cameo (Furtwängler Antike Gemmen [1909] I. Taf. 60 II S. 268ff.), sind höchstens von mittelmäßiger Bildnisähnlichkeit oder einfache Typen. Beulé, der ganz in der alten Auffassung von der großen Verbrecherin L. befangen ist, führt aus, daß man mit einem Blick auf die Bildnisse der L. an ihrer Nase und ihrem Mund ihre méchanceté und scélératesse erkennt (Beulé Auguste, Paris [1868] 123ff.).

Quellen. Wie aus der Darstellung hervorgeht, sind neben den Münzen und Inschriften die wichtigsten Quellen für die Geschichte der L. Sueton, Tacitus und Cassius Dio. Vereinzelte wichtige Mitteilungen und Charakterzüge finden wir bei Vell. Paterculus, Valerius Maximus, Seneca, Plinius dem Älteren und Josephus. Wenig Tatsächliches bieten die Dichter, selbst das der L. gewidmete Trostgedicht, das Epicedion Drusi (über Art und Wert der einzelnen Quellen vgl. Willrich a. a. O. 2–7). Moderne Darstellungen. Die auf den antiken Quellen aufgebauten Darstellungen der L. sind zunächst ganz im Urteil des Tacitus befangen (Zisich De domo Augusti, Straßburg 1697. St. Lotz Dissertatio de domo Augusti, Altorf 1715. A. Weichert Imperatoris Caesaris Augusti script. reliquiae, Grimma 1846). Die L. feindliche Darstellung der alten Schriftsteller leuchtet auch bei Eckhel D. N. VI 146ff., in der Vorrede bei Bernoulli Röm. Ikonographie II 1, 83ff., gelegentlich bei v. Domaszewski in der Geschichte der römischen Kaiser und namentlich bei Gardthausen Augustus und seine Zeit I 2, 1018ff. neuerdings auch bei Dessau Geschichte der römischen Kaiserzeit I 454 durch. Aus den verzerrten Schilderungen das wahre Bild der L. herauszuschälen, haben sich erfolgreich bemüht H. Stahr Römische Kaiserfrauen (1865) 27ff. J. Aschbach Livia, Gemahlin des Kaisers Augustus (1864) und in erster Linie H. Willrich Livia (1911), der das über L. vorhandene Material in größter Vollständigkeit vereinigt und verwertet. Manche interessante Gesichtspunkte, wenn auch zu Widerspruch herausfordernd, bietet G. Ferrero Die Frauen der Caesaren, übs. v. Kapff² (1914).