Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Wahl- u. Stimmrecht
Band X,2 (1919) S. 13021306
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Ius suffragii. Das Wahl- und Stimmrecht war im Altertum so gut wie in der Gegenwart eine der bedeutendsten Kompetenzen des Staatsbürgers. Die Wichtigkeit des i. s. war in der Antike sogar noch größer als jetzt; denn der Bürger hatte damals nicht allein seine Vertrauensleute zu wählen, sondern auch direkt in der Urversammlung über die Staatsangelegenheiten abzustimmen. Erwähnt wird das i. s. naturgemäß am meisten im Bezug auf diejenigen, denen es fehlte (z. B. Gell. XVI 18, 7: primos – municipes sine suffragii iure Caerites esse factos). Es lassen sich im Altertum vier Möglichkeiten feststellen, bei denen jemand, obwohl er Staatsbürger war, das Stimmrecht nicht besaß: 1. falls ein Bürger ein so schweres Vergehen begangen hatte, daß man ihn für unwürdig hielt, das Stimmrecht auszuüben; 2. falls er gewissen neueroberten Staatsteilen angehörte, denen man die volle Gleichberechtigung nicht erteilt hatte; 3. falls er von bescholtener Geburt war, insbesondere Sohn eines Sklaven; 4. falls sein Vermögen hinter dem Wählercensus zurückblieb. Diese vier Momente sollen im folgenden betrachtet werden, sofern sie im römischen Staate zutage treten.

1. Cicero erwähnt mehrfach als censorische Ehrenstrafe die Versetzung eines Bürgers unter die aerarii (pro Cluent. 122: in aerarios referri aut tribu moveri; vgl. de orat. II 268; de off. I 40). Die livianische Annalistik erwähnt diesen Akt oft unter der Formel: tribu movere et aerarium facere, bezw. tribu motum aerarium facere (Belege bei Mommsen St.-R. II³ 402, 2, sowie bei Kubitschek o. Bd. I S. 674 s. Aerarius). Wie [1303] Mommsen erkannt hat, sind die beiden in dieser Formel ausgedrückten Akte korrelat ,und der erste die notwendige Voraussetzung des zweiten‘. Die Censoren hatten also die Befugnis, bei der Aufstellung der neuen Bürgerliste, die nach den Tribus geführt wurde, einen Bürger aus seiner bisherigen Tribus zu streichen, ohne ihn in eine andere Tribus aufzunehmen. Der Betreffende hatte damit sein Stimmrecht verloren und wurde nunmehr in der besonderen Liste der sog. Aerarii geführt. Die Bemerkungen der römischen Antiquare über diese Institution, die uns Schol. Horat. ep. I 6, 62 sowie Pseudoascon. in divin. p. 189 Stangl vorliegen, stimmen damit überein. Wie man darauf gekommen ist, den mit Ehrverlust behafteten Bürger aerarius zu nennen, ist dunkel. Mommsens Hypothese, daß ursprünglich in den Tribus nur die Grundbesitzer gestimmt hätten, und daß die Aerarii die nicht ansässigen Leute der ältesten Staatsordnung gewesen seien, findet in der Überlieferung nirgends eine Stütze. Die hergebrachte Etymologie des Aerarius als ,Steuerzahlers‘ ist sprachlich wie sachlich gleich unwahrscheinlich, aerarius ist ein Mann, der irgend etwas mit dem aes zu tun hat, aber nicht derjenige, der aes bezahlt. Ferner waren doch auch solche Bürger aerarii, die gar kein Vermögen hatten, also auch keine Steuer zahlen konnten. Eine neue Hypothese über den wahrscheinlichen Sinn von aerarius vorzutragen, ist freilich hier nicht der Ort. – Die Institution des Aerarius hat nachweislich bis auf die Gracchenzeit bestanden, denn noch im J. 142 wollte Scipio Aemilianus als Censor den Ti. Claudius Asellus (s. über ihn Münzer o. Bd. III S. 2676) unter die aerarii versetzen (Cic. de orat. II 268). Es war eine sehr ernste Machtbefugnis, die auf diese Weise in die Hand der Censoren gelegt war. Sie konnten nach Gutdünken einem Bürger, den sie für unwürdig hielten, das Stimmrecht nehmen. Damit vergleiche man etwa die entsprechende attische Atimie, die nur in vom Gesetz genau festgelegten Fällen, bezw. durch Gerichtsurteil verhängt werden konnte. In Rom wurde Mißbräuchen dadurch vorgebeugt, daß der andere Censor die Entscheidung seines Kollegen verhindern konnte (Cic. Cluent. 122. Auch Asellus wurde auf diese Weise vor der Ehrenstrafe gerettet). Ferner vermochten ja die Censoren der nächsten Periode dem Betreffenden sein Stimmrecht zurückzugeben. Die Popularpartei der nachgracchischen Zeit hat den älteren Brauch bekämpft. Sie war der Ansicht, daß es dem Geist der römischen Verfassung widerspreche, wenn ein Magistrat einem Civis Romanus sein Stimmrecht nehmen könne. Diese Gedanken hat ein Annalist der Popularpartei den Censor C. Claudius Pulcher zum J 168 aussprechen lassen: negabat – suffragii lationem iniussu populi censorem cuiquam homini – adimere posse (Liv. XLV 15). Man forderte also für jeden Fall einer solchen Ehrenstrafe einen Volksbeschluß, im Geiste griechischer Demokratie. Indessen kam man damit von der Scylla in die Charybdis des Staatsrechts: denn eine solche Lex war ohne Zweifel ein Privilegium zuungunsten eines Bürgers, also wieder verfassungswidrig. Die Probe aufs Exempel bot die Verbannung Ciceros. Hätte damals noch die Censur alter Form bestanden, [1304] so wäre es möglich gewesen, Cicero wegen seines Verhaltens gegen die Catilinarier zum Aerarius zu machen. Bei dem Stand der Verfassung im J. 58 mußte dagegen die Popularpartei zu einem höchst anfechtbaren Ausnahmegesetz greifen. Die Lähmung der censorischen Gewalt durch Sulla hat auch die Institution des aerarius in Vergessenheit gebracht.

2. Die römischen Staatsmänner des 4. Jhdts. hatten die Absicht, eine italische Großmacht zu schaffen. Dies geschah in der Weise, daß möglichst viele populi dem Populus Romanus angegliedert wurden. Am einfachsten wäre es gewesen, allen unterworfenen Kantonen das römische Bürgerrecht zu verleihen, und dies war auch das Ziel, zu dem man die populi lateinischer Rasse führen wollte. Aber größere Staaten fremder Nationalität, die eine lange und stolze Vergangenheit hatten, wie Caere und Capua, ließen sich nicht einfach in Stimmbezirke des römischen Volkes umwandeln. Wenn die Caeriten und Campaner treue Anhänger des römischen Staatsgedankens werden sollten, mußte man ihnen ihre Sprache, ihr einheimisches Recht und ihre Selbstverwaltung lassen. Man entschied sich dafür diesen fremden Gemeinden eine modifizierte civitas Romana zu geben, die einerseits all die genannten Privilegien einschloß, der aber andrerseits das i. s. fehlte. Es fragt sich, warum man den Caeriten usw. das i. s. versagt hat. Praktisch hätten sie, auch im Besitze des Stimmrechts, nicht viel Schaden anrichten können, denn bei der Größe der Entfernung zwischen ihrer Heimat und der Stadt Rom wären nur die wenigsten Campaner zur Abstimmung erschienen. Aber die römischen Staatsmänner waren wohl der Meinung, daß für die ungewöhnlich weiten Sonderprivilegien der Caeriten usw. ein Ausgleich geschaffen werden mußte. Indem ihnen das i. s. fehlte, kam zum Ausdruck, daß die Civitas Romana des Carapaners doch etwas anderes war, als die des Einwohners des Aventin. Als erste haben die Etrusker von Caere um die Mitte des 4. Jhdts. die civitas sine suffragio erhalten. Darum hieß die Liste, auf der die Censoren die Bürger dieses Rechts führten, tabulae Caerites (Gell. XVI 13, 7. Strab. V 220; vgl. Mommsen St.-R. III 572ff. Kornemann o. Suppl. I S. 309 s. Civitas). Es folgte später eine Reihe anderer populi, so Capua und Cumae, die Kantone der Sabiner und mehrere Gemeinden der Volsker (vgl. die Belege bei Mommsen a. a. O. Lebendige Zeugnisse fehlen. Wir besitzen zerstreute Angaben der Annalistik, die zu den einzelnen Jahren den Eintritt der italischen populi in das römische Bürgerrecht mitteilt; dazu kommen Auslassungen der Antiquare, die verwirrt und wenig zuverlässig sind. Dies gilt auch von den beiden Artikeln bei Fest. 127 und 233, s. municipium und praefectura). Vor dem Ausland waren die Caeriten usw. Römer (vgl. die Inschrift eines oskischen Kaufmanns aus Delos: Μίνατος Μινάτου Στήιος Ῥωμαῖος ἐκ Κύμνς, Hatzfeld Bull. hell. XXXVI [1912] 80). Sie dienten in den römischen Legionen (Polybios stellt II 24 - nach Fabius Pictor – das Aufgebot der ,Römer und Campaner‘ dem der übrigen Italiker gegenüber) und hatten selbstverständlich – als eines Romani – alle privatrechtlichen Vorzüge des römischen Bürgers; [1305] trotz der Bedenken, die Mommsen 577 gegen ihr Commercium äußert Auf der anderen Seite wird die Selbstverwaltung dieser Gemeinden durch die lokalen Inschriften erwiesen, In Caere hat sich die alte etruskische Verfassung mit ihrem regierenden Dictator bis in die Kaiserzeit erhalten (s. Rosenberg Staat d. alten Italiker 66), und Capua hatte – bis zur Auflösung des populus im J. 212 – seine oskischen Institutionen mit den meddices als Präsidenten der Republik (Rosenberg a. a. O. 15ff.). Die Bewahrung der nationalen Amtssprache lehren die oskischen Magistratsinschriften aus dem Capua des 3. Jhdts. Dazu stimmt die interessante annalistische Notiz, daß Cumae erst im J. 180 v. Chr. auf eigenen Wunsch die lateinische Geschäftssprache erhalten habe (Liv. XL 42). Aus der Weiterexistenz der einheimischen Verfassung und Sprache folgt auch die des einheimischen Rechts. Formell mag freilich der Populus Romanus den Campanern bei ihrer Aufnahme ihre alten Gesetze als ,Spezialstatut‘ neu verliehen haben (Mommsen 582). Die Interessen der Zentralregierung bei den einzelnen Gemeinden vertraten die Praefecti iure dicundo (s. d.). Wie ihr Name lehrt, hatten sie vor allem in der Rechtsprechung zu tun. Es muß also irgend eine Kompetenzteilung zwischen ihnen und der Iurisdiction der einheimischen Magistrate existiert haben, die sich im einzelnen nicht mehr festlegen läßt.

Politisch hat sich die Schöpfung der cives sine suffragio gut bewährt. Die meisten ihrer Gemeinden haben sich schnell romanisiert, sodaß sie schon nach wenigen Generationen das Vollbürgerrecht erhalten konnten. Auch zwischen Rom und Capua hat diese Institution über ein Jahrhundert – und zwar in dem wichtigsten der italischen Geschichte – die Verbindung aufrecht erhalten. Dann hat freilich der campanische Partikularismus die Belastungsprobe der Schlacht bei Cannae nicht bestanden. Nach der Eroberung von Capua hat Rom den populus Campanus in seine Dorfgemeinden – die pagi – aufgelöst, sodaß die Campaner von nun an zwar cives blieben, aber weder Stimmrecht noch Selbstverwaltung der Gemeinde besaßen. In dieser Lage verharrten sie bis auf Caesar (vgl. Beloch Campanien² 317ff.). Die übrigen populi, denen das i. s. ursprünglich fehlte, dürften es im Laufe des 3. und 2. Jhdts. erhalten haben. Von den Volskerstädten Fundi, Formiae und Arpinum berichtet dies die Annalistik zum J. 188 (Liv. XXXVIII 36, 7). Auf griechischem Boden ist eine direkte Analogie zu den municipes sine suffragii iure nicht vorhanden. – Die römischen Antiquare behaupten, daß die Liste der Caeriten bei den römischen Censoren mit dem Verzeichnis der aerarii identisch gewesen sei, in dem Sinne, daß die Censoren diejenigen Leute, denen sie die bürgerlichen Ehrenrechte genommen hatten, in die Tabulae Caerites eintrugen (Gell. XVI 13, 7). Wirf werden den römischen Magistraten nicht zumuten, daß sie in dieser überflüssigen und gehässigen Weise die Bürger fremder Nationalität gekränkt haben sollten. Richtig bleibt es freilich, daß die Listen der Caerites und der Aerarii eine Einheit bildeten, da beide Verzeichnisse zusammen die Gesamtheit der Bürger, denen das i. s. fehlte, darstellten.

[1306] 3. Im vollen Gegensatz zur griechischen Demokratie wurde in Rom der Freigelassene eines römischen Bürgers gleichfalls Civis Romanus, erhielt seine Tribus und damit das i. s. Freilich haben die Censoren der späteren Republik die Libertini auf die großstädtischen Stimmbezirke beschränkt. Ti. Sempronius Gracchus soll die Absicht gehabt haben, ihnen als Censor im J. 168 das i. s. ganz zu nehmen (Liv. XLV 15. Mommsen St.-R. III 438), drang aber damit nicht durch. Die Hypothese Mommsens, daß Augustus den Freigelassenen das Stimmrecht ganz genommen habe (a. a. O. 440f). läßt sich kaum sicher beweisen. Die Erörterung dieses schwierigen Problems muß aber dem Art. Libertini vorbehalten bleiben.

4. Durch mangelndes Vermögen hat niemals ein römischer Bürger – im Gegensatz zu griechischen Staaten, wie z. Z. dem oligarchischen Athen vom J. 411 – sein Stimmrecht eingebüßt. Zwar beschränkte die Centurienordnung die Besitzlosen auf eine einzige der 193 Sammelstimmen und suchte sie auf diese Weise politisch kaltzustellen. Aber die Tribusordnung behauptete das Prinzip des gleichen Stimmrechts, und im Laufe der Entwicklung wurde die Bedeutung der Centurien durch die der Tribus immer mehr beschränkt.