Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Brutus, L. Plebeischer Doppelgänger von Nr. 46a bei Dionys.
Band X,1 (1918) S. 968970
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47) L. Iunius Brutus ist ein sonderbarer plebeischer Doppelgänger des ersten Consuls, von Dionys. VI 70, 1 als solcher eingeführt und ausgestaltet: ἦν δέ τίς ἐν τῷ στρατοπέδῳ (der Plebs auf dem Mons Sacer 260 = 494) πάνυ ταραχώδης καὶ στασιαστὴς ἀνήρ, ὀξὺς τῇ γνώμῃ προϊδεῖν τι τῶν ἐσομένων ἐκ πολλοῦ, καὶ εἰπεῖν ὅ τι νοήσειεν ὡς λάλος καὶ κωτίλος οὐκ ἀδύνατος, ὃς ἐκαλεῖτο [969] μὲν Λεύκιος Ἰούνιος, ὁμώνυμος τῷ καταλύσαντι τοὺς βασιλεῖς, ἐκπληρῶσαι δὲ τὴν ὁμωνυμίαν βουλόμενος ἠξίου καὶ Βροῦτος ἐπικαλεῖςθαι. τοῖς δ’ ἄρα πολλοῖς γέλως ἐπὶ τῇ κενοσπουδίᾳ τοῦ ἀνθρώπου εἰςήρχετο, καὶ ὅτε βουληθεῖεν ἐπισκώπτειν αὐτὸν Βροῦτον ἐπεκάλουν (vgl. 72, 2. VII 36, 1). Bei Dionys ist diese Persönlichkeit die eigentlich treibende Kraft in der ausgewanderten Plebs; zuerst bearbeitet er den Führer der Secession C. Sicinius (70, 2), dann die Gesamtheit in einer großen Rede (72, 3–80, 4); er fordert die Einsetzung des Tribunats (87, 1ff.), wird als Führer der Gesandtschaft an den Senat geschickt (88, 4), als erster Volkstribun mit Sicinius zugleich gewählt (89, 1) und beantragt die Unverletzlichkeit der Tribunen (89, 2). In den beiden folgenden Jahren wird er als einer der plebeischen Aedilen und wiederum als der eigentliche Anstifter und Hetzer bei allen Unruhen der Plebs, namentlich im Streit mit Coriolan dargestellt (Dionys. VII 14, 2-5. 15, 1. 16, 3-17, 6. 36, 1f.). Als ersten Volkstribun neben Sicinius kennen ihn noch Plut. Coriol. 7, 1 (Βροῦτον Ἰούνιον) und Suid. I 1, 1243, 15 Bernh. (Βροῦτον), aber sie haben ihn beide aus Dionys übernommen, sodaß dieser der einzige Gewährsmann ist; die älteren Annalisten hatten, auch wenn sie die Namen der Tribunen von 260 = 494 boten, diesen Namen nicht genannt. Daß daher der erste Tribun L. Brutus ein spät erfundenes Gegenstück zu dem ersten Consul ist, liegt auf der Hand; aber wenn Schwegler (R. G. II 272f., 3), der darüber ganz richtig geurteilt hat, nun den Zweck dieser Erfindung in einer Art Huldigung für den Caesarmörder M. Brutus und seine Familie sehen will, so kann man dem kaum zustimmen. Das Streben, sich als Nachkommen des ersten Consuls hinzustellen, war bei M. Brutus ebenso aufdringlich wie unberechtigt und forderte selbst bei seinen Freunden den Spott geradezu heraus (vgl. Cic. ad Att. XIII 40, 1; Brut. 62; dazu Herm. XL 100); vollends den Gegnern bot es eine nur allzu willkommene Angriffsfläche; τὸ πατρῷον γένος οἱ διὰ τὸν Καίσαρος φόνον ἔχθραν τινα καὶ δυσμένειαν ἀποδεικνύμενοι πρὸς Βροῦτον οὔ φασιν εἰς τὸν ἐκβαλόντα Ταρκυνίους ἀνήκειν … ἀλλὰ δημότην τοῦτον, οἰκονόμου υἱὸν ὄντα Βρούτου, ἄρτι καὶ πρώην εἰς ἄρχοντα προελθεῖν (Plut. Brut. 1, 2). Wie Dionys gelegentlich in aller Harmlosigkeit politische Karikaturen aus der jüngsten Vergangenheit als ernsthafte Geschichtsbilder aufnahm, hat Schwartz an einem Beispiel überzeugend dargetan (vgl. o. Bd. V S. 951, 57ff.); auch in diesem Falle ist ihm etwas Ähnliches begegnet; sein Gewährsmann hat nicht nur auf das nachdrücklichste betont, daß von einer Abstammung der plebeischen Iunii Bruti von dem ersten Consul durchaus keine Rede sein könne (V 18, 1f.), sondern hat auch eine Erklärung dafür geben wollen, woher die Übereinstimmung des Namens komme, und hat geradezu ein Zerrbild neben die Heldengestalt des Befreiers als den echten Stammvater der Familie gestellt. Unwesentlich für diese Entstehung der Gestalt des Tribunen ist es, daß Dionys ihm noch einen wohl als Bruder gedachten Genossen beigegeben hat (Nr. 55), und daß er im Grunde sein Bild ganz anders ausgeführt hat, als nach dem ersten Entwurf zu erwarten [970] war (vgl. den Widerspruch zwischen der anfänglichen Stimmung des Volkes gegen ihn VI 70, 1 [s. o.] und der Wirkung seiner großen Rede 81, 1). Vgl. über diesen Brutus auch noch Neumann Straßburger Festschr. 1901, 329ff.