Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Sondergottheiten in den Pontifikalbüchern
Band IX,2 (1916) S. 13341367
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Indigitamenta. Die I. bilden schon lange das umstrittenste Problem der älteren vortarquinischen Epoche der römischen Religionsgeschichte. Bei der ängstlichen Gewissenhaftigkeit, mit der die Römer, besonders ältester Zeit, den Göttern gegenüberstanden, war es eine wichtige Aufgabe der Pontifices, Leuten, die sich in Fragen des Gebets und der Götteranrufung an sie wandten, Rat zu erteilen. Die Pontifices sahen zu diesem Zwecke natürlich ihre Bücher, die Libri pontificales (Serv. Georg. I 21), ein; unter ihnen befindet sich eins, das, so unvollständig [1335] die daraus erhaltenen Notizen auch sind, Auskunft über den Charakter der Gebetsformen ältester Zeit gibt, die I.

Die wichtigsten Erwähnungen der I. in der antiken Literatur sind zwei Stellen, auf die wir wiederholt in verschiedenem Zusammenhange zurückkommen müssen; die eine findet sich bei Censorin. de die nat. III 22 eundem esse Genium et Larem multi veteres memoriae prodiderunt, in quis etiam Granius Flaccus in libro, quem ad Caesarem de indigamentis scriptum reliquit und weiter de die nat. III 3: Genio igitur potissimum per omnem aetatem quotannis sacrificamus; quamquam non solum hic, sed et alii sunt praeterea dei complures hominum vitam pro sua quisque portione adminiculantes, quos volentem cognoscere indigitamentoram libri satis edocebunt. Sed omnes hi semel in uno quoque homine numinum suorum effectum repraesentant, quocirca non per omne vitae spatium novis religionibus arcessuntur. Die zweite Stelle befindet sich bei Serv. Georg. I 21: Quod autem dicit ,studium quibus arva tueri‘, nomina haec numinum in indigitamentis inveniuntur, id est in libris pontificalibus, qui et nomina deorum, et rationes ipsorum nominum (numinum cod. Lemovicensis-Leidensis und cod. Monacensis 6394, in letzterem von zweiter Hand in numinum verbessert) continent, quae etiam Varro dicit. Nam, ut supra diximus, nomina numinibus ex officiis constat imposita, verbi causa ut ab occatione deus Occator dicatur, a sarritione Sarritor, a stercoratione Sterculinus, a satione Sator.

Aus diesen Stellen geht hervor, daß die in den als I. bezeichneten Pontificalbüchern vorkommenden Gottheiten solche mit beschränkten Funktionen waren, die, soweit es sich auf das Leben der Menschen bezieht, nur einmal im Leben eines jeden Menschen in Wirksamkeit treten und als solche in Gegensatz zum Genius gestellt werden, der uns das ganze Leben hindurch begleitet; die zweite Stelle sagt, daß die I. Name und Bedeutung solcher Gottheiten enthalten haben, deren Funktion in diesem Falle auf landwirtschaftlichem Gebiete lag. Zugleich werden uns zwei römische Altertumsforscher genannt, welche über die I. geschrieben haben; von der an Caesar gerichteten Schrift des Granius Flaccus De Indigitamentis wissen wir außer der Erwähnung an dieser Stelle nichts; vielleicht war er der Vermittler zwischen Censorinus und Varro, wenn er, wie z. B. Teuffel Gesch. d. röm. Lit.⁵ 1 § 199 annimmt, nach Varro geschrieben hat (vgl. Peter in Roschers Myth. Lex. II 131): ganz willkürlich sind bei Huschke Iurisprudent. anteiustin.⁴ 108f. die Fragmente nr. 2–8 der Schrift De indigitamentis zugeteilt.

Dagegen ist Varro, aus dem auch Censorinus an der erwähnten Stelle schöpft, für uns eine wichtige Quelle, wenn wir die Frage nach dem Wesen und Inhalt der I. beantworten wollen, obschon sich uns im Laufe der Untersuchung zeigen wird, daß wir ihm nicht mehr die Bedeutung einräumen können, die ihm Peter in Roschers Myth. Lex. III 129ff. gibt. Mit Bestimmtheit kann man sagen, daß in der [1336] erwähnten Serviusstelle die Worte Nomina bis Sator dem Varro entlehnt sind; alles, was Servius über die I. sagt, stammt aus Varro. Nun sind uns in ursprünglichem Wortlaut aus Varros Logistoricus Catus de liberis educandis zwei Fragmente erhalten, in denen die I. erwähnt werden: Varro vel de liberis educandis (frg. 6 p. 248 Riese) bei Non. p. 352 s. Numerum: … Quod etiam in partu precabantur Numeriam, quam deam solent indigetare etiam pontifices, wo der Hinweis auf die I. deutlich ist. Eine zweite Stelle, die ebenfalls eine klare Beziehung auf die I. enthält, findet sich in demselben Logistoricus (frg. 13 p. 249 Riese) bei Non. p. 532 s. Statilinum: Uti (so Riese; ali und ab die Hss.) Statano et Statilino, quorum nomina habent scripta pontifices, sic cum primo fari incipiebant, sacrificabant divo Fabulino. Jedoch auf die Schrift Varros Catus de libris educandis kann sich die Angabe des Servius, die auf eine eingehende Abhandlung über die I. hinweist, nicht beziehen, denn in jenem Logistoricus hatte Varro nur einige auf die Kindererziehung bezügliche I.-Gottheiten genannt (außer der Numeria dem Statanus, Statilinus und Fabulinus werden in den erhaltenen Fragmenten noch die Göttinnen Cunina, Rumina, Edusa und Potina erwähnt; vgl. Peter a. a. O. 142). Es deutet vielmehr alles darauf hin, daß die Mitteilungen den Antiquitates rerum divinarum Varros entlehnt sind; in jenem Werke nämlich hatte Varro auch ausführlich über die I. gehandelt. Augustinus nämlich, der zur Abfassung seines Werkes De civitate dei die Antiquitates rerum divinarum selbst in Händen hatte und auch eine genaue Inhaltsübersicht derselben gibt, berichtet (VI 9): denique et ipse Varro commemorare et enumerare deos coepit a conceptione hominis, quorum numerum est exorsus a Iano, eamque seriem perduxit usque ad decrepiti hominis mortem, et deos ad ipsum hominem pertinentet clausit ad Neniam deam, quae in funeribus senum cantatur; deinde coepit deos alios ostendere, qui pertinerent non ad ipsum hominem, sed ad ea quae sunt hominis, siculi est victus atque vestitus et quaecumque alia huic vitae sunt necessaria, ostendens in omnibus, quod sit cuiusque munus et propter quid cuique debeat supplicari.

Außer der bereits erwähnten Stelle des Serv. Georg. I 21 (vgl. Serv. Georg. I 315) und Erwähnungen bei Gell. III 16, 5 und XVI 16, 2, wo er über die Geburt des Menschen und auf dieselbe bezüglichen Gottheiten Prorsa und Postverta spricht (vgl. Roscher Myth. Lex. III 138) und weiter bei Gell. XVI 17, wo er über den ager Vaticanus und den gleichnamigen Gott handelt, Stellen, deren Ursprung aus dem XIV. Buch der Antiq. rer. divin. Varros gesichert erscheint, sind wir für die Kenntnisse dieses varronischen Buches, das die Göttererlasse der Di certi behandelte, auf die zusammenhängenden Auszüge des Augustin, Tertullian und Arnobius angewiesen; was das Verhältnis dieser Kirchenväter zu Varro betrifft, so kann auf die Ausführungen Peters bei Roscher Myth. Lex. III 139f. verwiesen werden und auf Erdm. Schwarz De M. Terenti Varronis apud sanctos patres [1337] vestigiis Cap. II, der die direkte Benutzung des Varro durch Augustinus und Tertullianus nachweist; anders liegen die Dinge bei Arnobius. Dieser nennt hauptsächlich IV 3. 7. 8. 9 eine Anzahl hierher gehöriger zum Teil auch bei Tertullian und Augustin vorkommender Gottheiten mit Angabe ihrer Munera, aber nicht in der Gruppierung der Reihen bei den beiden andern Kirchenvätern, vielmehr ist die Anordnung nach einer Beobachtung G. Kettners (Cornelius Labeo. Ein Beitrag zur Quellenkritik des Arnobius. Progr. von Pforta, Naumburg 1877, 16f.) im allgemeinen eine alphabetische; der Gewährsmann des Arnobius, bei dem er die Zusammenstellungen, wie er sie bietet, vorfand, ist nach Kettners ansprechender Vermutung der Zeitgenosse des Arnobius Cornelius Labeo (vgl. Reifferscheid im Ind. schol. Vratisl. 1879/80, 9 und Wissowa De Macrobii Sat. fontibus, Bresl. Dissert. 1880, 26ff. 40ff.). Die Aufgabe, die darin bestand, aus den Berichten der Kirchenväter uns ein möglichst klares Bild von Varros XIV. Buch zu geben und die Götterverzeichnisse, die er dort bot, mit möglichster Genauigkeit zu rekonstruieren, haben mit Erfolg Peter (bei Roscher II 143ff.) und in scharfsinnigen Untersuchungen, die sich auch auf das Verhältnis Varros zu seinen Quellen, insbesondere den Aufzeichnungen der römischen Pontifices beziehen, R. Agahd (M. Terentii Varronis antiquitatum rerum divinarum libri I. XIV. XV. XVI, Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIV, 20ff. 36ff. 123ff.) gelöst. Ich gebe ein Verzeichnis der dei certi, wie es aus einer synoptischen Zusammenstellung der Berichte des Augustinus und Tertullianus Agahd a. a. O. 36ff. bietet in der Reihenfolge, in welcher die Kirchenväter die einzelnen Götter aufgezählt haben. (Das Verzeichnis der dei certi s. S. 1339–1342.) Außerdem bietet Arnobius die folgenden Gottheiten: IV 3 Praestana, Pando vel Pantica, Pellonia; IV 7f. Venus Perfica, Pertunda, Tutunus, Puta, Peta, Nemestrinus, Patellana, Patella, Nodutis, Noduterensis, †Vpibilia, Orbona, Nenia, Mellonia, Ossipago; IV 9 Lucrii, Libentina, †Burnus, Limentinus, Lima, Limi, Saturnus, Montinus, Murcida, Pecunia. Die Varronischen Fragmente des XIV. Buches sind im folgenden nach der Sammlung der Fragmente von Agahd zitiert (a. a. O. 166ff.); es zerfiel wieder in drei Hauptteile; es wurden behandelt: 1. die Dii, qui pertinent ad ipsum hominem; 2. Dii, qui pertinent ad ea, quae sunt hominis, sicut est victus atque vestitus; 3. Dii, qui pertinent ad alia, quae huic vitae sunt necessaria. Die Götter treten uns in Gruppen entgegen, deren jede ein bestimmtes Gebiet des menschlichen Lebens oder menschlicher Tätigkeit umfaßt; daher ist in unserer Überlieferung von besonderen di praesides puerilitatis (Varro im Logistoricus Catus de liberis educandis bei Non. p. 352) oder di pueriles (August. c. d. IV 34), di nuptiales (Tertull. ad nat. II 11) oder coniugales (August. c. d. IV 34), di agrestes (August. c. d. IV 21) u. a. die Rede; neben den Namen der Gottheit setzte Varro regelmäßig eine aus der etymologischen Bildung de» Namens sich ergebende Definition ihres Wirkungskreises: [1338] Cunina, quae cunas infantum admmistrat (frg. 23 a).

Besondere Verlegenheit bereitete denen, die in den I. nur Verzeichnisse von Sondergöttern sehen wollten, z. B. Peter a. a. O. 168 u. 151ff., die Tatsache, daß sich in den varronischen Reihen auch eine ganze Anzahl Gottheiten allgemeiner Bedeutung finden; es sind dies die folgenden: Ianus, Saturnus, Liber, Mars, Honor, Opis, Carmentes, Fortuna, Mens, Minerva, Camena, Iuventas, Fortuna Barbata, Bellona, Victoria, Flora, Iuturna; Peter hilft sich a. a. O. damit, daß er sagt, diese Gottheiten könnten nicht in den I. gestanden haben, weil ihnen das Charakteristische des 'indigitare fehle; Varro habe sie vielmehr hinzugefügt.

Ambrosch war es nun vor allem, der in seiner berühmten Abhandlung ,Über die Religionsbücher der Römer‘ (zuerst erschienen in der Ztschr. f. Philos. und Kath. Theol. N. F. III, 1842, dann separat Bonn 1843), auf die nach sachlichen Rubriken geordneten Listen von in Begriff und Funktion eng begrenzten Gottheiten hinwies. Ambrosch vertritt die Ansicht, daß Varro in seiner Einteilung der Sondergötter den I. gefolgt sei. Zugrunde lag für diese Einteilung der scharfe Unterschied zwischen persona und res (so schon in des Verfassers Stud. und And. S. 69 Anm. 109); daraus ergeben sich, auf das menschliche Leben angewandt, ganz natürlich die angedeuteten Götterreihen. Zur Erklärung, wie die großen Gottheiten in die I. hineingekommen seien, bemerkt er, daß jene das gemeinsam hätten, daß sie allgemein wirkende Naturkräfte seien, nicht wie die di minuti nur einen einzelnen Moment menschlicher Zustände und Tätigkeiten, sondern eine ganze Gruppe von solchen in sich verkörperten. Während sie in späterer Zeit zu den zahlreichen Gottheiten niederer Ordnung in einen gewissen Gegensatz getreten seien, hätten sie ihnen in der altrömischen Auffassung nicht ganz fern gestanden, da auch sie in gewissen Zuständen des menschlichen Lebens nur einen Moment zu verwirklichen hätten, in dem ihr allgemeines Machtgebiet gewissermaßen auf diesen Fall beschränkt sei (Abdr. S. 31). Habe nun aber zwischen Gottheiten höheren und niederen Grades eine so enge Beziehung bestanden, so sei nicht anzunehmen, daß jene in anderen Werken des Pontificalarchivs Platz gefunden hätten, als in den die Tätigkeit der di minuti mit so skrupulöser Genauigkeit verzeichnenden I. (Abdr. S. 33).

Auf Grund einer Stelle von Macrobius (Sat. I 17, 15) virgines Vestales ita indigitant: Apollo Medice, Apollo Paean, die wahrscheinlich durch Vermittlung einer neuplatonischen Quelle auf Cornelius Labeo zurückgeht (vgl. Wissowa De Macrobii Sat. fontibus 40), stellt er fest, daß beim Indigitieren Anrufung und Bezeichnung der Eigenschaften der Gottheiten verbunden gewesen seien; daher habe Paulus S. 114 das Wort I. mit Recht durch incantamenta vel indicia erklärt; dann habe es die Bedeutung erhalten ,auf priesterliche Weise einen Gott bezeichnen‘. Zum Beweise dient ihm eine ebenfalls aus Cornelius Labeo geschöpfte Stelle des Macrobius (Sat. I 12, 21; vgl. Kettner Cornelius Labeo 18 u. 27ff. Wissowa [1339]

Versuch einer Rekonstruktion der varronischen Liste der dei certi nach Augustin und Tertullian.
nach Agahd Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIV S. 36–38)
Es ist die Anordnung beibehalten, in der die Kirchenväter die einzelnen Götter aufzählen.
Die Namen derjenigen, die sie gegen die varronische Ordnung an einen ihnen nicht zukommenden Platz gesetzt haben, ist durch ein Sternchen bezeichnet).
Tert.ad nat.
II 11
Aug. C. D
IV 11
Aug. C. D
IV 21
Aug. C. D
VI 9
Aug. C. D
IV 8
Aug. C. D
IV 16
Aug. C. D
IV 34
Aug. C. D
VII 2
Conservius *Educa Ianus
*Potina Saturnus
Fluviona Liber Liber Liber
Libera Libera Libera
Vitumnus Mena
Sentinus *Mercurius Vitumnus
Diespiter Diespater *Minerva Sentinus
*Mena *Catius
Lucina Lucina Lucina
Candelifera
Carmentes Opis Opis
Vaticanus Vaticanus
Farinus
(Locutius)
Levana *Rumina
Cunina Cunina Cunina *Cunina
*Levana *Carmentes
Fortuna
Runcina (?) Rumina Rumina Educa
Potina Potina Potina _________
Edula (?) Educa dii pueriles
Aug. C. D.
Sta(tina) Statilinus
VII 8
(Adeona) Adeona ========
Abeona Abeona
Domiduca Abeona
(Mens) Mens Adeona
Volumnus Volumnus
Voleta Volumna Mens
(Pave)ntina Paventia
Venilia Venilia Cluacina
Volupia Volupia
Volupia
Lubentia
*Vaticanus
*Cunina
Praestitia
Peragenor Agenoria
Stimula
Stimula Murcia
Strenia Strenia
Quies Minerva
Numeria
Camena
Consus Consus
Sentia
Iuventa Iuventas *Intercidona
Fortuna barb. Fortuna barb. *Pilumnus
*Deverra
dii nuptiales dii coniugales
Afferenda
Iugatinus Iugatinus
Domiducus
Domitius
Manturna
Mutunus et Tutunus dea Virginiensis dea Virginiensis
Pertunda
Subigus Subigus
Prema Mutunus Prema
vel Tutunus Pertunda
Venus
_______ vel Priapus Priapus Priapus
Tert. ad. nat.
II 15
======
(Vi)duus
0Caeculus
0(Or)bana
0dea mortis (Mors ?)
dii agrestes Rusina
Iugatinus
Collatina
Fructeseia Vallonia
Seia
0Segetia
0Tutilina
0Proserpina
0Nodutus
0Volutina
0Patelana
0Hostilina
Flora Nymphae
Lacturnus Lymphae
Mars Matuta Mars
Bellona Runcina Bellona
Victoria Victoria
Honor *Segetia
*Bubona Virtus
*Mellona Felicitas
*Pomona
Pecunia Pecunia
Aesculanus
0Argentinus
dii locorum
0Ianuspater
0Iana
0Ascensus
0Clivicola
Forculus Forculus
(Car)dea Cardea
Limentinus Limentinus
*Fessonia
0*Pellonia
0*Apollo
0*Aesculapius
0*Spiniensis
0*Rubigo

[1343] De Macrob. Sat. font. 27. 42. Mülleneisen De Cornelii Labeonis fragmentis, studiis, adsectatoribus, Marburg 1889): über Maia: Auctor est Cornelius Labeo huic Maiae id est Terrae aedem kalendis Maiis dedicatam sub nomine Bonae Deae, et eandem esse Bonam Deam et Terram ex ipso ritu occultiore sacrorum doceri posse confirmat. Hanc eandem Bonam Deam Faunamque et Opem et Fatuam pontificum libris indigitari. Ambrosch folgert daraus, daß indigitare weder den engeren Sinn von invocare und imprecari behalten, noch auch den von citare völlig angenommen habe, sondern in der Zerlegung der göttlichen Natur in eine Reihe von Qualitätsbestimmungen bestehe, die nur bei den feierlichen Anrufungen jener Gottheit sämtlich vom Priester genannt worden seien; Fauna, Ops, Fatua, Bona Dea seien nur verschiedene Seiten von Maia. Bezeichne nun aber indigitare einen oder mehrere Götter nach einer im ius divinum bestimmten Form anrufen oder nennen, so seien wir auch berechtigt, diejenigen Gottheiten, auf welche mit Beziehung auf die Pontifices oder deren Bücher jener Ausdruck angewandt wird, als in den I. verzeichnet anzunehmen. Aus der Stelle Serv. Aen. VIII 380: Set hic Alexandrum sequitur, qui dicit Tiberinum, Capeti filium, venantem in hune fluvium (den Tiber) cecidisse, et fluvio nomen dedisse: nam et a pontificibus indigitari solet‘ folgert er, daß der Name ,Tiberinus‘ selbst in den I. stehe und daß dort auch die ihm zukommenden Qualitätsbestimmungen genannt seien; darnach hätten, wie Ambrosch meint, auch die Namen von andern Flüssen wie Spino Almo und Nodinus, welche nach Cic. nat. deor. III 20, 52 in einem Gebete der Augurn mit Tiberinus angerufen wurden, in den I. ihren Platz gehabt. Die völlig falsche Auffassung dieser Stelle durch Peter bei Roscher Myth. Lex. III 168 weist schon Agahd M. Terenti Varronis Antiquitatum rerum divinarum libri I, XIV, XV, XVI (Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIV 132) zurück. Ambrosch kommt zu dem Resultat, daß wir genötigt seien, anzuerkennen, daß in den I. nicht bloß jene von Censorinus und Servius angedeuteten Götterreihen, sondern sicher noch sehr viele andere und höchstwahrscheinlich sämtliche durch Ursprung oder zeitige Rezeption dem älteren Staatskultus angehörigen Gottheiten verzeichnet gewesen seien; es müßten diese geistlichen Urkunden, die mit der Entwicklung des römischen Volkes selbst notwendig im Laufe der Jahrhunderte immer mehr anschwollen, gleichsam ein Corpus sämtlicher oder wenigstens sämtlicher älteren vom römischen Staate und Volke anerkannten Götter gewesen seien (Abdr. S. 40).

Walz schloß sich dieser Auffassung der I. an (s. den Art. Religio bei Pauly R.-E. VI 430; vgl. auch des Vf. De Religione Romana antiquisisima I, Tübing. 1845 u. Verhdl. d. Dresdn. Philol.-Versamml. 1844, 54). Boissier steht in seiner ersten Darstellung der I. (Stade sur la vie et les ouvrages de M. T. Varron 233ff.) zum Teil auf dem Standpunkt von Ambrosch. Er weicht aber von ihm ab, indem er die I. für ,livres de prières‘ hält, welche nicht etwa nur eine Namensaufzählung, sondern auch die Anrufungsformeln enthalten hätten. Alles, was Varro über [1344] die dii certi berichtet, habe er den I. entnommen, seine Anordnung der Götter aber sei sein Eigentum; von der Sammlung der Pontifices nimmt Boissier an, daß sie in hohem Grade ungeordnet gewesen sei (S. 233). Die Entstehung der dii certi setzt er (S. 239ff.) in die Zeit, wo Sabiner und Latiner zu einem Gemeinwesen auch hinsichtlich ihrer Götterkulte sich vereinigt hatten. Die Gottheiten beider Stämme z. B. Ianus, Iuppiter von latinischer, Ops von sabinischer Seite hätten bei dieser Vereinigung ihren auf das ganze Leben sich erstreckenden Wirkungskreis eingebüßt und seien in ihren Funktionen auf bestimmte Fälle beschränkt worden.

Mancher brauchbare Gedanke findet sich auch in den Ausführungen Bouché-Leclercqs (Les Pontifes 24ff.). Da auch er indigitare mit invocare gleichsetzt, so bezeichnet er die I. als Gebetslisten und als ihren Inhalt die Namen derjenigen Götter, die im menschlichen Leben eine Rolle spielten, mit der für jeden von ihnen zutreffenden Gebetsformel (vgl. dessen Manuel des institutions romaines 520, 6 und 467). Varro sei bei seiner Aufzählung der Götter den I. gefolgt und habe die Anordnung der Gottheiten in denselben als wesentlichen Bestandteil der pontifikalen Tradition beibehalten (S. 29f.).

Der erwähnten Serviusstelle entnimmt Bouché-Leclercq (S. 38), daß die I. die Anrufungsformeln in einer Weise ausgedrückt enthielten, daß das Gebet gleichsam eine Art Kommentar des Namens gewesen sei; die Notwendigkeit, aus den I. auf Befragen Rat zu erteilen, zwang die Pontifices, die Gottheiten zu klassifizieren; so schreibt er die in der alten Formel der Fetialen (Liv. I 32, 10) sich findende Einteilung der Götter in dii superi, inferi (vgl. August. c. d. VII 28) und terrestres oder medioxumi (vgl. Serv. Aen. III 134) den I. zu; im einzelnen vgl. Roscher Myth. Lex. III 161ff. Hervorgehoben sei die ansprechende Auffassung Bouché-Leclercqs, daß er die Anrufungen der I. als ursprünglich an die Gottheit im allgemeinen sich gerichtet denkt, um ihre Wirksamkeit auf einen bestimmten Fall zu beschränken; daher seien die Namensformen der I.-Gottheiten diejenigen von Epitheta, welche stets mit dem Zusatz divus pater und diva mater verbunden worden seien (vgl. S. 46 und Manuel des institutions romaines 467, 1, wo er annimmt, daß in den I. die Götter in Paaren, z. B. Volumnus-Volumna, Domiducus-Domiduca, Iugatinus-Iuga usw. zusammengestellt gewesen seien). Die Redaktion der I. setzt er in die Zeit des Ancus Marcius (S. 42); doch habe schon vor der Redaktion die Umwandlung der Epitheta zu selbständigen Göttern begonnen und sich unter den Händen der Pontifices weiter entwickelt; zur Zeit der Aufzeichnung der I. sei die Zahl der Gottheiten relativ gering gewesen, sehr zahlreich aber die Attribute der einzelnen Götter, die in der Art der Litaneien des katholischen Kultus in Reihen dem Namen der Gottheit angeschlossen worden seien: die große Bedeutung, welche den Epitheta zukam, habe zunächst zu einer Einzelanwendung derselben und dann zu ihrer Erhebung zu selbständigen Götterwesen geführt, und die Pontifices selbst hätten, das [1345] Verständnis der I. immer mehr verlierend, dieser volkstümlichen, aber irrtümlichen Fortbildung sich angeschlossen (S. 46). Auch Bouché-Leclercq (S. 47) schließt sich der Ansicht, die Ambrosch a. a. O. 60 vertritt, an, daß die Pontifices sich für ihren täglichen Gebrauch aus den I. Auszüge (tabulae) machten; in diese tabulae hätten sie nur das Notwendigste, d. h. die Anrufungen und die Epitheta, mit Hinweglassung der Gottheiten von allgemeinerer Bedeutung, zu denen jene Epitheta gehörten, aufgenommen, und diese Auszüge hätten sich allmählich so vollständig an die Stelle des Originalwerkes gesetzt, daß auch die gelehrtesten Pontifices und nach ihnen die Altertumsforscher sich mit ihnen begnügt hätten; dabei setzt sich allerdings Bouché-Leclercq über die Tatsache hinweg, daß unsere Überreste der I., wie erwähnt, eine ganze Anzahl von Gottheiten allgemeinerer Bedeutung aufweisen.

Während Marquardt in seiner ersten Darstellung der I. (Becker-Marquardt Handbuch der röm. Altertümer IV, Leipzig 1856, 7ff.) ganz auf dem Boden von Ambrosch steht, ändert er später seinen Standpunkt und erklärt (St.-V. III² 7ff.) die I. als eine offizielle Sammlung von Gebetsformeln, in welchen diejenigen göttlichen Mächte zusammengestellt waren, deren Hilfe in einem bestimmten Falle in Anspruch genommen werden mußte und von denen keine übergangen werden durfte, wenn ein günstiger Erfolg des Gebetes eintreten sollte; er vermutet mit Recht, daß, soviel man aus der auf uns gekommenen fragmentarischen Überlieferung schließen könne, von den I. nie mehr als ein kleiner Teil in das Publikum gedrungen sei, der dem Bürger für gewisse Kulthandlungen als Regulator dienen konnte, also Gebete bei der Eheschließung, der Geburt eines Kindes, Gebete in verschiedenen Perioden des Lebensalters und für den Beginn aller Berufsgeschäfte; der bei weitem größere Teil, welcher für den Gebrauch der Priester und die Verehrung der Götter des Staates bestimmt gewesen sei, sei weder im Altertum profanen Schriftstellern bekannt geworden, noch uns weiter verständlich. Er meint, daß Varro die I. selbst benutzt habe, seine dii certi seien die Gottheiten der I. Wenig glücklich ist die Behauptung Marquardts, daß es wenig Wahrscheinlichkeit habe, daß die Erklärungen der Namen, welche Varro gibt, aus den I. geschöpft seien, denn hierfür spreche weder die Beschaffenheit der Erklärungen, noch der Zweck der I.; die Erklärungen seien deutlich als Etymologieen Varros zu erkennen, der auf diesem Gebiet nicht glücklich gewesen sei; doch bemerkte schon Wissowa (St.-V. III² 10, 4) mit Recht, daß dies von den meisten Erklärungen nicht gelten könne, da ja nach dem eigenen Zeugnisse Varros bei Serv. Georg. I 21 die I. selbst et nomma deorum et rationes ipsorum nominum enthielten. Gegen die Auffassung von Ambrosch, daß die I. eine Art offizieller Protokolle der ältesten Götternamen seien, wendet sich Preller, der in ihnen vielmehr den authentischen Originalkodex sämtlicher in der Praxis des römischen Staatsgottesdienstes bei dieser oder jener Gelegenheit vorgetragenen Gebete [1346] (Röm. Myth. I³ 134ff.) sehen will; allerdings seien diese Bücher wohl Verzeichnisse gewesen (indigitamentum = Frequentativum von index), aber nicht von bloßen Götternamen, sondern von altertümlichen Gebeten für die wichtigsten Ereignisse des Lebens; auch er faßt indigitare als ,beten‘ oder ,anrufen‘; doch werde indigitare namentlich von dem priesterlichen, mit religiöser Weihe und bei feierlichen Anlässen vorgetragenen Gebete der Pontifices, der Vestalinnen und der Flamines gebraucht, vielfach in dem Sinne einer magischen Beschwörung durch das Gebet, weshalb Paulus S. 114 erkläre: indigitamenta: incantamenta, vel indicia.

Der eben näher bezeichneten, von Ambrosch abweichenden Auffassung der I. durch Marquardt und Preller schließt sich Schwegler (R.G. I 32) an, der in ihnen nur einen Teil jener Literatur sieht, die unter dem Namen libri pontificii zusammengefaßt wird.

Ablehnend und skeptisch verhält sich Madvig (Verfass. u. Verwalt. d. röm. Staates II 582, 1) gegenüber den I.: ,Einige neuere Schriftsteller haben ein ganz besonderes Gewicht auf eine gewisse Klasse von Pontifikalbüchern, i., gelegt und behauptet, daß Varro vorzugsweise und unmittelbar aus ihnen geschöpft habe; aber einmal ist die Beschaffenheit dieser i. äußerst unklar (über die Definition bei Serv. Georg. I 21 bemerkt er, Servius habe gewiß nicht selbst die I., wohl aber Varros Etymologie gekannt) und der Beweis für Varros umfassenden Gebrauch derselben höchst unsicher; was man als daraus entnommen zusammengestellt hat, betrifft durchaus nicht das Wesentliche des römischen Staatskultus, sondern die spätere Symbolik‘. Bemerkenswert ist, daß er als einziger Varro gegenüber sehr skeptisch ist und die Ansicht vertritt, die Einteilung der Götter in verschiedene Klassen, die alle anderen, wie wir sahen, ohne Einschränkung den I. zuschrieben, beruhe auf Varros eigenen Einfällen und Grübeleien.

Die I. hat offenbar Mommsen im Auge, wenn er sagt (R. G. I² 165): ,Die national-römische Theologie suchte nach allen Seiten hin die wichtigsten Erscheinungen und Eigenschaften begrifflich zu fassen, sie terminologisch auszuprägen und schematisch – zunächst nach der auch dem Privatrecht zugrunde liegenden Einteilung von Personen und Sachen – zu klassifizieren, um danach die Götter und Götterreihen selber richtig anzurufen und ihre richtige Anrufung der Menge zu weisen (indigitare).‘

Fast noch weiter als Ambrosch geht in der Wertschätzung der Sondergötter Chantepie de la Saussaye (Lehrb. d. Religionsgesch. II 204), der auch den Zusammenhang der Sondergötter mit den mehr persönlichen Göttern in Abrede stellt und es für wahrscheinlich hält, daß die Sondergötter von Anfang an unabhängig für sich existiert hatten.

Auch v. Domaszewski ist der Ansicht, daß nur Sondergötter in den I. verzeichnet waren; er spricht (Ges. Abh. 158ff.) von Augenblicksgöttern der i., die die Wirkungen eines numen in einer Reihe von Augenblicken stärkster Äußerung hervortreten lassen; nicht folgen können wir ihm, wenn er nur das Anrufen einer solchen [1347] Götterreihe indigitare und die Reihen der Götter, welche eine solche Litanei bilden, indigitamentum nennt.

Wenig förderlich ist auch der Versuch Nissens (Das Templum. Antiquar. Untersuchungen, Berlin 1869, 8), die Entstehung der I.-Gottheiten zu erklären.

Dieser Überblick über die Auffassung der neueren Gelehrten über den Begriff und Inhalt der I. erschien bei der vielumstrittenen Natur dieses Gegenstandes unbedingt notwendig; neben vielem Unbrauchbaren ist mancher nützliche Fingerzeig in diesen Darlegungen enthalten. Zwei Hauptgruppen lassen sich in den vorstehend aufgeführten Ansichten unterscheiden: die eine Gruppe faßt die I. als Verzeichnisse altrömischer Götter mit ihren Anrufungen (Ambrosch, Walz, Boissier, Bouche-Leclercq, Marquardt in seiner ersten Darstellung, Chantepie de la Saussaye), oder als Sammlung von Gebeten (Preller, Marquardt, Schwegler a. a. O.). Die Vertreter der ersten Gruppe fassen indigitare als ,weisen‘ und i. als ,Verzeichnisse‘, indem sie, wie Mommsen, das Wort als eine Weiterbildung von index fassen; die Vertreter der zweiten Gruppe fassen indigitare als gleichbedeutend mit imprecari oder invocare auf; dies war auch die Meinung der Alten (Paul. S. 114 indigitanto: imprecanto; Serv. Aen. XII 794 indigeto est precor et invoco; Glossae abavus im Corp. gloss. lat. edd. Goetz-Gund. IV 352, 47 indigitat: invocat; Glossar, lat. bibl. Parisinae antiquissimum saec. IX ed. Hildebrand (Göttingen 1854) 171 indigitat: invocat; Thesaur. nov. latinitatis in Mais Classici Auct. VIII 291 indigitare: invocare, inplorare, exorare, supplicare, incalare; ferner die schon erwähnte Erklärung von Paul. S. 114, der i. durch incantamenta vel indicia erklärt.

Diese Erklärung der alten Grammatiker, der sich Wissowa (Ges. Abh. 176) und Agahd⁴ a. a. O. 132 anschließen, trifft, soweit ich sehe, das Richtige; denn nichts in unserer Überlieferung berechtigt uns dazu anzunehmen, daß die Worte indigitare und i. etwas anderes bedeutet haben als imprecari oder incantamenta; die Worte werden sowohl vom Gebet im allgemeinen, wie Tertull. de ieiunio 16 (S. 295, 25 Vind.): precem indigitant, hostiam instaurant, als auch von der Anrufung jedes beliebigen Gottes gebraucht. So wird, um die zum Teil schon erwähnten Stellen noch einmal zusammenzustellen, indigitare von Apollo zweimal gebraucht (Macrob. Sat. I 17, 15. Arnob. II 73), von Bona dea (Macrob. Sat. I 12, 21), Genius (Censor. 3, 2), Tiberinus (Serv. Aen. VIII 330; die an dieser Stelle durch indigitare bezeichnete Anrufung des Gottes wird offenbar in gleichem Sinne Aen. VIII 31 durch in sacris vocatur und VIII 72 durch invocatur in precibus wiedergegeben), endlich Numeria (Varro bei Non. p. 352); von allen diesen ist allein Numeria eine ,Sondergöttin‘. Daß indigitare allgemein im Sinne von ,anrufen‘ zu fassen ist, erkannte schon richtig Ambrosch a. a. O. 34ff. (vgl. Roscher Myth. Lex. III 155), und vergeblich sucht Peter (Roschers Myth. Lex. III 167) ihn zu widerlegen. Auch Servius und Censorinus sagen an den erwähnten Stellen (o. S. 1335), an denen sie diejenigen, [1348] die von den Göttern des Landhaus oder den das menschliche Leben begleitenden Gottheiten etwas Näheres wissen wollen, auf die I. verweisen, nichts davon, daß in ihnen etwa nur jene Klasse von Sondergöttern enthalten gewesen sei; der schlagendste Beweis jedoch dafür, daß alle jeweils im römischen Staatskultus verehrten Götter in den I. ihren Platz hatten, ist die Bemerkung des Arnobius II 73 (non doctorum in litteris continetur Apollinis nomen Pompiliana indigitamenta nescire?), die vermutlich auf Cornelius Labeo zurückgeht (vgl. Kettner Cornelius Labeo. Ein Beitrag zur Quellenkritik des Arnobius, Programm von Pforta, Naumburg 1877, 30 frg. 25 und Mülleneisen De Cornelii Labeonis fragmentis, studiis, adsectatoribus, Dissert. Marb. 1889, 37 frg. 25). Daraus also, daß der gelehrte Gewährsmann des Arnobius aus dem Fehlen des Namens des Apollo in der ältesten, dem König Numa zugeschriebenen Redaktion der I. die spätere Einführung des Kultes dieses Gottes folgert, geht mit Bestimmtheit hervor, daß nach Ansicht der Gelehrten die I. alle jeweils im römischen Staatskult verehrten Götter enthielten; und so ist es sehr wahrscheinlich, daß mit den comprecationes deorum immortalium, die nach Gell. XIII 23, 1 in den libri sacerdotum populi Romani enthalten waren, die I. gemeint waren.

Die uns durch Varro überlieferten Götterreihen werden von den meisten ohne weiteres als den I. entnommen betrachtet, wobei von Preller und Boissier jedoch die Anordnung der Gottheiten Varro zugeschrieben wird. Eine verhängnisvolle Verwirrung, die erst Wissowa durch seine Abhandlung De dis Romanorum indigetibus et novensidibus disputatio (Marburger Universitätsprogramm 1892 = Ges. Abh. zur röm. Religions- u. Stadtgeschichte 175ff.) endgültig beseitigt hat, ist dadurch entstanden, daß man die Götter mit engumschriebenen Funktionen, durch den Anklang an i. verführt, als die indigetes bezeichnete; diesen Fehler beging Peter, einer bestechenden Vermutung Reifferscheids folgend, in seinem fleißigen und umfangreichen Artikel bei Roscher Myth. Lex. III 129ff. Er faßt seine Ansicht S. 132 wie folgt zusammen: ,Indigito und indigitamentum bilden zweifellos mit Indiges eine Gruppe von etymologisch wie sachlich zusammengehörigen Wörtern. Indigito bedeutet nach Reifferscheids (persönlich mitgeteilter) Erklärung ,ich mache, schaffe einen Indiges‘; indigitamentum ist hiernach die Gebetsformel, durch welche in den einzelnen Fällen dieses Schaffen eines Indiges zu geschehen hat, während die Handlung des Indigitierens selbst wohl indigitatio (ein Wort, das nirgends überliefert ist) geheißen haben wird. Die Indigetes sind also die im Vorstehenden vorläufig nur im allgemeinen charakterisierten Gottheiten der I.‘ Demgemäß sieht Peter in den I. nur Verzeichnisse der von den Pontifices festgesetzten Indigetennamen, welche in den diesen beigegebenen rationes ipsorum nominum eine Anweisung gaben, wie die Namen zu gebrauchen, d. h. welcher Indiges im einzelnen Falle anzurufen war (a. a. O. 167).

Wissowa schenkt in seiner Darstellung [1349] der römischen Religion den I. nur geringe Beachtung, doch sah er sich genötigt, sich eingehend mit dem Problem aufs neue auseinanderzusetzen, als Usener (Götternamen, Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896) seine geistreiche und tiefgehende religionsgeschichtliche Konstruktion einer der Verehrung persönlicher Götter vorausliegenden Religionsstufe, die nur gleichwertige ,Sondergötter‘ kenne, neben den litauischen Überlieferungen speziell auf diese ,hervorstechende Eigentümlichkeit der römischen Religion‘ aufbaute.

In zwei Punkten besonders bedeuten die Forschungen Wissowas einen großen Fortschritt, indem er nämlich erstens uns in der eben erwähnten Abhandlung von dem Irrtum Peters befreite und die Indigetes von I. streng scheiden und zweitens in seiner Abhandlung: Echte und falsche ,Sondergötter‘ in der römischen Religion (Ges. Abh. 304ff.) den Wert der varronischen Überlieferung richtig einschätzen lehrte.

Die Vermischung von indigetes und i. hat die klare Erkenntnis der indigetes ebenso erschwert wie die I. verdunkelt; Corssen (De Volscorum lingua 18; Kritische Nachtr. 254), Stolz (Arch. f. lat. Lexikogr. X 156ff.) und Peter a. a. O. vertraten die Ansicht, daß indiget- ein passives Partizipium eines verlorenen Verbums *indigěre sei, dessen Frequentativum indigitare sei, oder ein indiges ein deus indu agens sei und einen in einer bestimmten menschlichen Handlung, Tätigkeit, in einer bestimmten Sache, Örtlichkeit, und zwar nur in dieser einen und in keiner anderen Handlung wirkenden Gott bezeichne (vgl. Peter a. a. O. 182). Diese bestechende und umsichtig begründete Hypothese ist gleichwohl falsch; die dei indigetes waren weder Sondergötter noch die I. Verzeichnisse und Ausdeutungen dieser Götter, denn indiges dürfte ἐνδογενής sein, wie Wissowa Ges. Abh. 179 überzeugend nachgewiesen hat, und hat etymologisch nichts mit indigitare zu tun; demgemäß bieten alle guten Codices übereinstimmend die Formen indigito indigitamenta, aber indigetes; ferner sahen wir, daß die gute Überlieferung der alten Grammatiker indigitare = invocare setzt und daß indigitare im Gebet von allen Göttern und keineswegs nur von Sondergöttern gebraucht wird; ferner erwähnen Tertullian und Augustin, die uns ihre aus Varro geschöpfte Kenntnis von den Sondergöttern vermitteln, die I. überhaupt nicht. Dann ist es also eine Inkorrektheit des Ausdrucks, von I.-Göttern im Sinne von Sondergöttern zu sprechen.

Mit Recht hob Wissowa (Ges. Abh. 307) die wichtige, bisher nicht genügend beachtete Tatsache hervor, daß wir einen antiken Terminus für die ganze Götterklasee, die wir nach Useners Vorgang als Sondergötter bezeichnet haben, und die v. Domaszewski a. a. O. 158ff. Augenblicksgötter nennt, überhaupt nicht besitzen. Bei den Kirchenvätern suchen wir vergeblich eine Bezeichnung, die man für die der offiziellen Nomenklatur halten könnte; verächtlich sprechen sie von der turba minutorum deorum (August. c. d. IV 9) oder illi minuscularii (August. c. d. VII 11; vgl. die Stellen bei Peter a. a. O. 148f.). Auch in dii proprii, worin man nach Serv. [1350] Aen. II 141 pontifices dicunt singulis actibus proprios deos praeesse die offizielle Bezeichnung zu erkennen glaubte, haben wir nicht die Benennung des Kultus; denn wenn man die Stelle bei August. c. d. IV 8 singulis rebus proprio dispertientes officia numinum zum Vergleich heranzieht, so ergibt sich als Bedeutung nichts anderes als singulis actibus suos deos praeesse; wo sonst der Ausdruck dii proprii in terminologischer Bestimmtheit gebraucht wird (Tertull. ad nat. 9 p. 111, 3ff. Romanorum deos Varro trifariam disposuit in certos, incertos, electos … Nos vero bifariam Romanorum deos recognoscimus, communes et proprios, id est, quos cum omnibus habent et quos [ipsi] sunt commenti; apol. 10. Lact. inst. div. I 20, 1. August. c. d. II 4. III 12; vgl. Agahd a. a. O. 77f. 126), bezeichnet er die spezifisch römischen Gottheiten im Gegensatz zu denen, die die Römer mit anderen Völkern gemeinsam haben (di communes). In diesem Sinne ist proprios wohl auch aufzufassen in dem Fragmente aus Varros 14. Buche der Antiq. rer. div. bei Serv. Aen. XII 13 (vgl. Agahd frg. 88): Iuturna inter proprios deos Nymphasque ponitur. Wenn Deubner N. Jahrb. f. klass. Altert. IX 1902, 384 auf Grund dieser Stelle äußert: ,Iuturna ist also eine echte Sondergöttin‘, so ist ihm entgegenzuhalten, daß die Eigenschaft des Helfens (denn als ,Helferin‘ faßt sie Deubner wohl nach Serv. Aen. XII 139 Iuturna fons erat, cui nomen a iuvando est inditum) eine allgemein göttliche Eigenschaft ist, so daß man darin unmöglich einen begrenzten Wirkungskreis erkennen kann (vgl. Wissowa Ges. Abh. 307, 2). An der eben erwähnten Stelle fährt Serv. Aen. II 141 fort: hos Varro certos deos appellat; das verführte mit einer gewissen Berechtigung zu der Meinung, daß man in di certi, wenn auch nicht den offiziellen, so doch wenigstens den varronischen Terminus für diese Götterklasse besitze, wie auch Usener a. a. O. 75 annimmt und neuerdings noch v. Domaszewski (Abh. z. röm. Rel. 167) zu erweisen sich bemüht; vergeblich, denn auch die von ihm zum Beweise dafür, daß deus certus ein fester Begriff des römischen Pontifikalrechtes, angezogene Liviusstelle XXVII 25 und Arnobius II 65 (dei certi certas apud vos habent tutelas, licentias, potestates, neque eorum ab aliquo id, quod eius non sit potestatis ac licentiae, postulatis) ist in keiner Weise stichhaltig, ,Daß Varro dei certi jene Götter genannt, von denen er als Varro etwas wußte, jene incerti, von denen er in seiner beschränkten Weise eben nichts wußte, das zu glauben, wie man uns jetzt zumutet, übersteigt allen Glauben.‘

Und dennoch ist es so; die richtige Auffassung deutete zuerst Wissowa an (bei Marquardt St.-V. III² 9f., 4 und dazu Ges. Abh. 308ff.), dem sich Peter a. a. O. 151 und Agahd a. a. O. 126 anschlossen.

Die Vermengung der dei certi mit den dei proprii, wie wir sie bei Preller (Röm. Myth. I³ 71ff.) mit Berufung auf die schon oft angezogene Serviusstelle zu Aen. II 141 finden, wurde schon zurückgewiesen und klargestellt, daß Varro bei der Behandlung der theologia civilis im 1. Buche seiner Antiq. rer. div. dii proprii diejenigen [1351] nennt, die von den Römern allein verehrt wurden, denen er die entgegenstellt, die sie mit andern gemeinsam haben; dann zogen Preller a. a. O. und Merkel Proleg. zu Ovid. fast. S. CLXXXV zur Deutung Serv. Aen. VIII 275: ,Varro dicit deos alios esse, qui ab initio certi et sempiterni sunt, alios, qui immortales ex hominibus facti sunt’ heran; aber hier handelt es sich offensichtlich nicht um dei certi, sondern um dei nativi (vgl. Agahd a. a. O. 72ff.) oder um Götter, die eben φύσει Götter sind. Auch aus der oben angezogenen Arnobiusstelle (II 65) ist kein Terminus zu entnehmen; denn daß Arnobius dabei nicht im mindesten an Varros dei certi gedacht hat, beweisen die Gottheiten, die er zum Beweise für seine Behauptung anzieht, nämlich Liber, Ceres, Aesculapius, Neptunus, Iuno, Fortuna, Mercurius, Volcanus mit dem Zusatz ,rerum singuli certarum ac singularum datores‘. Daß der erst von Varro geschaffene Ausdruck di certi mit seinem Gegensatz di incerti nicht dazu bestimmt war, eine im innern Wesen der so benannten Gottheit liegende Eigentümlichkeit zu treffen, sondern die Sicherheit bezw. Unsicherheit des Wissens bezeichnen sollte, das er, Varro, von ihnen hatte gewinnen können, geht zur Evidenz aus den Worten hervor, mit denen dieser das de dis incertis handelnde 15. Buch seiner Antiquitates rerum divinarum eröffnete: Cum in hoc libello dubias de dis opiniones posuero, reprehendi non debeo. qui enim putabit indicari oportere, cum audierit, faciet ipse. ego citius perduci possum, ut in primo libro (damit ist das 1. Buch der de dis handelnden Triade, das 14. des Gesamtwerkes, überschrieben de dis certis gemeint) quae dixi in dubitationem revocem, quam in hoc quae perscribam omnia ut ad aliquam dirigam summam (August. c. d. VII 17); er nennt also die im 15. Buche zu behandelnden Götter incerti, weil er nicht mit Bestimmtheit hatte ermitteln können, welches die potestas der einzelnen Götter sei; es ist kein Zweifel möglich; ebenso wie dem 16. Buche Varros de dis selectis lag auch den beiden vorausgehenden ein rein subjektives Anordnungsprinzip zugrunde.

Eine antike Bezeichnung für die Sondergötter gibt es also nicht; folgt nun daraus, daß diejenige Götterklasse, die wir bisher als Sondergötter bezeichnet haben, überhaupt niemals existiert hat? Wir können diese Frage verneinen, da wir zwei von Varros Listen unabhängige und unmittelbar aus dem Kultus stammende Belege besitzen. Der eine, von dem Usener a. a. O. 76 bei der Erläuterung der Sondergötter ausgeht, ist das Zeugnis des Fabius Pictor (de iur. pontificio); dieses findet sich an der für die I. so wichtigen, schon öfter erwähnten Stelle des Servius Georg. I 21, die in der kürzeren Fassung lautet: nomina haec numinum in indigitamentis inveniuntur, id est in libris pontificalibus, qui et nomina deorum et rationes ipsorum nominum continent, quae etiam Varro dicit. nam, ut supra diximus, nomina numinibus ex officiis constat imposita, verbi causa ut ab occatione deus Occator dicatur, a sarritione Sarritor, a stercoratione Sterculinius, a satione Sator; dazu fügt die erweiterte Fassung des Codex [1352] Lemovicensis folgendes hinzu: Fabius Pictor hos deos enumerat, quos invocat flamen sacrum Ceriale faciens Telluri et Cereri: Vervactorem, Redaratorem, Imporcitorem, Insitorem, Obaratorem, Occatorem, Sarritorem, Subruncinatorem, Messorem, Convectorem, Conditorem, Promitorem.

Beim Fluropfer hatte also nach der Angabe des Fabius Pictor der Flamen außer Tellus und Ceres 12 Götter anzurufen, welche ebensovielen Handlungen des Landmannes entsprechen. Es werden demnach beim Sacrum Ceriale folgende Götter vom Flamen angerufen: vervactor für das Brachpflügen, redarator für das zweite Pflügen (so emendierte glänzend Salmasius für das reparatorem der Hs., von Thilo nicht einmal erwähnt; vgl. Wissowa a. a. O. 309, 2), imporcitor für das Furchenziehen, insitor für das Einsäen, obarator für das Überpflügen, sarritor für das Behacken, subruncinator für das Jäten, messor für das Mähen, convector für das Zusammenbringen des Kornes, conditor für das Einfahren in die Scheune, promitor für das Herausgeben. Ferner sind uns Protokolle der Arvalbrüder aus den J. 183 und 224 n. Chr. inschriftlich erhalten (CIL VI 2099 I 20ff. 2107 Z. 1ff.; Bruchstücke ähnlichen Inhaltes, in denen aber die entscheidenden Götternamen nicht enthalten sind, bieten weiter CIL VI 2104 a 1ff. und Hülsen Beiträge zur Alt. Gesch. II 278.) Es sind Vorgänge eingetreten, die ein lustrum missum notwendig machten (CIL VI 2107 Z. 8; vgl. Wissowa Rel. u. Kultus² 391), d. h. die Herumführung und Darbringung von Suovetaurilia nebst Opfern an die dea Dia und alle in ihrem Kreis verehrten oder zu dem prodigium in Beziehung stehenden Gottheiten; dieses lustrum missum ist nichts anderes, als eine außerordentlicherweise angeordnete Wiederholung der von den Arvalen an ihrem Jahresfeste begangenen lustratio segetum. Im J. 183 n. Chr. (CIL VI 2099 I 20ff.) war auf dem Giebel des Tempels der Dea Dia ein Feigenbaum gewachsen und hatte das Dach beschädigt; im J. 224 schildert die Inschrift CIL 2107 Z. 4ff. die Situation folgendermaßen: fratres Arval(es) in luc(o) d(eae) D(iae) via Camp(ana) apud lap(idem) quintum conv(enerunt) per Porc(ium) Priscum II mag(istrum) et ibi imm(olaverunt), quod vi tempestat(is) ictu fulmin(is) arbor(es) sacr(i) l(uci) d(eae) D(iae) attact(ae) arduer(int), earumque arbor(um) eruendar(um), ferr(o) fendendar(um), adolendar(um), commolendar(um), ∥ item aliar(um) restituendar(um) causa operisq(ue) inchoandi aras temporal(es) sacr(as) d(eae) D(iae) ∥ reficiend(i), eius rei causa lustr(um) miss(um) suovetaurilib(us) maior(ibus).

Das lustrum missum wird beschlossen und eröffnet und zahlreiche Gottheiten werden mit Einzelopfern bedacht. In diesen Protokollen nun stehen unmittelbar vor den den Schluß der Götterreihe bildenden Divi hinter Vesta eine Gruppe eigenartiger Gottheiten, die uns sonst völlig fremd sind; CIL VI 2099 pag. II 13 Vestae oves II, Vestae matri oves II, item Adolendae Commolendae Delerundae oves II und CIL VI 2107 Z. 13 Vestae matri ov(es) II, Vestae deorum dearumque oves II; item Adolendae Coinquendae [1353] oves II; über die sinnlose Wiederholung der Vesta vgl. Wissowa o. Bd. II S. 1482.

In dem ersten der beiden Opferprotokolle treten also Adolenda, Commolenda, Deferunda, im zweiten: Adolenda, Coinquenda auf, Gottheiten, die, wie der Wortlaut der Protokolle zeigt, mit den bei dem Opfer zu vollziehenden Handlungen des Herabholens (deferre), des Zerstückeins (commolere) und Verbrennens (adolere) des Baumes in dem einen, des Zerhackens (coinquere) und Verbrennens (adolere) der Überreste der vom Blitz getroffenen Stellen in dem andern Falle aufs engste zusammenhängen, und zwar sind sie die göttlichen Repräsentanten der einzelnen Akte und stehen zu den einzelnen Handlungen in genau demselben Verhältnis wie die 12 beim Sacrum Ceriale angerufenen Gottheiten zu den einzelnen Tätigkeiten des Landmanns; auffallend ist, daß für die Tätigkeiten des eruere und fendere keine göttliche Personifikation geschaffen worden ist.

Durchaus falsch ist, wenn J. Weisweiler (Jahrb. f. Philol. CXXXIX 37f.) meint, man könne von der Annahme einer Göttin Adolenda usw. absehen und erklären adolendae arbori, was durch die besondere Nennung des Opfertieres aufs deutlichste widerlegt wird (vgl. Peter a. a. O. 189f.). F. Stolz Archiv f. lat. Lex. X 158ff.; vgl. H. Oldenberg De sacris fratrum Arvalium quaestiones, Diss. Berol. 1875, 42f. und die Erörterungen Wissowas o. Bd. II S. 1483. Marini (Gli atti e monumenti de’ fratelli Arvali, Roma 1795, 381ff.) erkannte zuerst in Adolenda usw. Gottheiten und hielt sie für Götter der I., dieser Ansicht schlossen sich von Neueren Henzen Acta 147, Oldenberg a. a. O. 45f. an. Die Namen der Göttinnen müssen dann aktivisch aufgefaßt werden, wogegen sich allerdings, wie J. Weisweiler a. a. O. 38 mit Recht hervorhebt, vom Standpunkte der Grammatik die allerschwersten Bedenken erheben, denn die Formen Adolenda usw. sind ungefähr die einzigen Partizipialformen mit dem Suffix -ndo von transitiven Verben, denen aktive Bedeutung zugeschrieben wird; eine entsprechende Bildung ist Afferenda (ab afferendis dotibus ordinata Tert. ad nat. II 11); zur Erklärung denke man an eine dea afferendi oder adolendi; Literatur vgl. bei R. Peter a. a. O. 190.

Die gemeinsamen Züge der beiden Kulthandlungen springen in die Augen und werden von Wissowa (Ges. Abh. 311ff.) scharfsinnig in Parallele gestellt. Erstens handelt es sich um Zeremonien der Staatsreligion, die durch die Staatspriester ausgeübt werden, und nicht der Landmann oder der Holzhacker rufen vor dem Beginn ihrer Verrichtungen die Sondergötter an, sondern der Flamen (jedenfalls der aus der umbrischen Inschrift CIL XI 5028 bekannte Flamen Cerialis) oder der Magister der Arvalbrüder. Zweitens spielen diese Sondergötter nur eine untergeordnete Rolle, sie befinden sich gewissermaßen im Gefolge der großen Gottheiten, was schon Bouché-Leclercq (s.o. S. 1344) als eine Eigentümlichkeit der Sondergötter richtig beobachtete; das Opfer des Flamen gilt der Tellus und Ceres, nicht den 12 Schutzgottheiten der landwirtschaftlichen [1354] Arbeiten, die, wie wir annehmen dürfen, nur bei dieser Gelegenheit angerufen werden, die Sühnfeier der Arvalbrüder gilt Mars und Dea Dia, daneben erhalten eine lange Reihe altrömischer Gottheiten an provisorischen Altären ein Opfer, und erst außerhalb dieser Reihe, nachdem Vesta wie immer den Schluß gebildet hat, folgen anhangsweise, durch item deutlich abgesondert, Adolenda Commolenda Deferunda und Adolenda Coinquenda (hinter ihnen stehen, wiederum durch item als eine neue Klasse kenntlich gemacht, nur noch die Divi). Drittens stellt die Gesamtheit der Sondergötter in jedem Falle eine in sich geschlossene Einheit dar: ganz evident tritt dies bei den Arvalen dadurch zu Tage, daß Adolenda Commolenda Deferunda und ebenso Adolenda Coinquenda zusammen als Opfer nur zwei Schafe erhalten, d. h. eben so viele Tiere wie sonst jede einzelne Göttin, z. B. Flora oder Vesta, ferner auch dadurch, daß die Gottheiten hier unter sich nicht nach der zeitlichen Abfolge der vorzunehmenden Arbeiten (das wäre deferre, commolere, adolere bzw. coinquere, adolere), sondern[WS 1] alphabetisch geordnet sind: Adolenda Commolenda Deferunda – Adolenda Coinquenda; aber auch bei dem sacrum Ceriale kann die runde Zwölfzahl gewiß nicht durch Summierung der einzelnen ländlichen Arbeiten – es fehlen so wichtige Vorgänge wie das Düngen (von Sterculinius, dem Gotte des Düngens, war ja eben bei Serv. Georg. I 21 die Rede) und das Dreschen – sondern nur durch Zerlegung des übergeordneten Begriffes „Kreislauf der Feldarbeiten" entstanden sein. Viertens sind endlich der grammatischen Bildung nach die Namen einer jeden Reihe untereinander völlig gleichwertig, in dem einen Falle Nomina agentis auf -tor, in dem andern Verbaladjektiva aktiver Bedeutung auf -ndo; diese Bildung weist darauf hin, daß sie sämtlich als Attribute zu einem übergeordneten Begriffe gefaßt sind, der im ersten Falle männlichen, im zweiten weiblichen Geschlechtes gedacht ist, und das ist namentlich im ersten Falle bemerkenswert, da dort die Gottheiten, denen das Opfer selbst gilt, weiblich sind.

Diese uns zufällig überlieferten unmittelbaren Reste altrömischen Gottesdienstes müssen uns nun zum Maßstab für die Beurteilung des Wertes der durch die Kirchenväter überlieferten varronischen Reihen dienen. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Überlieferung Varros bei den Kirchenvätern entstellt ist, daß sie sich bei ihrer Auswahl der Sondergötter vorwiegend von dem polemischen Gesichtspunkte leiten ließen, das herauszufinden, was sich leicht verspotten und bekämpfen ließ, und vielleicht anderes wegließen. Aber sicher ist, daß Varro in dem Buche de diis certis die Götter nach ihren Funktionen in den oben genannten Reihen oder Gruppen behandelte, und daß diese Listen eine Menge von Gottheiten enthielten, die sonst unbekannt oder verschollen waren und deren Wirkungskreis nach der varronischen Erklärung sich auf die kleinsten und anstößigsten Dinge erstreckte (vgl. Agahd frg. 105 aus Tertull. ad nat. II 15 p. 128, 8 cum et ⟨numina sua⟩ habeant in lupanaribus, in culinis et etiam in carcere; daß gerade diese Stelle bei Varro gestanden hat, ist, [1355] wie ich gegen Peter a. a. O. 146 bemerken möchte, deshalb sehr unwahrscheinlich, weil sich die Kirchenväter diese Gelegenheit zur Polemik wahrscheinlich nicht hätten entgehen lassen).

Gelingt es nun, aus den varronischen Reihen von Sondergöttern für die einzelnen Lebenskreise ähnlich harmonische Götterreihen zusammenzustellen? Bei Tert. ad nat. II 11 p. 116, 2 und August. c. d. IV 21 wurden als eine der varronischen Reihen die di nuptiales erwähnt, also etwa die Götter, von denen man annehmen darf, daß sie etwa bei der Confarreation, die ja unter Mitwirkung der Staatspriester geschah, vom Flamen Dialis angerufen wurden als Schützer der Ehegatten vom Verlöbnis an bis zur Vollziehung des ehelichen Beilagers; diese Anrufungen würden sich dann zu dem Opfer an Iuppiter Farreus verhalten haben wie die der zwölf Vertreter der ländlichen Arbeiten zu dem Opfer an Tellus und Ceres. Betrachtet man nun aber die Reihe der Varronischen di nuptiales, so ergeben sich uns folgende Gottheiten, die wir aus Tertull. ad nat. II 11 und August. c. d. VI 9 (vgl. IV 11) rekonstruieren können (Agahd frg. 51–59): Afferenda (ab afferendis dotibus), Iugatinus (cum mas et femina coniunguntur), Domiducus, Domitius (ut in domo sit); Manturna (ut maneat cum viro), Virginiensis (ut virgini zona solvatur), Mutunus (et) Tutunus (qui est apud Graecos Priapus August. c. d. IV 11), Subigus, Prema, Pertunda, Venus (quod sine vi femina virgo esse non desinat).

Abgesehen von der Unvollständigkeit der Liste, an der ja die Willkürlichkeit der Exzerpte die Schuld tragen könnte, ist sie nach ihrer Zusammensetzung grundverschieden von den Göttern, die uns als Sondergötter beim Sacrum Ceriale begegneten: Namen von ganz verschiedener Wortbildung (vorwiegend adjektivischer Bildung, Afferenda erinnert an Adolenda usw.), männliche und weibliche Gottheiten in buntem Gemisch, Kultgottheiten wie Venus und Mutunus Tutunus (vgl. Peter a. a. O. 205ff., der Zusammenhang von Tutunus mit τιτύς erscheint gesichert) mitten unter den Repräsentanten speziellster Akte. Das sind keine homogenen Sondergötter, und wir können Wissowa a. a. O. 313 nur beistimmen, wenn er diese Götter nicht für Reste einer priesterlichen Litanei, sondern für gelehrte Zusammenstellungen aus den verschiedensten Quellen hält.

Daß die bei den Kirchenvätern überlieferten Reihen von Sondergöttern der gelehrten Klügelei Varros ihre Entstehung verdanken, zeigt noch deutlicher die Gruppe einer anderen Hauptreihe Varros, nämlich die di, qui pertinent ad ipsum hominem a conceptione hominis … usque ad decrepiti hominis mortem (August. c. d. VI 9), die mit Ianus beginnt und mit Nenia schließt; diese Götter waren die folgenden (frg. 4–49): Ianus (Consevius), Saturnus, Liber Libera, Fluvionia, Mena, Alemona, Vitumnus, Sentinus, Parra Nona Decima, Partula, Diespiter, Lucina, Fata Scribunda, Candelifera, Postverta Prorsa (Carmentes), Fortuna, Ops, Vaticanus, Farinus, Locutius, Levana, Cunina, Rumina, Potina, Edula (Edulia, Potica), Cuba, Statilinus, Abeona Adeona, Domiduca, Mens, Volumnus Voleta, [1356] Paventia, Venilia, Volupia, Lubentia, Praestitia, Agenoria (Peragenor), Stimula, Murcia, Strenia, Fessona, Quies, Minerva, Mercurius, Numeria, Catius, Consus, Sentia, Iuventas, Fortuna Barbata. Es ist ersichtlich, daß es einen priesterlichen Akt, bei welchem eine solche Götterreihe oder auch nur große Bruchteile derselben (etwa die di puerilitatis für sich) zur Anrufung gelangt wären, niemals gegeben hat und auch nie hat geben können; die genannten Gottheiten selbst aber bestehen aus nach Alter und Bedeutung ganz verschiedenen Elementen; große Götter sind mit den entlegensten Sondergöttern, deren sprachliche Bildung im einzelnen wiederum verschieden ist, gemischt; kurz, wir erkennen leicht, daß wir es nicht mit einer organisiert gefügten Götterreihe, sondern mit einer ausgeklügelten Zusammenstellung Varros zu tun haben.

Es folgt daraus, daß die alte Ansicht, nach der diese Listen als solche in den Pontifikalbüchern bezw. den I. gestanden haben, unhaltbar ist, und daß für Zusammenstellung, Klassifikation und Anordnung dieser Gottheiten Varro selbst verantwortlich ist; nichts kann ausgeprägter Varronisch sein als die Scheidung zwischen di ad ipsum hominem pertinentes und qui pertinent ad ea, quae sunt hominis (August. c. d. VI 9); es sind das offenbar Unterabteilungen des Abschnittes, der die mit dem Menschen zusammenhängenden Gottheiten behandelte, während andere nach der ständigen varronischen Vierteilung die Gottheiten der loca, tempora und res enthalten haben werden; die direkte Parallele für diese Unterteilung bietet in der Schrift de lingua latina (z. B. V 10) die Scheidung von loca und quae in locis sunt, von tempora und quae in tempore aliquo fiunt. Bei Peter (a. a. O. 169) läßt sich ein Widerspruch nicht verkennen, wenn er einerseits, das Richtige erkennend, sagt, daß in den oben mitgeteilten Götterreihen bei Tertullianus, Arnobius und Augustinus uns Gottheiten vorliegen, welche Varro nach einem selbsterfundenen Prinzip und mit teilweise recht fragwürdigen Mitteln aus der ihm bekannten römischen Götterwelt zusammenbrachte, und anderseits meint, daß sich mit gutem Grunde vermuten ließe, daß Varro seine Aufstellungen auf Anordnungen gründete, die er in den I. vorfand, daß in ihnen die auf den Menschen und sein ganzes Leben bezüglichen Gottheiten nach der Zusammengehörigkeit und natürlichen Aufeinanderfolge in Gruppen geordnet waren. Diese Auffassung ist unhaltbar; sobald wir, wie auch Peter tut, annehmen, daß die Anordnung Varros eine von ihm nach eigenen Gesichtspunkten geschaffene war, ist es für uns unmöglich, aus dieser Anordnung Schlüsse auf die Anlage und Disposition der I. zu ziehen, und das Argument Peters, daß ohne eine Gliederung nach sachlichen Gesichtspunkten die Brauchbarkeit der I. schlechterdings undenkbar sei, geht von einer vorgefaßten und unbewiesenen Vorstellung vom Zweck und Inhalt dieser Sakralbücher aus, in denen wir höchst wahrscheinlich nicht Götterverzeichnisse, sondern Gebetsformeln zu sehen haben.

Auch in einem andern Punkte sah Peter das Richtige, ohne die vollen Konsequenzen [1357] daraus zu ziehen. Gegenüber der älteren Ansicht nämlich, nach welcher sich der Bestand der varronischen Götterreihen mit denen der I., den vermeintlichen Listen von nach Klassen geordneten Sondergöttern, die man für Varros Hauptquelle hielt, deckte, hat er a. a. O. 150, gezeigt, daß man für die Beurteilung der mit den Sondergöttern verbundenen großen Gottheiten davon auszugehen habe, daß Varro gemäß seiner ganzen Einteilung der römischen Götterwelt in dii certi, dii incerti und dii praecipui atque selecti, im 14. Buche de diis certis die großen Kultgottheiten nicht nur behandelt (das zeigt deutlich August. c. d. VII 2, der nach Aufzählung der dii selecti (Ianus, Iuppiter, Saturnus, Genius, Mercurius, Apollo, Mars, Vulcanus, Neptunus, Sol, Orcus, Liber pater, Tellus, Ceres, Iuno, Luna, Diana, Minerva, Venus, Vesta) fortfährt: si propterea (selecta numina dicuntur) quia opera maiora ab his administrantur in mundo, non eos invenire debuimus inter illam quasi plebeiam numinum multitudinem minutis opusculis deputatam), sondern mitten unter die I.-Gottheiten stellt und nach derselben Methode erklärt wie diese (z. B. frg. 58: Venus ad hoc etiam dicitur nuncupata, quod sine vi femina virgo esse non desinat). Daß die I.-Götter überwiegen, ist durch die Art, wie die Kirchenschriftsteller exzerpierten, veranlaßt; das sagt wiederum deutlich August. c. d. VI 1 cui ergo deo vel deae propter quid supplicaretur, quantum ad illos deos attinet, quos instituerunt civitates, a doctis sollerter inventum memoriaeque proditum est; quid a Libero, verbi gratia, quid a Volcano ac sic a ceteris quos partim commemoravi in quarto libro, partim praetereundos putavi.

Peter ist also der Ansicht (a. a. O. 168ff.), daß die in den varronischen Reihen auftretenden Gottheiten von allgemeiner Bedeutung (es sind Ianus, Saturnus, Liber, Opis, Carmentes, Fortuna, Mens, Minerva, Camena, Iuventas, Fortuna Barbata, Bellona, Victoria, Mars, Honor, Flora, Iuturna; fälschlich rechnet Peter zu ihnen auch Pomona und Robigo) als dii certi in Varros 14. Buche mitbehandelt waren, welche Varro den aus den I. entnommenen Sondergöttern eingereiht hat.

Es ist aber inkonsequent, wenn Peter, um die echten ,I.-Götter‘ zu gewinnen, diese großen Kultgötter aus den varronischen Listen streicht; ferner sucht er die I.-Götter dadurch herauszufinden, daß er auch alle die Gottheiten aus den varronischen Listen streicht, die ihm aus irgend einem Grunde als nicht zugehörig erscheinen, und weiter ergänzt er den Kreis der I.-Götter noch durch Aufnahmen anderweitig erwähnter Gottheiten, falls sie die Merkmale besitzen, die Peter von einem ,I.-Gott‘ verlangt.

Aber sowie wir nun nach festen Kriterien für diesen Begriff suchen, kommen wir auf unsicheren Boden, und stellen mit Wissowa (a. a. O. 315) die Frage, wie eng umschrieben die Funktion und wie deutlich ihre Ausprägung im Namen denn sein muß, um einen Gott zum ,I.-Gott‘ zu machen; diese Frage wurde in jedem einzelnen Fall für Peter wichtig bei der Entscheidung, ob dieser oder jener Gott in die seinen allgemeinen Untersuchungen beigefügte Liste der [1358] Sondergötter aufzunehmen sei. So nimmt er z. B. Rusina, die angebliche göttliche Beschützerin der rura, in seine Liste auf, die Kloakengöttin Cloacina schließt er aus; ist etwa der Wirkungskreis der Cloacina weniger eng begrenzt oder durch ihren Namen weniger scharf umschrieben als der der Rusina? Ebenso steht es mit Bubona und Pomona, den Göttinnen der Rinder und des Obstes, von denen die erste zu den I.-Göttern gerechnet wird, die andere nicht. Sator und Conditor nimmt Peter in seine Liste auf, Saturnus und Consus nicht, obwohl doch auch Peter nicht daran zweifeln kann, daß dies ebenso gut Götter der Aussaat und der Ernte sind und die Namen a satione und a condendo herstammen, wobei bemerkt sei, daß uns außer Sator nicht weniger als vier Saatgöttinnen Segesta, Segetia, Seia und Semonia (vgl. Peter a. a. O. 221) überliefert sind.

Läge der Grund für die Ausschließung darin, daß Cloacina, Pomona, Saturnus, Consus öffentlichen Kult genießen, Heiligtümer, Priester und Feste besitzen, dann wäre daraus der Schluß zu ziehen, daß das Fehlen jeden Kultes ein Hauptmerkmal für einen I.-Gott sei, aber Aius Locutius, von Aust o. Bd. I S. 1130 noch fälschlich als Indiges im Peterschen Sinne bezeichnet, Rediculus, Mutunus Tutunus, Nenia, Orbona, Rumina, Strenia, Tutilina, Vica Pota, Viduus, Viriplaca, Volupia, Postverta (Altäre bezeugt bei Gell. XVI 16, 4ff.) besitzen Kulte und Heiligtümer! Also auch dies Kriterium versagt; wo finden wir da eine sichere Grenze? Aus dem allen geht zur Evidenz hervor, daß das, was heutzutage unter dem Namen der ,I.-Götter‘ geht, ebensowenig sich unter einen festen logischen Begriff wie unter einen antiken Terminus bringen läßt.

Was bleibt denn nun von den Sondergöttern noch übrig? Eine große Zahl der varronischen di certi sind, so meint man, als Sondergötter durch ihren Namen gekennzeichnet, und die Deutung des Namens nimmt man als sicher an, weil Varro sie ja aus den I. selbst geschöpft habe; das bezeugt die schon öfter erwähnte kürzere Fassung des Serv. Georg. I 21: in indigitamentis … id est in libris pontificalibus, qui et nomina deorum et rationes ipsorum nominum continent, quae etiam Varro dicit.

Bei diesen Worten dachte man nicht daran, daß der Scholiast oder vielmehr sein Gewährsmann ganz sicher von den libri pontificales und i. keine andere Kunde gehabt hat als die durch Varro vermittelte; was man bei Varro las, wird offenbar ohne weiteres auf die Pontifikalschriften als auf seinen Quelle übertragen. Daß die im Pontifikalarchiv aufbewahrten Gebetsformeln häufig die ratio numinum der angerufenen Götter erkennen ließen, und daß damit auch manches auf die Etymologie des Gottes Bezügliche in ihnen enthalten war, ist sehr wohl möglich; denkbar, daß, ähnlich dem bekannten Gebet zur Anna Perenna, das Macrob. Sat. I 12, 6 mitteilt, ut annare perannareque commode liceat entsprechende Formeln auch bei der Anrufung der 12 Götter beim sacrum Ceriale verzeichnet waren. Aber damit, daß Varro in den pontifikalen Schriften oder in Auszügen derselben manche Namenserklärung [1359] zu finden Gelegenheit hatte, ist nicht gesagt, daß seine Etymologien der di certi alle aus den I. stammen; zum Teil läßt sich sogar das Gegenteil mit Sicherheit erweisen. Wenn Usener in seinen Ausführungen über die Götternamen von dem Gedanken ausgeht, daß jeder Gott in seinem Namen sagen müsse, was er sei und für seine Verehrer bedeute, so kann man dieser Anschauung für die älteste Zeit beistimmen, in welcher der Name entstand und man im Namen schon zum Ausdruck brachte, welche göttliche Hilfe man von dem Numen erhoffte; wir müßten also in den I. – d. h. bei Varro – eine Erklärung finden, die uns nach dem Stande unserer Erkenntnis befriedigt und richtig erscheint, da in ihr ja die Vorstellungen wiedergegeben sein müssen, die einst die Pontifices bewogen, diesen oder jenen Gott für das Bedürfnis der Gläubigen zu schaffen, ihn richtig zu benennen und richtig anzurufen.

Halten nun die varronischen Erklärungen der di certi sprachlich und sachlich einer ernsten Kritik stand? Viele bestimmt nicht; von Consus, Matuta, Diespiter, Proserpina, Venus haben wir durch sichere Zeugnisse ein ausreichendes Wissen, um mit Bestimmtheit sagen zu können, daß z. B. die Herleitungen des Consus von praebendo consilia (frg. 46), Matuta von den frumenta maturescentia (frg. 80), des Diespiter quia partum perducat ad diem (frg. 13), der Proserpina von dem proserpere-germinare (frg. 72), der Venus quod sine vi femina virgo esse non desinat (frg. 58) unmöglich sind und den sicheren Tatsachen des Kultes ebenso widersprechen wie den den elementaren Grundregeln lateinischer Wortbildung. Im Anschluß an den Artikel von Peter gibt F. Stolz in seinem Aufsatz ,Zur Bildung und Erklärung der römischen Indigetennamen‘ (Archiv f. lat. Lexikogr. X 151–175 Nachtrag S. 384) weniger eine Kritik der varronischen Deutungen, als eine etymologische Erläuterung des Artikels von Peter; trotz einiger ansprechender Resultate sind viele seiner Erklärungen wenig überzeugend; eine größere Vorarbeit zur Erklärung italischer Götternamen leistete Grassmann in Kuhns Ztschr. XVI 1867, 101–119 u. 161–196.

Die Deutungen Varros sind nach ihrem Werte sehr verschieden. Manturna ut maneat nova nupta cum viro (frg. 53) (gebilligt von Stolz a. a. O. 169 und L. Deubner N. Jahrb. f. klass. Altert. IX [1902] 380, die es von mantare herleiten; zurückgewiesen von Wissowa Ges. Abhandl. 318, 1, der an der aktiven Bedeutung Anstoß nimmt) erscheint mir eine sprachlich unmögliche Erklärung; Bechtel erklärt ansprechend Manturna von mane als Analogiebildung zu nocturnus (vgl. Wissowa a. a. O.): ebenso unmöglich dürfte sein Vitumnus qui vitam largitur (frg. 11), während man Mena quae menstruis fluoribus praeest (frg. 9) und Rusina abgeleitet von rura vielleicht noch gelten lassen kann (frg. 68); Stolz 168 bemerkt zu Rusina, daß der Name verhältnismäßig jungen Datums sei, da er erst nach Aufhören des Gesetzes des Rhotacismus vom Nominativ gebildet sein könne, Wissowa a. a. O. 318, 2 hält den Zusammenhang mit rura für unmöglich und schlägt vor Rusina mit Rusor [1360] zusammenzustellen, der nach Augustins Erklärung (c. d. VII 23 quod rursus cuncta eodem revolvuntur) = revorsor zu fassen wäre; ich halte diese Deutung nicht für richtig und möchte auf die zahlreichen Analogiebildungen wie z. B. Cunina, Lucina verweisen. Andere Erklärungen sind zwar sprachlich möglich, aber allzu künstlich für Varros jeweiligen Zweck zugestutzt, wie Volumnus ut bona vellent (frg. 30 a) wohl vielmehr mit volvere zusammenzubringen und mit Volutina (frg. 74) und Volturnus zusammenzustellen (vgl. Wissowa a. a. O. 318, 4). Volutina ist aber nach August. c. d. IV 8 (praefecerunt ergo .... involumentis folliculorum deam Volutinam) eine über die Bälge der Getreideähren gesetzte Göttin; plump sind die Erklärungen von Fessona, die propter fessos angerufen werden soll (frg. 41) und Murcia quae faceret hominem murcidum (frg. 39); Strenia quae faceret strenuum (frg. 40).

Andere Erklärungen sind weniger sprachlich als vielmehr sachlich in hohem Grade bedenklich; der als Gründer von Praeneste bekannte Gott Caeculus (vgl. Wissowa bei Roscher Myth. Lex. I 843) wird zu dem Gott gemacht qui oculos sensu exanimet (frg. 63); Afferenda, die wir sicherlich zur Deferunda des Arvalopfers zu stellen haben, wird in das Schema des Hochzeitsopfers zwangsweise hineingebracht und soll ihren Namen ab afferendis dotibus erhalten haben (frg. 51), Camena wird die Gottheit quae canere doceat (frg. 44); daß Subigus und Prema gar nicht die verfänglichen Gottheiten des ehelichen Beilagers sind (frg. 55. 56), die der Kirchenväter beißenden Spott (August. c. d. VI 9) herausfordern, sondern vielmehr in den Kreis der Dämonen des Alpdrucks gehören, vermutet Wissowa a. a. O. 319; doch läßt es sich nicht beweisen, auch läßt sich die mit beiden zusammengestellte noch verfänglichere Pertunda (frg. 57) in jenen Kreis schwerlich einreihen.

Als sprachlich unmöglich wird man weiter bezeichnen müssen die Ableitung der Collatina a collibus; Wissowa vermutet eine Göttin von Collatia (a. a. O. 318, 3), auch die Erklärung der Pellonia propter hostes depellendos (frg. 89) erscheint zum mindesten sehr anfechtbar.

Unglaublich töricht ist die ätiologische Erklärung von Praestana (vgl. in den Fragmenten des XV. varronischen Buches de dis incertis nr. 19), wohl dieselbe Göttin wie Praestitia (frg. 36), quod Quirinus in iaculi missione cunctorum praestiterit viribus; eines Erklärungsversuches spottet geradezu der ganz unlateinisch anmutende Namen der Sondergöttin Agenoria (frg. 37a), quae ad agendum excitaret, zu deren Erklärung Stolz 164 sogar ein archaisches Verbum *ageno mobil macht, wozu Agenor das Nomen agentis sei.

Wie leichtsinnig Varro bei Namensdeutungen vorgeht, zeigt der durch das Zeugnis des Gellius (III 17) klar gestellte Vorgang bei der Deutung des deus Vaticanus: während die gewöhnliche Erklärung ihn wahrscheinlich richtig (unter Herleitung des Namens a vaticiniis) als den praeses agri Vaticani auffaßte, macht ihn Varro, um ihn in sein Schema bringen zu können, zu einem Gotte des Wimmerns (vagitus) der Kinder, das er in der ersten Silbe ausgedrückt fand, und es ist [1361] durchaus nicht notwendig, diese absurde Erklärung durch die Annahme einer Verwechslung mit einem nirgends bezeugten deus Vagitanus zu rechtfertigen. So hat Agahd beide Deutungen des Namens Vaticanus unter die Fragmente des XIV. Buches aufgenommen 20 b (Vaticanus, qui infantum vagitibus praesidet) und 103 (Gell. XVI 17, 1: et agrum Vaticanum et eiusdem agri deum praesidem appellatum acceperamus a vaticiniis, quae vi atque instinctu eius dei in eo agro fieri solita essent. Sed praeter hanc causam M. Varro in libris divinarum aliam esse tradit istius nominis rationem); auch an andern in demselben Buche vorgetragenen Doppeldeutungen fehlt es nicht: der deus Iugatinus erscheint als der qui coniuges iungat unter den di nuptiales (frg, 52), als Beschützer der iuga montium unter den di agrestes (frg. 68), Venilia wird das eine Mal abgeleitet de spe quae venit (frg. 32), das andere Mal gedeutet als unda, quae ad litus venit (bei Agahd Buch XVI frg. 37), wobei wenigstens der Tatsache Rechnung getragen ist, daß Venilia mit Neptunus eng zusammenhing; Numeria war für Varro in dem Buche de dis certis die Göttin quae numerare doceat (frg. 44), in dem Logistoricus Catus de liberis educandis (Non. p. 352) eine Helferin rascher Geburt (numero = cito); das Auskunftsmittel, zu dem man gegriffen hat, zwei Gottheiten verschiedenen Namens anzunehmen, steht daher mit dem obersten Grundsatz jeder römischen Götteranrufung im Widerspruch, daß sie den angerufenen Gott unbedingt deutlich und unter Ausschluß jedes Mißverständnisses zu bezeichnen habe.

Wir sehen also, daß auch die Behauptung von der Urkundlichkeit der meisten varronischen Namensdeutungen und ihrer Herleitung aus den I. nicht länger haltbar ist, und damit ist ein weiterer Beweis dafür geliefert, daß die Anordnung in sachlich geschiedene Gruppen nicht aus den I. stammen kann. Denn etwa die Deutungen als varronisch preiszugeben, die Listen aber für pontifikal zu halten, ist deshalb unmöglich, weil die Einordnung in die Listen erst auf Grund der varronischen Deutungen erfolgt ist. Deckt sich aber weder der Bestand, noch die Anordnung, noch die Namendeutung der varronischen Reihen mit den angenommenen pontifikalen Listen römischer Sondergötter, so sind wir nicht mehr berechtigt, auf Grund des varronischen Zeugnisses allein einen Gott zu den Sondergöttern zu rechnen; dabei ist jedoch vielleicht zur Entschuldigung Varros anzuführen, daß auch in den I. sich bereits falsche Deutungen befunden haben. Es befanden sich sicher unter den Götternamen Varros auch diejenigen echter Sondergötter, d. h. solcher, wie wir sie in den Kulthandlungen des Flamen Cerialis und der Arvalbrüder als Gottheiten zweiten Ranges kennen lernten; die Afferenda abgeleitet ab afferendis dotibus (frg. 51) zeigt zweifellos Ähnlichkeit mit der Deferunda der Arvalbrüder. Runcina, Hostilina, Tutilina (frg. 81. 77. 82) könnten Reste einer etwa dem sacrum Ceriale entsprechenden Liturgie sein, deren Hauptgottheiten wir nicht kennen, Cinxia, Unxia (Arnob. III 25) könnten aus einer Anrufung der di nuptiales stammen, die nach August. c. d. VII 23 der Tellus geltende Indigitation [1362] Altor Rusor (bei Agahd Buch XVI frg. 45 a) zeigt genau dieselbe Form wie die Namen der vom Flamen Cerialis angerufenen Gottheiten, und wie diese sind sie als männliche Bildungen zu der weiblichen Gottheit gestellt, der das Opfer gilt. Vielleicht findet sich in Varros Aufzählung noch hier und da ein in eine größere Gruppe einzureihender echter Sondergott, die überwiegende Mehrzahl aber der bei Varro genannten Götter ist zu Sondergöttern erst durch Varros Streben geworden, jedem Gotte seine bestimmte Funktion und Bedeutung für die Menschen zuzuweisen und diese göttlichen Funktionen in ein möglichst geschlossenes und lückenloses System zu bringen.

Denn Varro kam es ja bei der Abfassung seiner de dis handelnden Bücher XIV–XVI der Antiquitates rerum divinarum nicht darauf an, große religionsgeschichtliche Probleme zu lösen, sondern sein Ziel ist ein praktisches, im Gebiet der theologia civilis liegendes; er will, wie er selbst ausspricht, ermitteln quare cuique deo supplicandum esset, quid a quoque esset petendum (August. c. d. VI 1), indem er feststellte, quam quisque deus facultatem ac potestatem cuiusque rei habeat. Varro selbst faßt den praktischen Nutzen seiner Forschungen mit folgenden Worten zusammen; ,Ex eo enim poterimus scire quem cuiusque causa deum invocare atque advocare debeamus, ne faciamus, ut mimi solent, et optemus a Libero aquam, a Lymphis vinum (August. c. d. IV 22).

Je nachdem ihm die Bestimmung des officium eines Gottes mit annähernder Sicherheit gelungen schien oder nicht, teilte er ihn dem Buche de dis certis oder de dis incertis zu, während er im XVI. Buche de dis selectis für einen engen Kreis hervorragender Gottheiten auch eine spekulative Deutung im Sinne der theologia physica der Philosophen gab.

Um festzustellen, ob ein Gott zu den di certi zu rechnen sei, verwertet Varro zunächst ihm bekannte Tatsachen des Kultus, sodann macht er in umfangreicher Weise von der Ausdeutung des Namens Gebrauch; in den Götternamen suchen er sowie Usener (vgl. a. a. O. 5) den urkundlichen Aufschluß darüber, in welcher Weise Vorstellungen von dem Unendlichen sich bildeten; die Gefahren dieser an sich richtigen, aber bei dem weit über die Zeit der ältesten erhaltenen Sprachdenkmäler hinaufreichenden Alter der religiösen Namenbildung nur mit großer Vorsicht zu verwertenden Ansicht konnten wir im einzelnen an Varros Etymologie nachweisen.

Varro hat nun also die Götter nach ihren officia in eine sachliche Ordnung gebracht und in dieses Schema, skrupellos in Bezug auf Alter und Herkunft der Gottheiten alles hineingezwungen, was ihm von Götternamen erreichbar und deutbar war; so finden wir die bei ihm schon oft erwähnten Gottheiten der ältesten Religionsordnung wie z. B. Ianus, Saturnus, Consus u. a., ferner Gottheiten außerrömischer, aber italischer Herkunft wie Minerva, Venus, Fortuna, griechische Entlehnungen wie Apollo, Aesculapius, Mercurius, Proserpina, ferner Personifikationen abstrakter Begriffe wie Felicitas, Virtus, Pudicitia, und endlich das Heer der ,Sondergötter [1363] im engeren Sinn‘, die wesenlosen Gebilde des ältesten Gottesdienstes wie Murcia, Strenia, Volupia u. a. m., dann viele Namen, die unverkennbar Attribute übergeordneter Gottheiten sind wie Virginiensis, Domiducus, Lucina, Consevius, Manturna. Varro bringt es nun seinem Schema zuliebe fertig, alle diese heterogenen Gottheiten zu Sondergöttern zu stempeln, indem er sie zu Trägern fest bestimmter und eng umrissener Funktionen macht, so daß Minerva über die memoria der Knaben wacht (frg. 43 a), Venus in besonderer Beziehung angerufen wird, quod sine vi femina virgo esse non desinat (frg. 58), Mercurius über die doctrina zu wachen hat (frg. 43 b) und Liber die Funktion bestimmt wird, daß er marem effuso semine liberat (frg. 7 b); Varros Verfahren ist durch diese Beispiele deutlich genug gekennzeichnet; der Etymologie und seinem System zuliebe rückt er eine einzelne, keineswegs immer die älteste und wesentlichste, bisweilen eine notorisch der betreffenden Gottheit nie eigen gewesene Eigenschaft in den Vordergrund.

Fragen wir nun, inwieweit für uns Varro als Quelle für die in den I. verzeichnet gewesenen Götter in Frage kommt, so kann die Antwort nur die sein, daß er an authentischer Überlieferung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nichts weiter bietet als den Namen.

So sehen wir also, daß durch Wissowas bahnbrechende Untersuchungen die Autorität Varros gründlich erschüttert ist, und daß sehr viel von dem, was man bisher im Vertrauen auf Varro kritiklos den Sondergöttern zugezählt wurde, als nicht zu ihnen gehörig auszuscheiden hat.

Wir werden durch dieses nur zu begründete Mißtrauen gegen Varro in unserem Wissen von den I. nur scheinbar ärmer; es sind die Schlacken hinweggeräumt und der Kreis der vielumstrittenen Gottheiten, die wir in Ermangelung eines antiken Terminus als ‚Sondergötter‘ bezeichnet haben, wird enger; dafür erkennen wir aber auch klarer, welcher Anschauung diese Gebilde ihre Entstehung verdanken.

Aus all diesen Darlegungen geht zur Evidenz hervor, daß wir in Bezug auf Anordnung und Inhalt der I. Varro nicht mehr als Kronzeugen in die Schranken fordern dürfen und daß unsere Kenntnis von den I., in denen wir Götteranrufungen mit den dazu gehörigen Gebetsformeln zu erkennen glaubten, ganz neu aufgebaut werden muß. In den I. waren zweifellos auch zahlreiche Sondergötter verzeichnet.

Die Grenze zwischen Sondergöttern und persönlichen Gottheiten ist nicht ganz leicht zu ziehen.

Mit Recht hebt Wissowa (Ges. Abhandl. 323) als Hauptunterschied den hervor, daß, während die großen Gottheiten z. B. Apollo als Heilgott und Athene als Beschützerin des Gewerbefleißes dem einzelnen, sowohl wie der Gemeinde als selbständige Rechtssubjekte gegenüberstehen, die Sondergötter nur eine bestimmte Form der Anrufung der göttlichen Macht, des Numen, darstellen: Insitor und Conditor in der Götteranrufung beim sacrum Ceriale auf der einen, Saturnus und Consus auf der andern Seite [1364] geben dafür die Beispiele. Meist sind diese Götter nur innerhalb der Litaneien selbst Gegenstand der Verehrung; aber es ist möglich, daß ein solcher Gott sich loslöst aus der Reihe, daß das Numen, welches die durch ihn bezeichnete Wirkung hervorruft, Gegenstand besonderer Verehrung wird; das ist bei dem Conditor geschehen; indem bei der Bergung des Getreides ein dauernder Zustand eintritt, wird für das geborgene Getreide ein besonderes Numen Consus angerufen (vgl. v. Domaszewski Abhandl. zur röm. Religion 160).

Als eine weitere Eigentümlichkeit der Sondergötter erkannten wir schon, daß sie nicht einzeln, sondern in Reihen und Gruppen auftreten, und ferner, daß wir die alten, echten Sondergötter nicht im Gebete des eiznelnen, sondern in der feierlichen indigitatio der Staatspriester zu suchen haben.

Die peinliche Genauigkeit in der Aufstellung der römischen Gebetsformeln beruht auf dem Grundgedanken, daß jede der Gottheit gebotene Leistung nur dann auf Annahme, jede an sie gerichtete Bitte nur dann auf Erfüllung zu rechnen habe, wenn einerseits der göttliche Adressat in deutlicher und jede Verwechslung ausschließender Weise bezeichnet und weiter der Gegenstand, für den die Leistung erfolgt oder auf den sich die Bitte richtet, nach Inhalt und Umfang klar und erschöpfend angegeben sei. Ist der göttliche Adressat nicht eindeutig auszudrücken, so ersetzt man die bestimmte Namensnennung durch eine Formel wie sive deo sive deae, in cuius tutela hic locus locusve est, welche die gemeinte Gottheit auf sich zu beziehen vermag, oder man kleidet die Bezeichnung des Gegenstandes, auf den sich Leistung oder Bitte bezieht, in die Form der Anrufung einer zuständigen Gottheit, in welcher an Stelle des Eigennamens oder auch neben ihn die Funktionsbezeichnung tritt. Es gibt zwei Mittel, um die Bezeichnung des Gegenstandes durch die an ihm beteiligten göttlichen Funktionen erschöpfend zum Ausdruck zu bringen; entweder man zerlegt ihn in seine wichtigsten Momente, deren jeden man durch eine eigene Anrufung zum Ausdruck bringt; auf diese Weise sind im Opfer der Arvalbrüder Adolenda, Commolenda, Deferunda entstanden und die 12 Götter des sacrum Ceriale vom Vervactor bis zum Pronator; oder man bringt die entgegengesetzten Endpunkte seines Wesens in der Anrufung zum Ausdruck, was man als ‚polare Ausdrucksweise‘ bezeichnet hat (vgl. Kenner Die polare Ausdrucksweise im Griechischen, Würzburg 1903 bes. S. 4 u. Wissowa a. a. O. 324ff.).

Sie tritt uns häufig entgegen; Beispiele sind die Gebete an Anna Perenna ut annare perannareque commode liceat, um ein glückliches Jahr zu erbitten, bei der Bitte um glückliche Entbindung betet man zu den Göttinnen, welche in den beiden möglichen Lagen des Kindes helfend eintreten, Prorsa Postverta, oder an die beiden für die Geburt vor allem in Frage kommenden Monate Nona Decima, bei der Vollziehung des ehelichen Beilagers zu den das männliche und weibliche Geschlecht vertretenden Gottheiten Mutunus Tutunus, die Zusammengehörigkeit von Mutunus mit mutto ist erwiesen [1365] (vgl. Usener a. a. O. 327; die Vermutung, daß in Tutunus eine Beziehung auf den weiblichen Geschlechtsteil enthalten sei, sprach Peter a. a. O. 20, 6 zuerst aus; dann dürfte das Wort zu stellen sein zu titus τιτίς [Buecheler Archiv f. Lexikogr. II 119f. Kaibel Nachr. der Gött. Gesellsch. 1901, 490] und zwar in der von Photius verzeichneten Bedeutung γυναικεῖον αἰδοῖον; s. Wissowa a. a. O. 325, 1).

Hierher gehören auch die polaren Indigitationen wie Panda Cela, Patulcius Clusivius, Genita Mana, Edula Potina, Abeona Adeona (vgl. Wissowa a. a. O. 325, 2). Die Beinamen der Tellus Altor Rusor, ferner vielleicht die noch nicht befriedigend erklärten Namen Pilumnus Picumnus und die nach der Etymologie des Namens wohl als Siegesgöttin aufzufassende Vica Pota. Von diesen stehen manche wieder in Beziehung zu bestimmten Gottheiten der ältesten Kultordnung, Prorsa Postverta zur Geburtsgöttin Carmenta (vgl. Peter bei Roscher a. a. O. 177), Nona Decima zu Parca, andere sind selbst Träger eines Kultes geworden wie Anna Perenna, Mutunus Tutunus, Genita Mana, während die Augenblicksgötter des sacrum Ceriale unpersönliche Anrufungsformeln geblieben, die ohne eigenes Leben nur als Gefolge der ihnen übergeordneten Gottheiten in der Litanei des Priesters erscheinen. Wo der Name des zuständigen Gottes fehlt oder wo die Richtung, in welcher die angerufene Gottheit wirksam werden soll, genauer bezeichnet werden muß, treten die Sondergötter ergänzend ein und ermöglichen die Anpassung der Anrufungsformeln an die unendliche Mannigfaltigkeit der Bitten und Bedürfnisse des täglichen Lebens.

Wieweit die Sondergötter jemals einen Platz im religiösen Leben des Volkes eingenommen haben – man denke nur an das komplizierte System der 12 Götter beim sacrum Ceriale – ist sehr schwer zu sagen; nicht kann ich mich entschließen zu glauben, daß es je eine Zeit gegeben hat, in der die Italiker nur gleichwertige Sondergötter gekannt haben. Dagegen spricht, worauf mit Recht Wissowa a. a. O. 326 verweist, daß in der ältesten für uns erreichbaren Götterordnung nichts charakteristischer ist als die große Zahl reiner Appellativa unter den Götternamen: Tür (ianus) und Herd (vesta), Ackerfeld (tellus) und Erntesegen ops), Quelle (fons) und Grenzstein (terminus); diese Begriffe gingen, sollte ich meinen, in den Schädel des römischen Bauern leicht hinein, dabei konnte er sich etwas denken. Immerhin muß gesagt werden, daß die Neigung zu dieser Auflösung in Sondergötter in dem Charakter des Römers tief begründet liegt; eine gute Formulierung dieses Gedankens findet Warde Fowler The religious Experience of the Roman people, London 1911, der S. 1598. über die I. spricht, a. a. O. 163: ,Sie (die Sondergötter, insonderheit die Zwölfgötter des sacrum Ceriale) müssen der theologische oder vielleicht besser der rituelle Ausdruck einer psychologischen Tendenz gewesen sein, die im Volksbewußtsein eingewurzelt war.‘ Daß die Sondergötter je populär geworden sind, wird deshalb niemand behaupten wollen; aber ich glaube, man geht zu weit, wenn man [1366] aus unsern beiden uns zufällig überlieferten Zeugnissen folgern würde, daß sie ausschließlich dem Staatskulte vorbehalten gewesen seien und im privaten Leben gar keine Rolle gespielt hätten.

Die Zahl der Sondergötter, denen Peter in seinem Artikel einzeln Betrachtungen widmet, ist also erheblich zusammengeschrumpft;, es kam hier darauf an, den Begriff ,Sondergötter‘ klarzustellen; für die einzelnen Sondergötter muß auf die besonderen Artikel verwiesen werden.

Was haben nun diese ganzen Erörterungen mit den I. zu tun? Es ist zunächst gezeigt, daß nicht die sogenannten Sondergötter den Inhalt der I. ausmachten, sondern daß alle jeweilig im Staatskult verehrten Gottheiten in diesen Büchern der Pontifices Aufnahme fanden. Daß Varro alle Gottheiten, die er bespricht, den I. entlehnt haben kann, wer wollte es leugnen? Falsche Erklärungen Varros können uns nicht hindern das anzunehmen; ebenso sicher ist aber auch festgestellt, daß wir endgültig davon absehen müssen, aus Varro bestimmte Schlüsse auf die Anordnung der Gottheiten in den I. zu ziehen; darüber wissen wir einfach nichts, und alle Vermutungen sind wertlose Phantastereien.

Über die Zeit der Entstehung der I. sind wir natürlich auf Vermutungen angewiesen; daß sie auf Numa zurückgeführt werden (Arnob. II 73 Pompiliana indigitamenta), besagt nicht viel (über den Götterkult der Königszeit vgl. Ambrosch Religionsb. 28. 42f. Preller Röm. Myth.³ I 134. II 204. Boissier Étude 239 und Peter a. a. O. 161); immerhin werden wir nicht fehlgehen in der Annahme, daß sie unter die ältesten Religionsbücher der Römer zu rechnen sind. Aus der Einführung der Kulte des Aius Locutius im J. 363 = 391 und des Rediculus Tutanus 543 = 211 auf die I. Schlüsse zu ziehen, wie Peter a. a. O. 176 tut, ist nicht angängig, weil wir ja nicht wissen, ob diese Gottheiten von den Pontifices in die I. eingetragen wurden. August. c. d. IV 21 u. 28 hebt hervor, Varro habe im XIV. Buche ausdrücklich angegeben, daß, während Gottheiten des Kupfer- und Silbergeldes, Aescolanus und Argentinus existierten, es einen Aurinus, einen Gott des Goldgeldes, nicht gegeben habe, demnach hätten die Pontifices für das Goldgeld, welches in Rom zuerst im J. 537 = 217 aufkam (s. Hultsch Metrologie² 302), keinen Gott mehr geschaffen, während sie das für das gar nicht so lange vorher zuerst geprägte Silbergeld im J. 485 = 269 oder 486 = 268 (Hultsch a. a. O. 267) getan hatten. In diesem Zusammenhang sei nochmals darauf hingewiesen, daß Apollo, dessen Name ursprünglich fehlte (Arnob. II 73), später in die I. aufgenommen wurde (vgl. Agahd a. a. O. frg. 62).

Literatur: Alles Einschlägige aus der früheren Literatur ist verzeichnet von Peter bei Roscher Myth. Lex. II 129; hinzuzufügen wäre vor allem H. Usener Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896: ferner Wissowa Ges. Abhandl. zur röm. Religions- und Stadtgeschichte, München 1904, 177ff. u. 304ff. R. Agahd M. Terentii Varronis antiquitatum rerum divinarum libri I, XIV, XV, XVI (Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIV) 20ff. 123ff. [1367] J. Marquardt Röm. St.-R. III² 5ff. A. v. Domaszewski Abh. zur röm. Religion, Leipzig u. Berlin 1909, 159f. G. Appel De Romanorum precationibus, Gießen 1909, 85. Warde Fowler The religions experience of the Roman people, London 1911, 160ff.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sondann