Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Staatsmann und Redner in Mylasa 1. Jh. v. Chr.
Band IX,1 (1914) S. 2931
Bildergalerie im Original
Register IX,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|IX,1|29|31|Hybreas 1|[[REAutor]]|RE:Hybreas 1}}        

Hybreas. 1) H. wirkt im 1. Jhdt. v. Chr. als Staatsmann und Redner von Weltruf zu Mylasa in Karien. Der Name ist selten, aber auf Inschriften der Gegend, die dem 1. Jhdt. v. Chr. angehören (Judeich Arch. Mitt XV 262), zutage getreten: bei Le Bas III 331, 3 (= Arch. Mitt XIV 381) erscheint ein Θαργήλιος Ὑβρέου als Grundbesitzer in Olymos, und auf einer Inschrift aus Mylasa (Arch. Mitt. XV 261) wird ein Παῦκος Ὑβρέου als Priester des Dionysos angeführt. Ob man mit Rücksicht darauf, daß der Name nicht häufig ist, aber gerade in der Familie des Redners traditionell war (s. Hybreas Nr. 2), die genannten [30] Persönlichkeiten mit unserem Manne in Verbindung bringen darf, mag dahingestellt bleiben; immerhin darf noch darauf aufmerksam gemacht werden, daß auf der Inschrift Le Bas III 331 auch ein Euthydemos als angesehener Mann genannt wird und daß wir aus Strabon (XIV 659) einen Euthydemos als politischen Gegner des H. kennen. H. war armer Leute Kind, wie er später selbst seinen Schülern zu erzählen pflegte (Strab. XIV 659), aber der Trieb, etwas in der Welt zu bedeuten, führte ihn nach Antiochia, wo er die Lehrvorträge des Rhetors Diotrephes hörte. In die Vaterstadt zurückgekehrt, wird er ἀγορανόμος und gelangt als Demagog zu politischem Einfluß und Vermögen; nach dem Tode seines Widersachers Euthydemos ist er in Mylasa der mächtigste Mann (Strab. a. O.). Er muß aber auch eine Schule begründet und deklamiert haben (Strab. a. O.). Als Q. Atius Labienus, der, von Brutus und Cassius beauftragt, zu dem Partherkönig Orodes gegangen war, im J. 41 gegen Antonius in Kleinasien vorging und bis nach Karien vordrang, muß H. nach Rhodos entweichen. Sein Haus wird zerstört und die Stadt Mylasa schwer geschädigt. Daraus folgt, daß H. die Politik des Octavianus und Antonius gemacht hatte, und so erklärt sich auch die Sicherheit seines Auftretens gegen Antonius, von dem Plutarch berichtet (Anton. 24). Allerdings ist der scharfe Tadel des Gewaltigen nur begreiflich, wenn wir annehmen, daß H. schon damals auch als literarische Persönlichkeit einen Namen hatte. Das Zusammentreffen mit Antonins fällt vor dessen Bekanntschaft mit Kleopatra, d. h. vor den Winter 41/40 (Plutarch. a. O. 24 und 25 Anfang). Demnach setzt Eusebius die ἀκμή des Mannes, die er (ad a. Abr. 1984) auf 32 v. Chr. bestimmt, wohl etwas spät an; im J. 29 plädiert der gleichnamige Sohn des H. vor dem Proconsul M. Tullius Cicero (filius); damals muß also der Vater schon ein älterer Mann gewesen sein, zumal seine Sententiae in aller Munde waren (Seneca suas. VII 14). Daß die Angabe des Eusebius für den Sohn zu gelten habe, ist gewiß ausgeschlossen; denn dieser war als Redner unbedeutend, wie aus der von Seneca (a. O.) berichteten Anekdote folgt, er wird von Seneca ausdrücklich als disertissimi viri filius eingeführt, und auch Strabon (XIII 630) weiß nur vom Ruhme des Vaters (ὁ καθ' ἡμᾶς γενόμενος μέγιστος ῥήτωρ, vgl. XIV 659f.). Strabon berichtet noch, daß er nach dem Untergange des Labienus (39 v. Chr.) nach Mylasa zurückkehrte, die Stadt zu neuer Blüte brachte und selbst zu neuem Reichtum gelangte. Folglich hat ihn der ältere Seneca wohl kaum selbst gehört, sondern die bei ihm zitierten Sententiae sind vielleicht durch Lehrvorträge des Asianers L. Cestius Pius vermittelt, der in Rom (Hieronymus ad a. Abr. 2004 = 12 v. Chr.) eine Schule auftat; für diese Annahme spricht das Referat Senecas controv. IX 6, 12ff. Die Vermutung von Blass, daß sie dem Sohne gehören (Die griechische Beredsamkeit 73), ist aus Gründen, die bereits oben entwickelt wurden, hinfällig. Auch an literarische Verbreitung kann gedacht werden. Jedenfalls ist der jüngere Cicero mit dem Redner wohl vertraut, und der Tadel des M. Aemilius Scaurus Mamercus (Seneca contr. I 2, 28) hat den H. bei Lebzeiten nicht mehr getroffen; [31] an irgend einer Form der Tradition von H.-Deklamationen ist danach nicht zu zweifeln. Die wenigen Proben seiner Eloquenz sind bei dem älteren Seneca, bei Strab. a. O. und Plutarch. a. O. überliefert; es sind Musterbeispiele der asianischen Manier, die ja von Dionys (de ant. or. 447 R), direkt als Καρικὸν κακόν gekennzeichnet wird, und wenn Dionys im selben Zusammenhang (446 R.) darüber klagt, daß diese Beredsamkeit οὐ μόνον ἐν εὐπορίᾳ καὶ τρυφῇ καὶ μορφῇ πλείονι τῆς ἑτέρας διῆγεν, ἀλλὰ καὶ τὰς τιμὰς καὶ τὰς προστασίας τῶν πόλεων ... εἰς ἑαυτὴν ἀνηρτήσατο, so muß man die Schilderung, die Strabon von dem öffentlichen Wirken des H. gibt, daneben halten, um es für wahrscheinlich zu finden, daß Dionys auch auf unseren Mann hinzielt. Die Themen der Deklamationen waren zum Teil gewagter Art, ihre Ausführung zuweilen so deutlich, daß sie im kaiserlichen Rom Anstoß erregte (Seneca contr. I 2, 23).