Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Flavia Domitilla Enkelin des Kaisers Vespasian
Band VI,2 (1909) S. 27322735
Flavia Domitilla (Heilige) in der Wikipedia
GND: 142526177
Flavia Domitilla in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register VI,2 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|VI,2|2732|2735|Flavius 227|[[REAutor]]|RE:Flavius 227}}        

227) Flavia Domitilla, Enkelin Vespasians, Tochter von Nr. 226. Als Enkelin Vespasians wird sie genannt CIL VI 948 (vgl. 31 212), 8942. Daraus kann man mit Rücksicht auf die [2733] Namensgleichheit schließen, daß sie die Tochter der Flavia Domitilla (der Vorhergehenden) war; sonst käme noch etwa eine der Töchter des Titus (Philostr. v. Apoll. VII 7) in Betracht, die wir mit Ausnahme der (Flavia) Iulia nicht dem Namen nach kennen; Domitian hatte nur einen früh verstorbenen Sohn (s. Bd. V S. 1513f.). In CIL VI 949, wo der Name nicht erhalten ist, kann ebensogut eine der anderen Enkelinnen Vespasians gemeint sein.

Sie ist, da ihre Mutter noch vor der Thronbesteigung Vespasians starb, spätestens zu Anfang 69 n. Chr. geboren. Sie war die Gemahlin des Flavius Clemens (Nr. 62), des Consuls im J. 95; das sagt ausdrücklich Dio ep. LXVII 14, 1, der ihre beiden Namen nennt und sie als συγγενής des Kaisers Domitian bezeichnet, und es ergibt sich auch aus anderen Angaben: nach Auson. gratiar. actio (VIII) 7, 31 war nämlich Quintilian Lehrer im Hause des Clemens, und Quintilian selbst sagt (inst. IV pr. 2), daß er die Enkel der Schwester des Kaisers Domitian unterrichtet habe. Ferner teilt Philostr. v. Apoll. VIII 25 mit, daß der Stephanus, der an Domitian die Hinrichtung des Clemens rächte, ein Freigelassener von dessen Gattin war, und Suet. Dom. 17 bezeugt, daß dieser Stephanus ein procurator Domitillae war. So ergänzen sich diese an sich unvollständigen Nachrichten gegenseitig und ermöglichen uns die sichere Bestimmung ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen. Danach läßt sich die Angabe desselben Philostr. a. a. O., der F. als Schwester Domitians bezeichnet, leicht verbessern; entweder verwechselt der Autor F. mit ihrer gleichnamigen Mutter, was ja begreiflich wäre, oder, was noch wahrscheinlicher ist (vgl. Dessau Prosop. imp. Rom. II 66 nr. 170), es ist anstatt ἀδελφὴν zu schreiben ἀδελφιδῆν (Philostr. VII 7 bezeichnet als ἀδελφιδῆ Domitians auch die Iulia, die Tochter des Titus, und ebenso Dio ep. LXVII 3, 1). Denn die Schwester Domitians war schon vor der Thronbesteigung des Vaters gestorben, während Philostrat sagt, daß Domitian die Domitilla dem Clemens vermählt habe, also doch wohl nach Domitians Regierungsantritt, jedenfalls zu einer Zeit, als die Schwester Domitians schon tot war. Schwierigkeit bereitet nur der Text des Eusebius. Dieser nennt (hist. eccl. III 18) auch ihre beiden Namen, erklärt sie aber als Nichte (ἐξ ἀδελφῆς) [Hs. ἐξ ἀδελφὴν] γεγονυῖαν des Flavius Clemens und erzählt, daß sie als Bekennerin der Heilslehre mit Verbannung nach Pontia bestraft worden sei, und ihm folgen Syncell. I 650, 17f. (ἐξαδελφή). Hieron. ad a. 2112 = 95 (ex sorore neptis; epit. Syria p. 214 Schoene filiam sororis; in der armenischen Übersetzung a. 2110 ganz verworren); vgl. Chron. Pasch. I p. 468 Dind. Malal. X p. 262 Dind. Daraus hat de Rossi Bull. di arch. crist. 1875, 76 (vgl. 1888/9, 49–53) den Schluß gezogen, daß es damals zwei Frauen dieses Namens gegeben habe und daß die von Eusebius genannte Flavia Domitilla, die Nichte des Flavius Clemens und als Christin nach Pontia verbannt, verschieden sei von der gleichnamigen Gemahlin dieses Consuls und Enkelin Vespasians, die aus politischen Gründen nach Pandataria verbannt worden sei. Diese Annahme hat wenig für sich, zumal [2734] da auch die Zeit der Verbannung der Flavia bei Eusebius (15. Jahr Domitians = 95/6) mit der Zeit der Bestrafung des Clemens und seiner Gemahlin (zweite Hälfte des J. 95, s. Nr. 62) vollkommen übereinstimmt. Wohl näher liegt die Vermutung, daß Eusebius hier seine Quelle (Bruttius; daß er ein Bruttius Praesens sei, wie de Rossi a. a. O. 73 glaubt [die Vermutung stammt schon von Scaliger], läßt sich nicht beweisen; vgl. Peter Hist. Rom. rel. II [1906], 160 p. CCVIIIf.) mißverstanden und die Angabe ‚Tochter der Schwester‘ zu Clemens statt zu Domitian gezogen habe, Dessau Prosop. imp. Rom. II 81 nr. 279; ähnlich Gsell Domitien 298f. Renan Les évangiles 227 weist darauf hin, daß die Notiz, Domitilla sei die Nichte, nicht die Gemahlin des Clemens, von der Kirche gern aufgegriffen worden sei, um sie als Jungfrau hinzustellen.

Hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zum Christentum gelten zunächst die Gründe, die auch für die Annahme maßgebend sind, daß ihr Gemahl, Flavius Clemens, Christ war (s. Nr. 62), aber bei ihr kommen auch die Ergebnisse von Ausgrabungen hinzu. Hauptzeuge dafür, daß sie und Clemens nicht etwa, wie de Rossi glaubt, als politisch verdächtig bestraft wurden, ist Dio (a. a. O.), der ihre ἀθεότης, welche er in diesem Falle als jüdischen Glauben erklärt (vgl. aber Allard Hist. d. perséc. 104f.), als Titel der Anklage angibt und berichtet, daß Domitilla im J. 95 nach Pandataria verbannt, ihr Gemahl aber hingerichtet wurde. Wenn wir de Rossis Annahme von zwei Frauen des gleichen Namens ablehnen, dann könnte man schwanken, ob Pandataria (nach Dio) oder Pontia (nach Eusebius) richtig ist; doch müssen wir uns wohl für Pontia entscheiden, weil Hieron. epist. 108, 7 (Migne Patrol. Lat. XXII 882) sagt, daß Pontia berühmt sei durch das Exil der Flavia Domitilla, die unter Domitian als Bekennerin des Christenturas dorthin verbannt worden sei. Eine Verwechslung der beiden Inseln, die auch sonst öfters als Verbannungsorte benützt wurden, konnte Dio leicht unterlaufen (Gsell Domitien 298f.). Was aber Eusebius von dem Christentum der Flavia Domitilla berichtet, wird wohl nach dem Gesagten auf sie, nicht auf eine uns unbekannte Flavia Domitilla zu beziehen sein. De Rossi (Roma sotteranea I 266f.) hat mit großem Scharfsinn noch andere Argumente beigebracht, die es in hohem Grade wahrscheinlich machen, daß Flavia Domitilla (nach seiner Voraussetzung allerdings eine andere als die Gemahlin des Clemens) dem christlichen Glauben anhing. Darauf weist vor allem der Fundort der Grabschrift CIL VI 16246, die besagt, daß das Grabmal errichtet wurde ex induldgentia Flaviae Domitill(ae), also wohl auch auf dem Besitz der Flavia. Gefunden wurde dieser Stein in dem Tor Marancio genannten Gebiet, das sich südlich von der Porta Ardeatina erstreckt. Nun sind aber eben dort christliche Katakomben, und in den Acta SS. Nerei et Achillei wird erzählt, daß die Leichname der beiden Märtyrer in praedio Domitillae, in via Ardeatina, 1½ Millien südlich von der Stadt ganz nahe beim Grabmal der Petronilla beigesetzt wurden, Acta Sanctor. Mai tom. III p. 6–13 cap. 5, 18; im griechischen Original (publiziert von Achelis in den Texten und Untersuchungen [2735] zur Gesch. d. altchristl. Lit. XI 2) heißt es c. 18 ἐν προαστείῳ τῆς Δομετίλλας … ἑν τῷ ὁδῷ τῇ ὀνομαζομένῃ Ἀρδατίνῃ, ἀπέχοντος ἀπὸ τῶν τείχεων Ῥώμης σημείου ἑνὸς ἡμίσεως; auch erwähnt der Index coemeteriorum, den de Rossi (Roma sott. I 180) für einen integrierenden Bestandteil der Notitia regionum urbis hält (bestritten von Jordan Topographie II 146f.), ein coemeterium Domitillae, Nerei et Achillei ad s. Petronillam via Ardeatina. Nach der Erzählung der Acta SS., in denen der historische Kern von der Legende ganz überwuchert erscheint, wurde Domitilla unter Domitian nach der Insel Pontia (c. 10 Ποντιανὴ νῆσος) verbannt und erlitt dann unter Nerva in Terracina den Märtyrertod, womit freilich das longum martyrium, von dem Hieron. ep. 108 a. a. Ὃ. spricht, nicht recht stimmen will. Hier erscheint Flavia Domitilla offenbar auf Grund der erwähnten falschen Tradition, die auf Eusebius zurückgeht, als Tochter einer Schwester des Consuls Clemens, namens Plautilla, obwohl sie in c. 2 auch ἀνεψιά des Kaisers Domitian genannt wird; de Rossis Versuch (Bull. di arch. crist. 1865, 20), die historische Glaubwürdigkeit der Aktenerzählung zu erweisen, muß wohl als mißglückt angesehen werden. Auf keinen Fall paßt Renans (296f.) Erklärung der Worte des Philostratos VIII 25 (κἀκείνην ἐς ἀνδρὸς φοιτᾶν = sich mit ihrem Gemahl zu vereinigen), daß sie am dritten oder vierten Tage nach Clemens’ Hinrichtung auch getötet worden sei, zu den Tatsachen. Die Stempelinschrift Felicis Flaviaes Domitil(laes servi) auf stadtrömischen Ziegeln (CIL XV 1139) dürfte man, da wir von einem praedium der F. wissen, eher ihr als ihrer Mutter zuzuweisen geneigt sein.

Literatur: Dessau Prosop. imp. Rom. II 81f. nr. 279. Harnack Mission u. Ausbreitung des Christentums II² (1906) 33–35. Duruy-Hertzberg Gesch. d. röm. Kaiserreichs II 200f. Gsell Essai sur le règne de l’empereur Domitien (Paris 1894) 297-301. de Rossi Bull. di arch. crist. 1865, 17–24. 1875, 70–76; Roma sotteranea I 266f. Achelis a. a. O. 49–51 (der de Rossis Annahme, wenn auch nicht so bestimmt, folgt). Wandinger in Kraus R.-E. der christl. Altertümer I 533f. Aubé Hist. des persécutions de l’église I² (Paris 1875) 178ff. Renan Les évangiles (1879) 228ff. K. J. Neumann Der röm. Staat u. die allgem. Kirche I (Leipz. 1890) 7. Allard Hist. des perséc. pendant les deux premiers siècles (Paris 1885) 92-121; Le christianisme et l’empire Romain², Paris 1897, 20ff.

[Stein. ]