Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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das Erbrecht in Griechenland
Band VI,1 (1907) S. 391393
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Erbrecht

I. Griechenland. Die natürlichen und notwendigen Erben sind die ehelichen Söhne des Erblassers. Ob sie verschiedenen Ehen entstammen, war, wenigstens in Athen, gleichgültig, Demosth. XXXVI 32. Sie erben zu gleichen Teilen (ἅπαντες τοὺς γνησίους ἰσομοίρους εἶναι τῶν πατρῴων), Isai. VI 25, wodurch nicht ausgeschlossen ist, daß dem Ältesten ein gewisses Vorzugsrecht (πρεσβεῖα), z. B. Auswahl unter den Anteilen, eingeräumt wird, Demosth. XXXVI 11. 34. Wenn sich in Ägypten zur Ptolemaierzeit (Pap. Louvre 14, 16) und auch später (BGU 86) ein weitergehendes Erstgeburtsrecht findet, so beruht das voraussichtlich auf einheimischem Recht, Mitteis Reichsrecht und Volksrecht 56. Die Söhne können auf das Erbe nicht verzichten, sie erben des Vaters Schuld, ja seine Atimie, Demosth. XXII 34. [Demosth.] LVIII 17. Der bei Lebzeiten Adoptierte (s. Adoption) stand dem leiblichen Sohne gleich, wogegen des väterlichen Erbes verlustig ging, wer durch Adoption in ein anderes Haus übertrat. Eheliche Söhne schlossen Töchter von dem Erbrecht aus. Das Recht von Gortyna hat diesen strengen Grundsatz agnatischer Erbfolge in mehrfacher Hinsicht gemildert. Hier haben neben den Söhnen auch die Töchter ein beschränktes Erbrecht, sie erben nichts von dem Stadthaus, dessen Inventar und dem Vieh, von dem übrigen Vermögen aber erhalten sie den halben Sohnesanteil, vorausgesetzt, daß ihnen nicht schon vorher eine Mitgift bestellt ist, IV 31. Ferner darf der Adoptivsohn jedenfalls, X 40, wahrscheinlich auch der Leibeserbe auf die Erbschaft verzichten, XI 42. Zitelmann 148. Auch aus Delphoi und Tenos finden sich Andeutungen dafür, daß die Töchter neben Söhnen Erbrecht besaßen, vgl. Hermann-Thalheim Rechtsalt.⁴ 65 A. 7. Eheliche Töchter ohne Brüder waren ἐπίκληροι (s. d.). Den Halbbürtigen (νόθοι) wurde in Athen erst unter dem Archon Eukleides 403/2 jegliches Erbrecht entzogen, [Demosth.] XLIII 51. Isai. VI 47. Vorher hatten sie es, wenn eheliche Kinder nicht vorhanden waren, Ar. Av. 1660, vgl. O. Müller Att. Bürger- und Eherecht 794. 803. Ähnlich werden in der lakonischen Inschrift IGA 68 (Cauer Del.² 10) zur Erhebung eines Depositums die νόθοι in Ermangelung ehelicher Söhne und Töchter vor den Seitenverwandten berufen.

Waren weder Kinder, noch ein Testament vorhanden, so galt in Athen das bei [Demosth.] XLIII 51 erhaltene Gesetz, dessen Echtheit von Buermann Rh. Mus. XXXII 353 erwiesen ist: ... τούσδε κυρίους εἶναι τῶν χρημάτων· ἐὰν [δὲ] ἀδελφοὶ ὦσιν ὁμοπάτορες· καὶ ἐὰν παῖδες ἐξ ἀδελφῶν γνήσιοι, τὴν τοῦ πατρὸς μοῖραν λαγχάνειν· ἐὰν δὲ μὴ ἀδελφοὶ ὦσιν ἢ ἀδελφῶν παῖδες, ⟨ἀδελφὰς καὶ παῖδας⟩ ἐξ αὐτῶν κατὰ ταὐτὰ λαγχάνειν· κρατεῖν δὲ τοὺς ἄρρενας καὶ τοὺς ἐκ τῶν ἀρρένων, ἐὰν ἐκ τῶν αὐτῶν ὦσι καὶ ἐὰν γένει ἀπωτέρω· ἐὰν δὲ μὴ ὦσι πρὸς πατρὸς μέχρι ἀνεψιῶν παίδων,τοὺς πρὸς μητρὸς τοῦ ἀνδρὸς κατὰ ταὐτὰ κυρίους εἶναι· ἐὰν δὲ μηδετέρωθεν, ᾖ ἐντὸς τούτων, τὸν πρὸς πατρὸς ἐγγυτάτω κύριον εἶναι. Diese Bestimmungen [392] fielen schon dem Altertum (Arist. resp. Ath. 9) als dunkel und unklar auf und bildeten bei Erbstreitigkeiten einen Tummelplatz für Advokatenränke, vgl. Isai. VII 20. XI 1. Sehr auffällig ist zunächst, daß die Aszendenten ganz unerwähnt bleiben. Wahrscheinlich war damals bei Lebzeiten des Vaters ein selbständiges Sohnesvermögen so selten, daß das E. des Vaters keiner gesetzlichen Anerkennung zu bedürfen schien. Es wird behauptet von Grashoff Symbolae ad doctrinam iuris attici de hereditatibus, diss. Lips. Berol. 1877 auf Grund der Unterhaltungspflicht der Söhne und Caillemer Droit de succession 61 wegen [Demosth.] XLIV 26. 33, bestritten von Lipsius Att. Proz. 578. Ähnlich steht es mit dem E. der Mutter, für das sich Isai. XI 30. Theon progymn. 13, 10 anführen läßt. Auch Isai. III 3 scheint nach der Auseinandersetzung in § 2 die Mutter vielmehr ihren Sohn Endios als ihren Bruder Pyrrhos beerbt zu haben. Auch der Oheim (Mutterbruder) erbt nach Isai. I 45, aber ersichtlich nach andern Seitenverwandten. Die Seitenverwandten werden durch das obige Gesetz in der folgenden Ordnung zur Erbschaft berufen: 1. die Brüder vom gleichen Vater und deren Nachkommen in unbeschränkter Vertretung mit Teilung nach Stämmen; 2. die Schwestern von gleichem Vater und deren Nachkommen ebenso; 3. die Nachkommen des Vatersbruders ebenso; 4, die Nachkommen der Vatersschwester desgleichen. Jede frühere Klasse schließt die folgende aus. Erhebliche Schwierigkeiten verursacht der Satz κρατεῖν δὲ τοὺς ἄρρενας κτλ., der auch jetzt noch gewöhnlich (zuletzt Lipsius Att. Proz. 586. Mitteis Reichsrecht 323. Drerup Urkunden 283) nach der Auslegung des Isai. VII 20 verstanden wird: den Vorzug sollen haben die Männer und deren Nachkommen, wenn sie (mit den Weibern und deren Nachkommen) ein gemeinsames Stammhaupt haben, auch wenn sie dem Grade nach entfernter sind. Dadurch aber kommt in das klare System Willkür und Unregelmäßigkeit, welche Buermann Rh. Mus. XXXII 366 und Caillemer a. O. 108 zurückwiesen. Der erstere beschuldigte den Isaios mit Recht bewußter Gesetzesverdrehung. Die Worte heißen vielmehr: Es sollen den Vorzug haben die Männer und deren Nachkommen, wenn sie von denselben Eltern stammen (wie der Erblasser, vgl. Isai. VII 11) und wenn sie dem Geschlecht nach ferner stehen, mit andern Worten, der Grundsatz von dem Vorzug der Männer gilt in den weiteren Klassen genau so, wie in der Klasse der Geschwister, vgl. Hermann-Thalheim Rechtsalt.³ 56. Die Grenze der ἀγχιστεία väterlicherseits bilden die ἀνεψιῶν παῖδες (s. d.), die Nachkommen von Vatersbruder und Schwester. Es folgen die gleichen vier Klassen, gleichfalls jede frühere die spätere ausschließend, mütterlicherseits. Damit ist die ἀγχιστεία (s. d.) erschöpft, und es erbt nunmehr der nächste Erbe väterlicherseits.

Ähnlich sind die Vorschriften des Gesetzes von Gortyna, V 9f., nur daß hier nach den Nachkommen der Brüder und Schwestern die Seitenverwandten ohne nähere Unterscheidung und in Ermangelung dieser sogar die Häuslerschaft des Erbloses zur Erbfolge berufen werden. Über das E. des Vaters schweigt das Gesetz, er kann nur [393] hinter den Schwesterkindern unter den ἐπιβάλλοντες V 23 begriffen sein, da die Urkunde selbständiges Sohnesvermögen kennt, VI 5.

Auf den delphischen Freilassungsurkunden erscheinen als zustimmende Erben auch Aszendenten, aber bezeichnenderweise nie neben Deszendenten. Auffallend selten kommen Geschwister vor; vgl. Hermann-Thalheim Rechtsalt.⁴ 69. Über die Ähnlichkeit der Bestimmungen des sog. Syrisch-römischen Rechtsbuchs mit den attischen vgl. Mitteis Reichsrecht 313. Im allgemeinen ist zu vergleichen außer den angeführten Schriften Bunsen De iure hereditario Ath., Gott. 1813. Gans Erbrecht, Berlin 1824, I 290f. De Boor Att. Intestaterbrecht, Hamb. 1838 mit den Beurteilungen von Schoemann Allg. Lit.-Zeit. 1840 E.-Bl. 524f. und Hermann Z. f. d. Alt. 1840 nr. 2–5. Lipsius Jahresher. XV 346. Zitelmann Recht v. Gortyn 134.

II. s. Hereditas, Testamentum und Bonorum possessio