Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Ärzteschule seit dem 3. Jahrhundert v. Chr.
Band V,2 (1905) S. 25162524
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Empirische Schule (ἀγωγὴ ἐμπειρική, nicht αἵρεσις nach dem Vorbild der Skeptiker, Gal. XII 989). Die genauere Kenntnis dieser seit der Mitte des 3. Jhdts. v. Chr. bestehenden Ärzteschule verdanken wir der medizinischen Kompilation des Celsus (I prooem. 5, 18 Dar.), mehreren Schriften des galenischen Corpus (περὶ αἰρέσεων τοῖς εἰσαγομένοις in der Ausgabe Gal. scripta minora III ed. Helmreich S. 2ff., πρὸς Θρασύβουλον περὶ ἀρίστης αἱρέσεως ed. Kühn I 132ff. [Gal.] ἰατρός XIV 677. 678ff.; subfiguratio empirica ed. Bonnet, Bonn 1872). Sext. Emp. adv. Mathem. VIII 191. 327, Ps.-Soran quaest. medicinales V. Rose Anecdota graeca II 249. 253. Anon. Londin. ed. Diels S. 58. Galen verfaßte eine Schrift περὶ τῆς ἰατρικῆς ἐμπειρίας, von der H. Schöne ein Bruchstück aufgefunden hat (S.-Ber. Akad. Berlin 1901, 1ff.). Die Nachfolger des großen Koers hatten den von ihm festgestellten Boden der Erfahrung bald mehr bald weniger verlassen und infolge des mächtigen Einflusses, den das damals aufblühende und alle Wissenschaften durchdringende Studium der Philosophie ausübte, mehr den Weg der Theorie eingeschlagen, indem sie den daraus entnommenen [2517] allgemeinen Grundsätzen die Erscheinungen der Natur und die Ergebnisse der Erfahrung unterordneten, hier aber bald auf den Abweg theoretischer Grübelei und philosophischer Spekulation gerieten, welche, nach festen philosophischen Systemen alles behandelnd und nach der Theorie alles bestimmend, die Erfahrung hintansetzte und zum Teil gänzlich vernachläßigte. Gegen diese Richtung, die mit dem Namen der dogmatischen bezeichnet wird, blieb die natürliche Reaktion in der E. Sch. nicht aus. Hervorgegangen ist sie ohne Zweifel aus dem von Pyrrhon von Elis begründeten und damals weit verbreiteten Skeptizismus. Die Lehre von der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis, sowie von der sinnlichen Erfahrung (κατάληψις), welche das Fundament ihres Systems bildet, ist skeptischen Ursprungs. Eür den innigen Zusammenhang beider Schulen spricht ferner die Tatsache, daß die neueren Pyrrhoneer größtenteils der Partei der empirischen Ärzte angehören: Ptolemaios von Kyrene, der Begründer des jüngeren Skeptizismus (Diog. Laert. IX 115), ist sicher mit dem von Celsus (VI 7, 241 D.) und Galen (XII 584 aus Herakleides von Tarent — Asklepiades) erwähnten Arzte identisch, und sein Schüler Herakleides (Diog. Laert. a. a. O.) ist kein anderer als der Tarentiner Herakleides (um 90 v. Chr.), der bedeutendste Vertreter der E. Sch., also der von Diogenes Laertios erwähnte Lehrer des Aenesidem (um 70 v. Chr., vgl. g v. Wilamowitz Herm. XXXIV 632 A.). Ja, es wurde sogar die Entstehung dieser Schule direkt an den Namen des Schülers des Pyrrhon, Timon von Phlius, geknüpft (Galen, subfig. emp. 35, 10. C. Wachsmuth De Timone Phliasio 5). Gewöhnlich galt als Stifter der Schule der Herophileer Philinos von Kos ([Ps.-Gal.] ἰατρός XIV 683. Erot. 31, 13. Kroehnert Canonesne poetarum etc. fuerunt, Königsb. Diss. 1897, 60), während eine andere Überlieferung den Serapion als ersten Vertreter dieser Schule nennt (Gal. subfig. emp. 35, 10. Cels. I prooem. 2, 30. Cael. Aur.-Soran). Die Empiriker selbst beriefen sich in ihrem Kampf mit den Dogmatikern, um das Alter ihrer Schule zu erhöhen, bald auf Akron von Agrigent als Stifter derselben (Plin. n. h. XXIX 5. [Gal.] ἰατρός a. a. O.; subfig. emp. a. a. O., vgl. M. Wellmann Frg. gr. Ärzte 212, 8), bald auf Hippokrates (so Glaukias und Herakleides bei Gal. XVIII A 524. XVII B 94, vgl. Isid. IV 4, 1). Die Anhänger dieser Schule nannten sich nicht nach ihren Stiftern, sondern ἐμπειρικοί, τηρητικοί oder μνημονευτικοί, um nicht in den Verdacht zu kommen, als folgten sie der Lehre eines Mannes (Gal. subfig. emp. 35, 8; script. min. III 1. Gal. XVI 83. X 159. Cels. I prooem. 5. 18). Das große Verdienst dieser Schule besteht darin, daß sie energisch Front machte gegen die übertriebenen theoretischen Spekulationen der dogmatischen Ärzte: sie bestritten die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis der Natur des menschlichen Körpers, der Entstehungsursachen der Krankheiten und der spezifischen Wirkung der einfachen Heilmittel (Gal. script. min. III 10, 5. 8, 19ff.) und gründeten die Heilkunde nach dem Vorgange des großen Koers einzig und allein auf die Erfahrung (πεῖρα, τήρησις). Die große Einseitigkeit ihres Systems liegt darin, daß sie nur die praktischen Bedürfnisse [2518] im Auge hatten und alle theoretischen Fächer als unnütz von dem Bereich ihrer Studien ausschloßen, wodurch sie sich mit Recht den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit von Seiten ihrer Gegner zuzogen (Cels. I prooem. 11, 7ff.). So verwarfen sie die Vivisektion und Anatomie als grausam und überflüssig (Cels. I prooem. 12, 35. 7, 16ff. Gal. script. min. III 10, 19. Gal. XVIII A 525. V. Rose Anecd. II 253) mit der Begründung, daß man die inneren Teile des Leibes selbst durch Öffnung des animalischen Körpers nicht kennen lernen könne (Cic. acad. II 122), weil sie bei einem Sterbenden oder Toten eine ganz andere Beschaffenheit zeigten als bei einem Lebenden (Cels. I prooem. 7, 16ff.): so seien Farbe, Härte, Weichheit und dergleichen bei einem geöffneten Körper nicht mehr von der Beschaffenheit, wie sie bei geschlossenem Körper gewesen, infolge der mannigfachen Veränderung, die der Körper durch Furcht, Schmerz, Blutverlust erlitten habe (Cels. 7, 20ff.). Trotzdem gaben sie den Dogmatikern darin recht, daß anatomische Kenntnisse für den Arzt sehr nützlich seien (Gal. II 288), und ließen deshalb Beobachtungen im Innern von nicht ad hoc geöffneten Leichen und von Verwundeten gelten (Cels. I prooem. 12. 35). Sie hatten dafür den Terminus aufgebracht τραυματικὴ θέα oder κατὰ περίπτωσιν ἀνατομή Gal. II 224. 225. 289. XIII 604. 609. Ps.-Soran bei Rose Anecd. II 253. Gal. XIX 357: κατὰ δὲ περίπτωσιν ἐκ συντυχίας ἣ ὑπὸ μεγάλης τρώσεως γινομένη (sc. ἀνατομή). προσχρῶνται δὲ αὐτῇ μόνοι οἱ ἐμπορικοί. Ebenso wie die Anatomie schlossen sie die Physiologie von der Heilkunde aus, weil alle physiologischen Fragen nur auf spekulativem Wege beantwortet werden können (Gal. script. min. III 10. Gal. XVI 81): um solche Fragen, wie die nach der Natur des menschlichen Körpers (Gal. XIV 679), nach der Entstehung des Atmungsprozesses, des Verdauungsvorganges, kümmerten sie sich nicht, mit der Begründung, daß es nur darauf ankomme, zu wissen, was die Krankheit zu beseitigen imstande sei (Cels. I prooem. 7, 2ff.). Dabei verwahrten sie sich gegen den Vorwurf, als ob sie kurzer Hand jede Theorie verwürfen (Gal. XVI82; script. min. III 9, 6): nur glaubten sie, im Gegensatz zur dogmatischen Schule, durch theoretische Betrachtungen nicht die Gewißheit des Seienden (βεβαία γνῶσις), sondern nur das Wahrscheinliche erkennen zu können (τὸ πιθανόν, τὸ εἰκός Gal. script. min. III 10, 9. Cels. I prooem. 5, 26), weshalb sie derartige theoretische Betrachtungen für überflüssig erklärten (Gal. I 122). Der Grund dieser Skepsis liegt in ihrer Lehre von den (φαινόμενα und ἄδηλα). Da die kataleptische Wahrnehmung das einzige unbestrittene Kriterium bildet, so können nach ihrer Meinung nur die φαινόμενα (Außendinge) Anspruch auf Wahrheit erheben. Demgemäß machten sie nur die φαινόμενα zum Gegenstand ihrer Beobachtung, d. h. diejenigen Dinge und Ursachen, welche in die Sinne fallen und daher aus sich selbst erkannt werden (Gal. script. min. III 10. V. Rose Anecd. II 253. Gal. I 126. XVII B 94; subfig. emp. 48, 21. 49, 11ff. Cels. I prooem. 5, 18, bei dem sie evidentes causae heißen), die verborgenen Ursachen dagegen (ἄδηλα, obscurae causae) schlossen sie als unerkennbar (ἀκατάληπτα, vgl. Sext. emp. adv.[2519] Math. VIII 191. Gal. I 122. Cels. I a. a. O.) von dem Bereich ihrer Beobachtung aus. Die Akatalepsie (Gal. Script. min. III 11, 22: οὔτω γὰρ αὐτοὶ καλοῦσι τὴν μὲν ἀληθῆ καὶ βεβαίαν γνῶσιν κατάληψιν, ἀκαταληψίαν δὲ τοὐναντίον ταύτης, die Begriffe sind skeptisch) der ἄδηλα schlossen sie echt skeptisch aus dem Widerstreit der Meinungen über sie (διαφωνία Cels. I prooem. 5, 22. Gal. Script, min. III 11, 26). Mit welchem Rechte, so fragten sie, solle man dem Hippokrates mehr Glauben schenken als dem Herophilos oder warum diesem mehr als dem Asklepiades? Durch dialektische Spitzfindigkeiten könne man die Kluft, die uns von den ἄδηλα trenne, nicht überbrücken; sonst müßten die Philosophen die größten Arzte sein, die doch in Wirklichkeit nur reich an Worten, aber arm an Kenntnissen in der Arzneikunde seien. Als weiteren Beweis führten sie die durch die Verschiedenheit des Ortes bedingte Verschiedenartigkeit der Heilmethode an. In Rom sei ein anderes Heilverfahren erforderlich als in Ägypten, wieder ein anderes in Gallien. Wenn nun die Krankheiten immer die gleichen Ursachen hätten, so müßte auch die Heilmethode überall die gleiche sein. Ferner: wenn man nicht einmal in den Fällen, wo offenbare Ursachen vorlägen, erkennen könne, wie man die Krankheit zu heilen habe, wie viel weniger da, wo die Ursache selbst zweifelhaft sei. Es sei mit der Arzneikunst nicht anders als mit der Landwirtschaft und der Schiffahrt: der Landmann und der Steuermann werde nur durch Erfahrung gebildet (Cels. I prooem. 5, 22). Die Empiriker unterschieden von dem φύσει ἄδηλον, dem von Natur nicht Offenbaren (Gal script. min. III 10, 25). das zur Zeit nicht Offenbare (τὸ πρὸς καιρὸν ἄδηλον, vgl. Gal. script. min. III 11, 8. Philippson De Philodemi libro qui est περὶ σημείων, Berliner Diss. 1881, 65ff.; die empirische Definition steht bei [Gal.] XIX 394: πρὸς καιρὸν ἄδηλά ἐστι τὰ μέχρι μέν τινος ἀπόντα, αὖθις δὲ ὑπὸ τὴν αἴσθησιν ἐλθεῖν δυνάμενα), das ebensogut wie das φαινόμενον der Beobachtung unterliegt und bei dessen Erschließung das hypomnestische Zeichen (σημεῖον ὑπομνηστικόν Gal. I 149. 126. [Gal.] XIX 396; Def. 176) zur Geltung kommt. Sie erkannten also ein Zeichen in dem Sinne an, daß es uns an solche Erscheinungen erinnern soll, welche wir schon in Verbindung mit demselben wahrgenommen haben (vgl. [Gal.] XIX 394: σημεῖόν ἐστιν οὐ γνωσθέντος ἕτερόν τι ἐξ αὐτοῦ καταλαμβάνεται), während sie das endeiktische Zeichen (σημεῖον ἐνδεικτικόν), aus dem die dogmatischen Arzte die verborgenen Ursachen erschlossen (Sext. emp. adv. math. VIII 156; hypot. II 99ff. Gal. XIV 678). mit aller Energie bekämpften (Gal. Script, min. III 10, 22. Gal. 1 149: subfig. emp. 35. 6; schwerlich haben die logischen Ärzte das endeiktische Zeichen aufgebracht, wie Philippson a. a. O. 65 meint, es stammt vielmehr aus der Stoa [Karnekades kannte es], vgl. Schmekel Philosophie der mittleren Stoa 349. 1). Trotzdem hielten sie es für möglich, die zeitliche Aufeinanderfolge gewisser Krankheitserscheinungen zu beobachten und somit aus dem Dasein der einen das Dasein oder das Eintreten der andern mit Hülfe des σημεῖον ὑπομνηστικόν zu vermuten, und je nachdem das Zeichen, das uns zu dieser Vermutung verhilft, vor-, gleich- oder nachzeitig ist, unterschieden sie [2520] zwischen dem προηγούμενονμ συνυπαρκτικὸν und ἀκολουθοῦν σημεῖον (Gal. X 126; subfig. emp. 46, 5. Sext. emp. adv. math. II 288. Gal. I 149). Diese Zeichen sind also nach ihrer Auffassung weiter nichts als Unterarten des einen hypomnestischen Zeichens, und deshalb konnten sie mit Recht das Wesen der Empirie bezeichnen als eine τήρησίς τε καὶ μνήμη τοῦ τί σὺν τίνι καὶ τί πρὸ τίνος καὶ τί μετὰ τί πολλάκις ἑώραται (Gal. X 126; subfig. emp. 46, 5ff. Philippson a. a. O. 63. 67ff.; gegen die Annahme Philippsons, daß der Epikureer Zenon aus Sidon in seiner Zeichen- und Erfahrungslehre von den empirischen Ärzten abhängig sei, hat Schmekel a. a. O. berechtigte Einwände erhoben).

Die von sämtlichen empirischen Ärzten anerkannten Quellen menschlicher Erkenntnis sind die τήρασις (Beobachtung, observatio) und die ἱστορία (geschichtliche Überlieferung); dazu fügte Serapion aus Alexandria die μετάβασις τοῦ ὁμοίου (den Schluß vom Ähnlichen, Analogieschluß, vgl. subf. emp. 40, 10), an deren Stelle der Arzt Menodot aus Nikomedien gegen Ende des 1. Jhdts. n. Chr. den ἐπιλογισμός setzte. Der Empiriker Glaukias (um 180 v. Chr.) faßte diese drei Prinzipien der Erkenntnis in offenbarer Anlehnung an die erkenntnistheoretische Schrift des Nausiphanes, des Schülers des Pyrrhon und Lehrers Epikurs, welche den Titel τρίπους führte, unter dem Namen des empirischen Dreifußes zusammen (subfig. emp. 63, 14. vgl. Gal. I 132; script. min. III 2ff. [Gal.] XIV 677. 679; subfig. emp. 39, 10. 40, 2 u. 24ff.). Da den Empirikern Beobachtung und Erinnerung für die alleinige Basis jeder Erkenntnis galten, so sahen sie sich gezwungen, bestimmte Regeln für die Kunst des Beobachtens aufzustellen. Diese Vorschriften sind ganz vortrefflich. Sie unterschieden dabei drei Arten der Beobachtung: τὸ περιπτωτικὸν εἶδος (circumineidentia experientia). τὸ αὐτοσχέδιον εἶδος (autoschedia) und τὸ εἶδος μιμητικόν (imitativa experientia), vgl. Gal. script. min. III 2. Gal. XVI 82; subfig. emp. 36, 16ff. Alle Krankheiten haben entweder eine äußere wahrnehmbare, aber zufällige Ursache (κατά τινα συντυχίαν; τύχη und συντυχίαsind Lieblingsausdrücke der Empiriker, vgl. Gal. XIV 679. X 31; sie waren also energische Vertreter der Zufallslehre, wie Epikur, während die Stoa, vor allem Chrysipp, rundweg das Vorhandensein eines Zufalls leugnete), wie z. B. Bluterguß nach einem Fall oder nach einer Verwundung, oder sie entstehen von selbst (ἀπὸ ταὐτομάτου), so daß sich die äußere Veranlassung unserer Wahrnehmung entzieht, wie z. B. das Nasenbluten oder der Durchfall. Die zufällige Beobachtung dessen, was dem Körper in diesen beiden Krankheitsfällen (εἶδος τυχικόν und φυσικόν) nützt oder schadet, nannten sie περίπτωσις. Durch diese Art der Beobachtung hatten sie beispielsweise festgestellt, daß es nützlich sei, erst nach Beendigung eines Fieberanfalles einem Fieberkranken Speise zu verabfolgen, und daß Überfüllung mit Speisen zu Beginn des Fiebers schädlich sei (Cels. I prooem. 6,13). Die zweite Art der Beobachtung (τὸ αὐτοσχέδιον εἶδος) beruht auf einem vorsätzlich angestellten Versuch (ὅταν ἑκόντες ἐπὶ τὸ πειράζειν ἀφίκωνται ἢ ὑπ’ ὀνειράτων προτραπέντες ἢ ἂλλωςπως δοξάζοντες, Gal. script. min. III 3, 2), die [2521] dritte auf der Übertragung der zufälligen oder vorsätzlichen Beobachtung auf ähnliche Fälle (Gal. script. min. III 3, 4. Gal. XVI 82; subfig. emp. 37, 4). Da aus der Einzelbeobachtung die Erfahrung (πεῖρα) hervorgeht, so muß jeder Arzt sich befleißigen, möglichst viele Beobachtungen anzustellen. Denn nur durch häufige Wiederholung derselben Beobachtung unter denselben Verhältnissen wird diese zur Erfahrung erhoben (Gal. I 131: ἡ πεῖρά ἐστι τοῦ πλειστάκις καὶ κατὰ τὸ αὐτὸ ἑωραμένου τήρησίς τε καὶ μνήμη), und erst die Erfahrung setzt den Arzt in den Stand, die beobachteten Fälle richtig zu behandeln (Gal. I 131. XIV 677. 679). Dabei muß er sich vergewissern, ob bei Anwendung desselben Verfahrens bei derselben Krankheit immer dasselbe eintritt oder nur in den meisten Fällen (πλειστάκις) oder ebenso oft wie das Gegenteil (ἀμφιδόξως) oder selten (σπανιάκις, σπανίως vgl. subfig. emp. 38, 3. Gal. I 273. [Gal] XIX 354).

Auf wirkliche Erfahrung kann nur der Arzt Anspruch machen, der bei seinen Beobachtungen regelmäßig auf den gegenteiligen Erfolg seines Heilverfahrens achtet, dergestalt, daß der gegenteilige Erfolg für ihn das Kriterium der Zuverlässigkeit seiner Beobachtungen abgibt (subfig. emp. 46, 7). Demgemäß verstanden sie unter einem θεώρημα die aus vielfacher Beobachtung gleichartiger Fälle geschöpfte Kenntnis eines Heilverfahrens, von dem das Gegenteil selten eintritt (Definition bei [Gal] XIX 354. Gal. script. min. III 3). Die Erinnerung an eine Fülle derartiger gleichartiger Beobachtungen nannten sie αὐτοψία (Gal. subfig. emp. 39, 4; Script, min. III 3, 15), die Gesamtheit (ἄθροισμα) der Theoremata macht den Inhalt der Arzneikunde aus (Gal. a. a. O.). Da jede Krankheit eine bestimmte Heilmethode erfordert, so muß der Arzt die eigentümliche Natur einer jeden Krankheit genau beobachten und nicht nur auf die Verschiedenheiten der Heilmittel, der Zufälle, welche Gesundheit oder Krankheit hervorrufen, sondern auch auf die Verschiedenheit der Konstitution, des Ortes und der Zeit achten (Gal. subfig. emp. 44, 15: script. min. III 8, 19ff. Cels. I pr. 11. 28. 36. 12, 6. 18). Dabei hat er von den Symptomen der Krankheit auszugehen. Unter einem Symptom verstanden sie jeden einfachen widernatürlichen Zufall, wie Atemnot, Husten, Geschwulst, Entzündung (subfig. emp. 44, 22. 45, 2f.), unter Krankheit das Zusammentreffen von Zufällen (συνδρομὴ τῶν συμπτωμάτων Gal. subfig. emp. 45, 7; script. min. III 7. Gal. XIV 678. 691; die Definition steht bei [Gal.] XIX 395), sofern es in dem kranken Körper einer Steigerung fähig ist, einen Höhepunkt erreicht, dann abnimmt und schließlich verschwindet (Gal. subfig. emp. 45, 9f.). Die Zufälle, welche regelmäßig mit ein und derselben Krankheit verbunden sind, nannten sie συμβαίνοντα, diejenigen, welche meistenteils in ihrem Gefolge auftreten, συνεδρεύοντα (subfig. emp. 48. 20. 49. Gal. XIV 678). Jede Krankheit wird nun durch das ihr eigentümliche Zusammentreffen von Symptomen bedingt, und von ihm wieder hängt das einzuschlagende Heilverfahren ab (Gal. XIV 691). Um das wahre Wesen einer Krankheit zu bestimmen, genügt es nicht, die Summe aller bei der Krankheit beobachteten Symptome anzugeben,[2522] sondern erst, wenn man von den beobachteten Symptomen die unwichtigen ausgeschieden, die wichtigen jedoch beibehalten hat (διαίρεσις, διαιρεῖσθαι), kann die Bestimmung auf Wahrheit Anspruch machen (Gal subfig. emp. 46, 12. Sprengel Gesch. d. Med. I 576 A. 56. Cels. I pr. 11, 8). Diese Distinktion einer Krankheit nannten sie ὑπογραφή oder ὑποτύπωσις (kompendiöse Erklärung), das dabei angewandte Verfahren des Individualisierens διορισμός (Gal. X 181. VIII 709. 720; subfig. 48, 14ff.; mehrere ihrer Hypotyposen vom Puls hat Galen erhalten, vgl. Gal. VIII 776ff.). Auch für die Beobachtung der Symptome haben sie bestimmte Regeln aufgestellt. Zunächst müssen die Symptome ihrer Art nach (κατὰ τὸ γένος) gleich sein, denn die Symptome beim Fieber sind andere, als die bei der Entzündung (Gal. I 135). Ferner muß die Zahl der Symptome dieselbe sein (κατὰ τὸν ἀριθμὸν ἴσα); denn wenn die Zahl der Symptome bei einer Krankheit geringer oder größer ist, so wird dadurch die συνδρομή gestört und es ist eine andere Behandlung erforderlich (Gal. I 136); so sind bei der Entzündung und beim σκίρρος die Mehrzahl der Symptome gleich, trotzdem bedürfen beide Erkrankungen einer verschiedenen Behandlung, weil die Zahl der Symptome nicht völlig gleich ist (Gal. I 154). Außerdem kommt die Größe der Symptome in Betracht (κατὰ τὸ μέγεθος δεῖ μήτ’ ἐλλείπειν Gal. I 136): bei einer geringen Verletzung ist ein ärztlicher Eingriff nicht erforderlich, bei einer großen sind dagegen Aderlaß, Nahrungsenthaltung und Kompressen anzuwenden (Gal. I 137). Endlich muß der Arzt auf die Zeit achten, in welcher die Symptome auftreten, und auf die Reihenfolge der Symptome (Gal. I 137): liegt eine Entzündung im Anfangsstadium vor, so sind Verteilungsmittel anzuwenden, ist die Entzündung weiter vorgeschritten, so hat der Arzt Umschläge zu verordnen. So erfordert die μανία eine andere Behandlung, wenn sich Fiebererscheinungen vor der μανία einstellen, als wenn sie in ihrem Gefolge auftreten. An der Reihenfolge der Symptome ist zu erkennen, ob eine Krankheit letalen Ausgang haben wird oder nicht (Gal. I 137): stellt sich nach einem Krampf Fieber ein, so ist das nicht nur ungefährlich, sondern ein Zeichen der Genesung; folgt dagegen ein Krampf auf ein Fieber, so deutet das auf letalen Ausgang (Gal. I 138).

Da nun aber die von dem einzelnen Arzt angestellten Beobachtungen lange nicht ausreichen, um auf jede Krankheit Anwendung zu finden (Gal. I 143; subfig. emp. 49, 29ff.), so ist er vielfach auf die ἱστορία angewiesen, d. h. auf die Erfahrungssätze der älteren Ärzte (Gal. I 144; script. min. III 3. 18. Gal. XIV 679. Rose Anecd. II 253; Definition bei Gal. I 144). Als Kriterium der Zuverlässigkeit ihrer Beobachtungen galt ihnen die Konkordanz der Meinungen (συμφωνία Gal. subfig. emp. 52, 3 u. ö. Gal. I 148), bei dem einzelnen die ἀξιοπιστία, sofern er frei von Ruhm- und Streitsucht geschrieben (Gal. I 146), endlich die Übereinstimmung des Berichtes mit der eigenen Erfahrung (subfig. emp. 52, 2ff.). Dabei vertraten sie die Ansicht, daß ebenso wie man durch übereinstimmende Berichte vieler von einem Lande, das man nicht gesehen, genaue Kenntnisse erwerben [2523] könne (Gal. I 149), auch der Arzt durch Benützung der übereinstimmenden Berichte älterer Arzte sich über die Symptome einer Krankheit und das einzuschlagende Heilverfahren ein die eigene Beobachtung ersetzendes Wissen aneignen könne (Gal. I 148). Aus dieser Hochachtung vor der ἱστορία erklärt es sich, daß die Empiriker besondere Vorliebe für doxographische Zusammenstellungen der Ansichten älterer Arzte hatten (Gal. VII 557), wofür das von Athenaios benützte συμπόσιον des Herakleides aus Tarent ein lehrreiches Beispiel bietet (M. Wellmann Herm. XXXV 349ff.).

Endlich kann es vorkommen, daß neue Krankkeiten auftreten (Cels. I prooem. 8, 38), bei denen unsere eigene Erfahrung, sowie die Erfahrung der älteren Arzte versagt, oder aber daß Krankheiten, deren Wesen erfahrungsgemäß festgestellt ist, in Gegenden auftreten, in denen die Heilmittel fehlen, die erfahrungsgemäß zur Beseitigung der Krankheit dienen (Gal. Script. min. III 3, 21. Gal. I 150). Für diese Fälle hatte Serapion ein eigenes Verfahren geschaffen, die μετάβασις τοῦ ὁμοίου (den Analogieschluß). Sie besteht in der Übertragung des Heilverfahrens einer bekannten Krankheit auf eine ähnliche bisher unbekannte (μετάβασις ἀπὸ παθῶν ἐπὶ πάθη) oder in der Übertragung der Behandlungsweise eines örtlichen Leidens auf ein ähnliches Ortsleiden (μετάβασις ἀπὸ τόπων εἰς τόπους), z. B. vom Arm auf den Schenkel, oder in der Anwendung eines ähnlichen Heilmittels bei derselben Krankheit (μετάβασις ἀπὸ βοηθήματος ἐπὶ βοήθημα), z. B. der Mispel statt der Quitte beim Durchfall (Gal. Script. min. III 4; subfig. emp. 54, 10. [Gal.] XIV 679. Rose Anecd. II 253). Ist diese Übertragung von Erfolg begleitet, so ist damit die Erfindung (εὕρεσις) zur Erfahrung erhoben und die auf diesem Wege gewonnene Erfahrung nannten sie πεῖρα τριβικὴ (Gal. script. min. III 4, 10; subfig. emp. 55, 4) und stellten sie auf gleiche Stufe mit der durch Beobachtung gewonnenen ἐμπειρία. Auch zwischen den ὁμοιότητες wußten sie wohl zu unterscheiden; so hatten sie durch Erfahrung festgestellt, daß die Ähnlichkeit der Gestalt, Farbe, Härte, Weichheit keineswegs maßgebend sei für die Anwendung dieses Verfahrens bei Heilmitteln, sondern die Ähnlichkeit nach dem Geschmack oder Geruch oder besser nach beiden (subfig. emp. 55, 18). An die Stelle der μετάβασις τοῦ ὁμοίου setzte im Ausgang des 1. Jhdts. n. Chr. Menodotos den ἐπιλογισμός (script min. III 11.8: subfig. emp. 49. 1. 53. 2. 66, 17ff. Gal. X 164. XVIII B 26. [Gal.] XIX 354), d. h. die Kunst, aus offenbaren Erscheinungen auf die voraufgegangenen oder noch fortwirkenden Ursachen zu schließen.

So sehr die Empiriker von den Dogmatikern in deren Lehrsätzen abwichen, so berührten sie sich doch in ihrem praktischen Heilverfahren (Gal. script. min. III 12. 5). Auch der Empiriker wendet bei Fieber Aderlaß an, nur als Grund will er nicht die Natur der Krankheit gelten lassen, sondern er handelt so, weil er sich daran erinnert, oft beobachtet zu haben, daß bei dem beim Fieber vorliegenden Zusammentreffen von Symptomen die Blutentziehung genützt habe (Gal. script. min. III 7). Ebenso waren sie über die Wirkung der Heilmittel mit den Dogmatikern [2524] ein und derselben Meinung (Gal. script. min. III 8), nicht so über ihre Gründe; daraus schlossen die Empiriker, daß man diese Mittel durch Erfahrung, nicht durch Theorien über die πρῶται δυνάμεις gefunden habe (Gal XI 432. 476). Der Unterschied zwischen beiden Schulen besteht also darin, daß die Dogmatiker ihr Heilverfahren auf die Vernunft, die Empiriker auf die Erfahrung gründeten. Die Empiriker beriefen sich für die Berechtigung ihrer Theorie auf den Ursprung der Arzneikunde aus der Erfahrung (Cels. I prooem. 12). Demgemäß müsse, so meinten sie, die Erfahrung den Prüfstein abgeben für die durch Vernunftschlüsse abgeleiteten Theorien: lehre die Vernunft dasselbe, so seien sie überflüssig, lehre sie etwas anderes, so sei das ein Widerspruch (Cels. I prooem. 6, 29). Trotz des großen Widerwillens, den die empirischen Ärzte gegen die haarspaltenden Finessen einer unfruchtbaren Dialektik empfanden, haben sie es nicht verschmäht, ihre eigenen Theorien durch sophistische Trugschlüsse zu stützen, vgl. Anon. Lond. S. 58 Diels.

Heftig und langdauernd waren die Fehden zwischen beiden Schulen; die Schrift des Glaukias πρὸς τὰς αἱρέσεις und die des Herakleides περὶ τῆς ἐμπειρικῆς αἱρέσεως mögen der Verteidigung ihrer Theorien gedient haben. In verschiedenen Zweigen der Medizin haben sie Bedeutendes geleistet: in der Semiotik, der Arzneimittellehre, der Diätetik und der Chirurgie. Die Technik des Steinschnittes ist wahrscheinlich von dieser Schule ausgegangen. Außerdem haben sie sich große Verdienste erworben um die Auslegung der hippokratischen Schriften: die meisten der älteren Empiriker haben sie kommentiert. Die Schule reichte bis ins 3. Jhdt. n. Chr., ihre bedeutendsten Vertreter sind folgende: Philinos (um 250), Serapion aus Alexandria (um 200), Glaukias, Zeuxis, die beiden Apollonii aus Antiochia (Vater und Sohn) um 150, Lykos, Diodor, Kallikles, Ptolemaios aus Kyrene (um 120), Herakleides von Tarent (um 90 v. Chr.). Dionysios, Apollonios von Kition, Zopyros, Zeuxipp, Zeuxis der Jüngere, Antiochos aus Laodikeia, Menodot aus Nikomedien (um 90 n. Chr.), Herodot, Sohn des Areios aus Tarsos, Agrippa, Sextus Empiricus (um 180), Saturninus.

Literatur: K. Sprengel Geschichte d. Arzneikunde I⁴ 569ff. Hecker Geschichte der Heilkunde I 325. Philippson De Philodemi libro qui est περὶ σημεῖων καὶ σημειώσεων, Berl. Diss. 1881, 44ff. M. Wellmann bei Susemihl G. d. gr. Lit. in d. Alex. I 779ff. Schmekel Die Philosophie der mittleren Stoa 347. Zeller Gesch. der Philosophie III² 1ff.