Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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t.t. des Rechtswesens
Band IV,2 (1901) S. 17121718
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Crimen I. Sprachlich zu cerno und κρίνω gehörend und auf eine Wurzel skar, ker = scheiden, unterscheiden, entscheiden (Fick Wörterb. d. indog. Spr. I 239. II 65), zurückgehend, bedeutet crimen zunächst wahrscheinlich das, worüber entschieden wird, worauf die Entscheidung des Richters sich bezieht, Rein Crim.-R. d. Röm. 93. So ist crimen zunächst a) Anschuldigung, Vorwurf, in technischer Sprache die Strafanklage, Klage auf öffentliche Strafe, ohne Rücksicht darauf, bei wem sie eingebracht wird und wer über sie entscheidet. Diese Bedeutung hat crimen z. B. in den Verbindungen crimen intendere, obicere, probare, crimine postulare, accusare, teneri, damnari, crimini respondere, crimen audire, in crimen subscribere u. a., vgl. z. B. Paul. V 17, 14 und Dig. III 2, 21. XXXVII 10, 13. XLVIII 10, 22 pr. Mod. Dig. XLVIII 15, 5. Pap. Dig. XLVIII 3, 2 pr. Scaev. Dig. XXXVIII 2, 48. XLVIII 5, 15 pr. Ulp. Dig. XLVII 1, 3. XLVIII 2, 6 und ausserdem etwa Cic. pro Planc. 4; pro Cluent. 19; pro Cael. 30. 56; in Vatin. 41. Tac. ann. II 50. III 44; hist. I 77. Hin. ep. II 11. X 66. Besonders häufig sind Verbindungen von crimen und accusatio; crimen steht auch geradezu für und abwechselnd mit accusatio Gai. III 213. Ulp. Dig. XIII 7, 36, 2. XLVIII 5, 18, 2. 19, 32. Gord. Cod. Iust. IX 34, 3. Sever. u. Carac. Cod. Iust. IX 41, 1; dabei nimmt es gelegentlich sichtbar die Bedeutung von Strafklagerecht, Möglichkeit der Anklage, an, so in Wendungen wie crimen cessat (Ulp. Dig. XIII 7, 36, 1), crimen nascitur (Ulp. Dig. XLVIII 15, 1. Gord. Cod. Iust. IX 2, 9, 1). crimen excluditur (Diocl. u. Maxim. Cod. Iust. IX 22, 12).

Erheblich seltener, und erst in nachclassischer Zeit häufiger werdend ist der Gebrauch von crimen im Sinn von b) strafbares Vergehen, eine Rechtsverletzung, die im Wege des Strafprocesses mit Anklage verfolgt werden kann; diese Bedeutung hat crimen in den Verbindungen crimen commitiere, admittere, contrahere, crimen eruere, in crimine deprehendi, pro crimine punire, criminis suspicio, conscientia, socius u. a., vgl. z. B. Ulp. Dig. XLVIII 5, 30. 5. 12. 12. Papin. Dig. XLVIII 2, 22. Ulp. Dig. XXVIII 3. 6. 7. XLVIII 18. 1 pr. Constant. Cod. Iust. III 24. 1. Honor. u. Theod. Cod. Iust. IX 47, 24. Sev. u. Carac. Cod. Iust. VI 2. 2. Diocl. u. Maxim. Cod. Iust. VII 16. 37; ausserdem etwa Cic. pro Cael. 23; divin. in Caec. 31. 32. Tac. ann. III 60. IV 20. XIII 26. In anderen Wendungen nimmt es dabei die Bedeutung von Schuld an, so in criminis capax (Honor. u. Theod. Cod. Iust. I 6, 2), in crimine esse (Paul. Dig. IX 2, 30, 3), crimine cavere (Ulp. Dig. IV 2, 14, 3) u. a.

Noch seltener bedeutet crimen c) den ganzen Strafproecss, criminalis causa, die auf accusatio [1713] hin eingeleitete Verfolgung und Untersuchung, so etwa in Verbindungen wie in crimine defendere, torquere, condemnare, suspenso crimine u. a., s. Mod. Dig. XLVIII 2, 17. Are. Char. Dig. XLVIII 18, 10, 1. Ulp. Dig. XXIX 5, 21 pr. XLVIII 19, 5 pr., und namentlich da, wo crimen etwa privatum iudicium, causa civilis u. ähnl. gegenübergestellt werden, vgl. z. B. Ulp. Dig. XLVII 20, 3, 1. XLIX 9, 1. Valer. Cod. Iust. III 8, 3; vgl. etwa noch Cic. Verr. V 22. 23; pro 1 Sest. 87.

Im strengen Sprachgebrauch wird crimen durchaus getrennt von delictum (s. d.); ersteres bedeutet das Unrecht, das durch öffentliche Anklage (accusatio) im Wege des Strafprocesses verfolgt und mit öffentlicher Strafe geahndet wird; letzteres das Unrecht, das durch Privatklage (actio) im Wege des Civilprocesses verfolgt und mit Privatstrafe geahndet wird. Insofern ist jedes crimen : publicum, jedes delictum : privatum; so erklären sich Gegenüberstellungen wie delictum – publicum crimen, actio – crimen u. ähnl., vgl. z. B. Ulp. Dig. XXI 1, 17, 18. XLVII 8, 2, 24. XLVIII 2. 15. Pompon. Dig. XL 7, 29 pr. Hermog. Dig. XLVII 19, 5. Paul. Dig. IV 8, 32, 6. Nov. Mart. 1, 1. Der strenge Sprachgebrauch wird aber nicht selten ausser acht gelassen; so steht ziemlich häufig delictum für crimen (s. den Art. Delictum), seltener crimen für delictum (Privatdelict), z. B. Gai. III 197. 208. IV 178. Paul. Dig. III 2, 5. IV 3, 16. XIX 2, 45, 1. Ulp. Dig. IV 2, 14, 3. XVI 3, 1, 4. XLII 5, 31. 2. Pap. Dig. XLVIII 5, 6 pr. Hadr. (Callistr.) Dig. XLVIII 15, 6 pr. Zeno Cod. Iust. III 24, 3 pr.; noch seltener ist die Verwendung von actio für accusatio, s. Ulp. Dig. IX 2, 23, 9. XLVIII 13, 11. Pap. Dig. XLVII 20, 1. Macer Dig. XLVIII 16, 15, 3. Marcian. Dig. XLVII 19, 3. Val. Grat, u. Valent. Cod. Iust. IX 31, 1. Theod. Arcad. u. Honor. Cod. Theod. II 26, 5.

Litteratur. Birnbaum Über d. Untersch. zw. crimen und delictum etc., N. Archiv d. Crim.-R. VIII 396–443. 643–713. IX 339–429. Rein Crim.-R. d. Röm. 93-98. Voigt XII Tafeln I 380. 381. Binding Grundriss zu Vorlesg. üb. dtsch. Straft. § 1. Pernice Labeo II² 12–14.

II. Einteilungen. Eine Einteilung der crimina in leviora und atrociora hat nur insofern Bedeutung als erstere vom Magistrat de plano behandelt werden können, während letztere pro tribunali entschieden werden müssen, Ulp. Dig. XLVIII 2, 6. vgl. I 16, 9. 3. Capitalia crimina sind diejenigen, deren Strafe eine capitale ist (s. Art. Poena). vgl. z. B. Callistr. Dig. L 13. 5 pr. Mod. Dig. XLVIII 2, 17. Ulp. Dig. XXXVIII 2, 14. 3. XXI 1, 23. 2. Paul. Dig. XLVIII 1, 2. Alex. Cod. Iust. IX 2. 3. Die wichtigste Einteilung ist diejenige in crimina publica und crimina extraordinaria.

a) (Crimen publicum oder auch crimen legitimum. (Ulp. Dig. XLVII 20. 3, 2) ist zunächst = crimen publici iudicii (publicorum iudiciorum), wobei wiederum als iudicia publica gelten die iudicia, quae ex legibus iudiciorum publicorum veniunt, Macer Dig. XLVIII 1. 1, vgl. XLVII 15, 3. 3. Leges iudiciorum publicorum sind Volksschlüsse (lex im alten Sinne), die für einen mehr oder minder genau bezeichneten Verbrechensthatbestand [1714] eine absolut bestimmte Strafe androhen, das Verfahren bei Anklagen wegen solcher Verbrechen ordnen und die Entscheidung einem ständigen Schwurgerichte zuweisen, über dessen Bildung genaue Vorschriften getroffen werden; sie beschlagen somit zugleich Strafrecht, Strafprocess und Gerichtsverfassung; Beispiele solcher leges iudiciorum publicorum: lex Cornelia de sicariis et veneficis, lex Pompeia de parricidiis, lex Iulia maiestatis u. a. Die Schwurgerichte heissen iudicia publica (s. Näheres unter Art. SperrSchrift), die Anklage, welche vor ihnen erhoben wird, ebenso der Gegenstand dieser Anklage, d. i. das Verbrechen, heisst crimen publici iudicii, publicum, legitimum. Den leges iudiciorum publicorum stehen an Bedeutung gleich die sie ergänzenden Senatsschlüsse der Kaiserzeit, die gewöhnlich den gesetzlichen Verbrechensthatbestand erweitern, etwa mit der Formulierung ut qui . . . fecerit, lege (z. B. Cornelia de falsis) teneatur oder poena legis . . . teneatur oder in causa sit, ac si lege. . . facinoris noxius fuerit; auch die so eingeführten Anklagen sind crimina publica, Macer Dig. XLVII 13, 2, vgl. XLVII 15, 3. 3. Ulp. Dig. XXIX 5, 3, 12. Marcian. Dig. XLVIII 10, 1, 7. Auch in kaiserlichen Constitutionen, und zwar in Edicten, begegnen zweimal ähnliche Formulierungen, Claud. bei Callistr. Dig. XLVIII 10, 15 pr. Traian. bei Ulp. Dig. XLVII 11, 6, 1, wahrscheinlich sind aber diese Edicte in Senatsbeschlüsse aufgenommen worden, vgl. Callistr. a. a. O. (edicto praceepit, adiciendum legi Corneliae) und Alex. Cod. Iust. IX 23, 3. Die Strafe ist bei den crimina publica durch das Gesetz absolut bestimmt; der Richter darf an der poena legitima nichts ändern, Ulp. Dig. XLVII 20, 3, 2. Marcian. (Pap.) Dig. XLVIII 16, 1. 3. Die Gerichtsverfassung besteht in einem regelmässig von einem Praetor geleiteten Schwurgericht (quaestio) ,gleichsam einem Volksausschuss‘ (Wächter); vgl. die Art. Iudicium, Quaestio. Das Verfahren ist ein reiner Accusationsprocess; die Anklage steht nicht nur dem Verletzten, sondern regelmässig cuivis ex populo zu; mit dieser Freigebung der Anklage wird auch der Name iudicium publicum in Verbindung gebracht, Ulp. Dig. XXIII 2, 43, 10. Mod. Dig. XLVIII 10, 30, 1. Constant, Cod Iust. IX 9, 29. Iust. Inst. IV 18, 1. Die Anklage selbst ist an bestimmte Formen gebunden (sollemnia accusationis), Paul. Dig. XLVIII 2, 3 pr. Alex. Cod. Iust. IX 1. 3. Diocl. u. Maxim. Cod. Iust. IX 12, 3. Symmach. X 49; vgl. den Art. Accusatio. Allgemeine, für alle iudicia publica berechnete Bestimmungen über das Verfahren, namentlich über Anklagefähigkeit und verwandte Capitel, enthielt die lex Iulia iudiciorum publicorum, wahrscheinlich eine allgemeine Strafprocessordnung des Augustus aus dem J. 737 = 17 (Wlassak Röm. Processgesetze I 181ff.).

Als Besonderheiten der crimina publica werden erwähnt: sie setzen alle dolose Begehung voraus; dabei wird culpa lata dem dolus nicht gleichgestellt, Paul. Dig. XLVIII 8, 7: der Verurteilte wird infam, Macer Dig. XLVIII 1, 7. Ulp. Dig. III 2, 13, 8. XXIII 2, 43, 12; er verliert die Anklagefähigkeit. Ulp. Dig. XLVIII 2, 4. Über calumnia bei crimina publica s. den Art. Calumnia.

[1715] b) Crimen extraordinarium ist zunächst jedes crimen, das nicht crimen publicum ist und nicht durch eine lex publici iudicii, sondern durch eine andere Rechtsquelle eingeführt ist; die Quellen stellen den crimina quae legibus coercentur die crimina quae extra ordinem coercentur gegenüber. Alex. Cod. Iust. III 15, 1; vgl. Ulp. Dig. XLVII 15, 6. Beispiele: abigeatus, concussio, dardanariatus, stellionatus. Eingeführt sind diese crimina extraordinaria vorwiegend durch kaiserliche Constitutionen; auch Gewohnheitsrecht wird als Quelle genannt, Macer Dig. XLVII 15, 3 pr., vgl. Paul. V 4, 6. Senatusconsulta erscheinen regelmässig als Amendements zu leges iudiciorum publicorum und begründen so crimina publica (s. o.), nur ausnahmsweise erzeugen sie crimina extraordinaria, so die oratio Marci bei Marcian. Dig. XLVII 19, 1. Innerhalb der kaiserlichen Gesetzgebung kommen namentlich die kaiserlichen Instructionen an die Provincialstatthalter (mandata) in Betracht, Marcian. Dig. XLVII 22, 1. 3. XLVIII 3, 6, 1. 13, 4, 2 (vgl. Ulp. Dig. I 18. 13 pr.). Mod. Dig. XXXVII 14, 7, 1. Ulp. Dig. XLVII 11, 6 pr., weiterhin die Instructionen an den Praefectus urbi, dessen Competenzen fortschreitend erweitert werden, tit. Dig. I 12. Ulp. Dig. I 15, 4, 1. XLVII 11, 8. XLVIII 19, 2, 1. Coll. XIV 2, 2. 3. Marcian. Dig. XLVII 19, 3; schliesslich, namentlich seit Hadrian, die Rescriptsthätigkeit der Kaiser, s. z. B. Ulp. Dig. XLVII 14, 1 pr. Callistr. Dig. XLVII 21, 2. Dig. XLVIII 10, 31. 3, 12. Marcian. Dig. XLVII 11, 4. XLVIII 7, 1, 2.

Die staatsrechtliche Begründung und Bedeutung der crimina extraordinaria ist nicht ganz klar; wahrscheinlich bildet den Ausgangspunkt das im magistratischen Imperium enthaltene Coercitionsrecht. Schon in republicanischer Zeit steht neben der iudicatio die coercitio (s. d.), neben der poena die multa, neben dem nach Verbrechensthatbestand, Strafe, Verfahren normierten gesetzlichen Strafrecht das solcher Normierung bare Amtsstrafrecht; die magistratische Coercition füllt die Lücken des gesetzlichen Strafrechts aus. An dieses Coercitionsrecht knüpft die kaiserliche Gesetzgebung an, wie denn auch der Ausdruck coercere besonders häufig für die crimina extraordinaria verwendet wird und einige der letzteren nachweislich aus Bussfällen herausgewachsen sind; ,man darf daher sagen, dass die Anfänge des kaiserlichen Strafrechts auf dem Gebiet der Polizei liegen; man könnte sogar vermuten, dass die Kaiser und ihre Beamten bei ihren Eingriffen bewusst an das alte Multrecht anknüpfen, um damit einen verfassungsmässigen Anhalt zu gewinnen‘ (Pernice Labeo II² 18). Jedenfalls ist die Ausbildung und zunehmende Erweiterung dieses Gesetzgebungszweiges für die Geschichte des Principats von grösster Bedeutung; der Kaiser macht dem Senat Concurrenz, in dessen Hand bisher die Weiterbildung des gesetzlichen Strafrechts (Senatusconsulte über crimina publica s. o.) gelegt war; andrerseits wird die Magistratsgewalt durch die kaiserlichen Anweisungen in Schranken gehalten und dirigiert. Man kann die so geschaffenen crimina extraordinaria in zwei Gruppen einteilen; zum Teil sind es Verbrechen, über deren Ahndung gesetzliche Normen bisher überhaupt nicht bestanden, zum Teil Privatdelicte, die nunmehr [1716] durch öffentliche Anklage verfolgt werden können. Bezüglich der zweiten Gruppe ist zu bemerken: Zunächst werden schwerere Fälle von Diebstahl, Sachbeschädigung, dolus, die bisher nur Privatdelicte waren, als crimina extraordinaria erklärt und verfolgt und mit besonderen Namen ausgestattet, so abigeatus, effractura, stellionatus; sodann bildet sich – spätestens im Beginn des dritten Jahrhunderts – der Grundsatz, dass wenigstens bei Diebstahl und Injurie allgemein der Verletzte die Wahl haben soll zwischen Anstellung der Privatstrafklage und Erhebung der öffentlichen Anklage [crimen extraordinarium), Ulp. Dig. XLVII 1, 3. XLVII 2, 93. Hermog. Dig. XLVII 10, 45. Paul. Dig. III 2, 21. Iust. Inst. IV 4, 10. Wo crimina extraordinaria aus Privatdelicten herausgewachsen sind, kommt dieser Ursprung noch an mehreren Punkten zum Durchbruch; s. u. die Behandlung des Anklagerechts und der Infamie. Die Strafe der crimina extraordinaria ist durch das Kaisergesetz regelmässig nicht absolut bestimmt, genauer z. B. Hadr. bei Callistr. Dig. XLVII 21, 2. Sev. u. Carac. bei Paul. Dig. XLVII 15, 6; regelmässig wird die Strafe entweder ganz dem Ermessen (liberum arbitrium statuendi) des Richters überlassen, der pro modo admissi, prout quisque deliquerit u. s. w. Strafe verhängen soll, Ulp. Dig. XLVII 18, 1, 1. Mareian. Dig. XLVIII 13, 4, 2. Paul. Dig. XLVIII 19, 37; oder die Strafe wird nur maximal begrenzt (dummodo ne poenam . . [z. B. operis publici temporarii] egrediatur), Ulp. Dig. XLVII 17, 1. 18, 1, 2. 20, 3, 2. Ulp. Coll. leg. Mos. et. Rom. VII 4, 1. Paul. V 4, 17. Gerichtsverfassung: Der kaiserliche Beamte fungiert als Einzelrichter, höchstens von einem freigewählten Beirat (s. die Artikel Adsessor, Consilium) unterstützt. Das Verfahren ist ein amtsrechtliches Cognitionsverfahren; auch hier wird zwar von einer Anklage gesprochen, s. z. B. Marcian. Dig. XLVII 19, 1. Ulp. Dig. XLVII 11, 3; diese Anklage scheint aber zunächst an die bei crimina publica vorgeschriebenen Förmlichkeiten der Anklage nicht gebunden zu sein und war wohl von Anfang an nicht immer nötig; es kann nämlich kaum einem Zweifel unterliegen, dass die Anfänge des Inquisitionsprocesses auf dem Gebiet der crimina extraordinaria zu suchen sind; man vergleiche hierzu namentlich das Verfahren in den Christenprocessen und etwa den Wortlaut der Mandate bei Marcian. Dig. XLVIII 13, 4, 2 (vgl. Ulp. Dig. I 18, 13). Ulp. Dig. XLVII 11, 6 pr. und Ulp. Dig. I 15, 4. Die Befugnis, Anklage zu erheben, war da, wo mit dem crimen extraordinarium die Privatstrafklage concurrierte, jedenfalls dem Verletzten vorbehalten: dass diese Beschränkung des Anklagerechts auch bei den übrigen crimina extraordinaria gegolten habe, wird von den meisten (z. B. Wächter, Binding) angenommen, lässt sich aber aus den Quellen kaum nachweisen; wahrscheinlicher ist, dass in diesem freieren Verfahren über die Zulassung und Anhandnahme der Anklage der erkennende Richter entschied, dass die Anklage überhaupt von Anfang an mehr den Charakter der Denuntiation hatte und, wie bei der Coercition, der Willkür des Magistrats in der Ordnung des Verfahrens in grossem Umfang Raum gegeben war. Man vgl. ausser [1717] den Christenprocessen etwa die Criminalprocesse auf ägyptischen Papyri und zu diesen Mommsen Ztschr. d. Savigny-Stiftg. XVI 181–195. Mitteis Herm. XXX 571. 572. Die Bestimmungen der lex lulia iudiciorum publicorum gelten für crimina extraordinaria nicht. Verurteilung hat keine Infamie zur Folge, sofern das crimen extraordinarium nicht aus einem Privatdelict stammt, bei welchem Verurteilung infam macht, Macer Dig. XLVIII 1, 7. Ulp. Dig. III 2, 13, 8; der Verurteilte wird nicht accusations-unfähig; neben Fällen doloser Begehung gelangen hier auch schwerere Fälle fahrlässiger Begehung zur Ahndung, Paul. V 23, 12, vgl. mit Paul. Dig. XLVIII 8, 7, ausserdem etwa Ulp. Coll. leg. Mos. et Rom. I 6. 11. Über calumnia bei crimina extraordinaria vgl. Art. Calumnia.

Im Laufe der Entwicklung sind crimina extraordinaria und publica einander immer mehr genähert worden. Es kam vor, dass ein Verbrechen sowohl im Weg des crimen extraordinarium als im Weg des crimen publicum verfolgt werden konnte, Macer Dig. XLVII 13, 2. Marcian. Dig. XLVIII 7, 1, 2. Senec. de clem. II 1. Diocl. u. Maxim. Cod. Iust. IX 2, 11. Mit dem Untergang der Schwurgerichte (wahrscheinlich unter Septimius Severus, vgl. den Art. SperrSchrift) verschwand der Unterschied in der Gerichtsverfassung; auch über die crimina publica urteilen nunmehr die Magistrate als Einzelrichter: de iudiciis publicis extra ordinem cognoscunt. Macer Dig. XLVIII 16, 15, 1. Paul. Dig. XLVIII 1, 8; dagegen blieben die übrigen Verschiedenheiten bestehen, Paul. a. a. O.: durante tamen poena legum, cum extra ordinem crimina probantur. Immerhin finden sich auch hier erhebliche Annäherungen. Der Richter scheint für die Bemessung der Strafe – ähnlich wie bei den crimina extraordinaria – nunmehr auch bei den crimina publica freiere Hand zu bekommen, vgl. Ulp. Dig. XLVIII 19, 13. Macer Dig. XLVIII 11, 7, 3. 16. 15, 1. Ulp. Dig. XLVIII 19, 1, 3. Coll. leg. Mos. et Rom. XII 5. Umgekehrt scheinen Bestimmungen von den crimina publica auf die crimina extraordinaria übertragen worden zu sein, so namentlich die gegen Missbrauch des Anklagerechts gerichteten Förmlichkeiten der Anklageerhebung (subscriptio in crimen u. s. w.); s. Ulp. Dig. XLVII 1,3. 2, 93, vgl. XLVIII 2. 7 pr., und der Ausschluss der Stellvertretung, Zeno Cod. Iust. IX 35, 11. Nov. Valent. 34, 1, 1. Über die Behandlung der calumnia s. den Art. Calumnia. Kaisergesetze aus späterer Zeit erlassen Bestimmungen über crimina schlechthin-, Marcian behandelt in seiner Schrift de iudiciis publicis auch die crimina extraordinaria, die er allerdings durch die Anordnung noch von den crimina publica trennt (vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen Fragmente bei Lenel Palingenes. iur. civ. I 675–680): ähnlich reiht Ulpian de officio proconsulis (bei Lenel II 975-986) die crimina extraordinaria an die crimina publica an.

Nichtsdestoweniger hat die Unterscheidung noch im iustinianischen Recht praktische Bedeutung; als Besonderheiten der crimina extraordinaria scheinen immer noch betrachtet zu werden: die grössere Freiheit des Richters bei der Strafzumessung, der Nichteintritt der Infamie im Falle der Verurteilung, der bei leichteren Fällen mögliche [1718] Verzicht auf die sollemnia accusationis (Arcad. u. Hon. Cod. Iust. IX 37, 1 und Cod. Theod. II 1, 8) und die Beschränkung des Anklagerechts auf die Person des Verletzten, wenigstens bei den aus Privatdelicten hervorgegangenen crimina extraordinaria. Gerade mit diesem letzten Punkt hängt zusammen, dass noch in den letzten Jahrhunderten der Kaiserzeit mehrmals crimina als crimina publica eingeführt werden mit dem Bemerken, dass die Anklage jedermann zustehen solle, Constant. Cod. Iust. IX 11, 1. Arcad. u. Honor. Cod. Iust. I 3, 10. Nov. Valent. III 17, 2 (sitque publicum crimen et omni volenti .. tales arguere facultas), 22, 8.

Litteratur: Rein Criminalrecht d. Röm. 98-111. Geib Gesch. d. röm. Crim.-Proc. 393–411. Rudorff Röm. Rechtsgesch. II 346–348. Wächter Beilagen zu Vorlesg. über deutsch. Strafr. I 57–66. Binding De nat. inquis. proc. crim. Rom. (1864) und Grundriss zu Vorlesg. üb. gem. deutsch. Strafr. I § 5. Schulin Röm. Rechtsgesch. 148–154. Mommsen Religionsfrevel nach röm. R. in Sybels hist. Ztschr. LXIV (N. F. XXVIII) 389ff. Pernice Labeo II² 14-18.

[Hitzig. ]