Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Von Magistraten oder Priestern geleitete Volksversammlung
Band IV,1 (1900) S. 11491153
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Contio (conventio, conventus, vgl. SC. de Bacch. Z. 23: in coventionid. Fest. ep. p. 113: in conventione in contione. Varro de l. l. VI 88. Corp. gloss. ed. Götz VI 270) ist die von Magistraten oder Priestern berufene und geleitete Versammlung, in welcher das Volk nicht nach den politischen Abteilungen gesondert ist, nicht Beschlüsse fassen kann, sondern lediglich Mitteilungen entgegennehmen soll. Fest. p. 38: c. significat conventum non tamen alium quam eum, qui a [1150] magistratu vel a sacerdote publico per praeconem convocatur. Dionys. IV 37. 76. V 57. Liv. XXXIX 15, 1 (s. u.). So dienen die C. vornehmlich dazu, die Bürgerschaft hinsichtlich der in den Comitia zu erledigenden Gesetze, Wahlen, Gerichte aufzuklären, jedoch nicht ausschliesslich; denn C. haben auch stattgefunden, wie Mommsen St.-R. I 198 scharf hervorhebt, ohne dass Comitien folgten, z. B. die C. im Lager, Liv. VII 36, 9. VIII 7, 14 u. ö., die behufs politischer Agitation oder zur Teilnahme an öffentlichen Acten (Liv. XLII 33, 2), so bei Hinrichtungen (Cic. pro Rab. ad pop. 11. 15. Tac. ann. II 32) einberufene Versammlung. Die Formen haben sich in beiden Fällen nicht wesentlich unterschieden, waren jedoch strenger gebunden bei denjenigen C., welchen Comitia sich unmittelbar anschlossen, besonders in Bezug auf Beobachtung des Trinundinum und Vornahme von Auspicien; endlich war es dann unzulässig, dass mehrere Volksversammlungen zu gleicher Zeit tagten, Gell. XIII 16, 1 (Messalla): si contionem habere volunt, uti ne cum populo agant, quamvis multi magistratus simul contionem habere possunt. Lange I 561. Sonst war natürlich kein Hinderungsgrund, verschiedene C. gleichzeitig zu halten (Mommsen St.-R. I 199. III 374), doch darf eine solche nicht stattfinden, wenn die Versammlungen des ganzen Volkes, die comitia, tagen. Das ius contionem habendi – die Bezeichnung cum populo agere hiefür wird Gell. XIII 16, 2. 3 (Messala) abgelehnt: aliud esse cum populo agere, aliud contionem habere. nam cum populo agere est rogare quid populum, quod suffragiis suis aut iubeat aut vetet, contionem autem habere est verba facere ad populum sine ulla rogatione; betreffs der mehrfach irrtümlich hieher gezogenen Stellen, Cic. in Verr. I 36. Macrob. sat. I 16, 22. Liv. XLII 34, 1 vgl. Mommsen St.-R. I 192, 1 –, welches in der Königszeit gewiss dem Herrscher allein zugestanden hat (Dionys. V 11, vgl. Plut. Poplic. 3, während nach Liv. I 16, 1. Cic. de rep. II 20 nach Romulus Tode ein Privater in einer C. spricht), besassen die patricischen Oberbeamten des populus (Cic. ad Att. IV 1, 6), die Censoren, die Aedilen, Quaestoren (Gell. XIII 16, 1. Schol. in Cic. in Clod. et Cur. p. 330 Or.: [P. Clodius] cum illo anno potestate quaestoria fungeretur, apud populum creberrimis eum [Ciceronem] contionibus lacessebat, dazu die Bemerkung Mommsens St.-R. I p. XIX), selten die Promagistrate (Vell. I 10) und für religiöse Angelegenheiten die Priester (Varro de l. l. VI 28. Fest. ep. p. 38. Gell. II 12, 11. Macrob. sat. I 15, 9–12, vgl. Serv. Aen. VIII 654), endlich vor allem die Tribunen. Bei Collisionen hatte der höher Stehende das grössere Recht contionem avocare; so müssen vor der vom Consul berufenen C. alle andern ausser den von Tribunen anberaumten, denen also ein besonderer Schutz gewährt war, zurückstehen, vor der vom Praetor berufenen alle von niedern Magistraten angeordneten, Karlowa I 380. Dass aber, wenn ein Tribun C. hielt, auch die Comitien des populus zu unterbleiben hatten, ist trotz Liv. IV 25, 1 nicht anzunehmen, da ja zur C. nicht jedermann kommen musste, Mommsen St.-R. II 289; anders Lange I 604. 826. II 716. Wollten die Tribunen Obstruction üben, so boten intercessio und obnuntiatio bequemere [1151] Handhaben. Waren die C. auch nicht Versammlungen des ganzen Volkes (trotz der Übertreibungen wie Sallust. Iug. 33. Cic. in Verr. I 45; pro Sest. 126. 114. 107), so konnten sie doch naturgemäss eine grosse Bedeutung haben, da in denselben Gelegenheit geboten war, das Volk zu Worte kommen zu lassen (s. u.).

Die Berufung einer C. (vocare ad c., Liv. XXXIX 15, 11; populum advocare, Liv. I 59, 7. XLII 33, 2; c. advocare, Sallust. Iug. 33. Cic. pro Sest. 28. Auct. ad Herenn. IV 55. Macrob. sat. I 16, 22; c. convocare, Gell. I 15, 9) geschah, wenn sie nicht schon früher in einer andern C. angekündigt war, wie Liv. XXXVIII 51, in einfacher Weise durch praecones, Liv. I 59, 7. IV 32, 1 (per vicos dimissi). Dionys. IV 37. 76. V 57. Fest. p. 38; zu den im Feldlager sich versammelnden erscholl das classicum, Liv. VII 36, 9. VIII 7, 14. 32, 1. Tac. ann. II 32. Hinsichtlich der Zeit sind unsere Nachrichten zwiespältig. Mommsen St.-R. I 199 hält es für wahrscheinlich, dass an den im Kalender als für Comitien verbotenen Tagen auch C. nicht stattfinden durften, unter Berufung auf Macrob. sat. I 16, 22: Iulius Caesar XVI auspiciorum libro negat nundinis contionem advocari posse, id est cum populo agi, ideoque nundinis Romanorum haberi comitia non posse (vgl. Cic. ad Att. IV 3, 4); doch finden sich C. an den Nundinen (Cic. ad Att. I 14, 1, vgl. Lex col. Genet. c. 81) und dies nefasti, Cic. ad Q. fr. II 3, 1. 2. Ascon. p. 41. Cic. ad Att. IV 1, 5. 6. Karlowa I 380. Dass die C. wie die Comitien (s. d.) nur möglich war, solange die Sonne am Himmel stand, bezeugt Liv. XXXIX 17, 4. 5. Plut. Aem. 30. Declam. in Catil. 19. Der Ort der Versammlung stand völlig im Belieben des berufenden Magistrats, deshalb werden ganz verschiedene Localitäten genannt, Forum, area Capitolina (Liv. XXXIV 1, 4), am Circus Flaminius, Liv. XXVII 21, 1. Cic. ad Att. I 14, 1; Sest. 33. Früher stand der Magistrat am Vulcanal (Dion. II 50. VI 67. XI 39), später auf den Rostra oder auf der Treppe des Castortempels. Dass übrigens C. nicht den Ort der Versammlung bedeutet, trotz Gellius, bemerkt Lange, wohl aber steht contio für die Rede selbst (Ciceros zweite und dritte catilinarische), Gell. XVIII 7, 6. 7. Cic. in Vat. 3; ad Att. XIV 11, 1. 20, 3. XV 2, 3; ad fam. IX 14, 7. X 33, 2. Liv. XXIV 22, 1 u. o. Teilnehmer durfte jeder Bürger sein, doch war eine Verpflichtung zum Erscheinen nicht geboten. Da der fehlenden Gliederung halber jede Controlle fehlte, konnten leicht sich auch Nichtbürger einmischen, und später hatten die schlechten und unwissenden Elemente oft genug das Übergewicht, Cic. pro Sest. 104. 105. 106. 127; pro Flacco 17; ad Att. I 16, 11. XIV 20, 2; pro Cluentio 110. Bei den C., welchen Comitien folgten, mussten die zur Abstimmung nicht Berechtigten entfernt werden, soweit das möglich war (contionem summoveri), Liv. II 56, 10: occupabant tribuni templum .. consules nobilitasque ad impediendam legem in contione consistunt. submoveri Laetorius iubet praeterquam qui suffragium ineant. III 11, 4. XXV 3, 15. Cic. pro Flacco 15. Ascon. in Corn. p. 70: adstat populus confusus ut semper alias, ita et in contione. Mommsen St.-R. III 390. [1152]

Bezüglich der äusseren Formen ist weiter zu erwähnen, dass der leitende Magistrat sitzt, die Teilnehmer der C. stehen und zuzuhören haben, vgl. auch die Bemerkung Mommsens St.-R. III 396, 3. Der Auspicien bedurften die gewöhnlichen C. nicht, doch war es üblich, dass der Vorsitzende Magistrat ein Gebet sprach, Liv. XXXIX 15, 1: contione advocata cum sollemne carmen precationis, quod praefari priusquam populum adloquantur solent magistratus, peregisset, consul ita coepit. Serv. Aen. XI 301. Auct. ad Her. IV 68: cum Gracchus deos inciperet precari. Gell. XIII 23, 1. Darauf eröffnete der Vorsitzende seine Mitteilungen dem Volke (Lange II 480), die beifällig oder auch mit Zeichen des Missbehagens aufgenommen wurden, Liv. X 19, 10. XXVII 51, 6. XXX 17, 5. XLV 2, 6. Dionys. IV 84. Sallust. Iug. 34. Cic. in Verr. I 45; ad Q. fr. II 3, 2. Wie tumultuarisch es zugehen konnte, zeigt Liv. XXXIV 1–7, vgl. Mommsen St.-R. III 1178. Sprechen darf ausserdem in der C. aus dem coetus populi adsistentis (Gell. XVIII 7, 8) nur, wem der Magistrat es, wohl unter Bemessung der Redezeit, gestattet (Liv. XLV 40, 9. XLII 34, 1. Dionys. V 11. Ascon. p. 34), wie z. B. dem Cicero das Wort gewährt ward (contionem dare, ad Att. IV 1, 6. 2, 3; verweigert ebd. II 24, 3; in contionem producere, Cic. ad Att. I 14, 1. XIV 20, 5; pro Sest. 132; in Vatin. 24. Liv. X 26, 1. Lange II 720. Mommsen St.-R. I 201). Solche Privatpersonen müssen ex inferiore loco reden (Cic. ad Att. II 24, 3. Liv. VIII 32, 2. 33, 9), doch konnten ihnen auch die Rostra eingeräumt werden, um den Worten mehr Gewicht zu verschaffen; Liv. X 26. Cic. ad Att. I 14, 1. II 24, 3. XIV 20, 5; pro Sest. 33. 107; in Vatin. 24. Cass. Dio XXXVIII 4. Damit war doch die Möglichkeit einer Discussion (suasio, dissuasio, Quint. II 4, 33: Romanis pro contione suadere ac dissuadere moris fuit) über Gesetzesanträge (Ciceros zweite und dritte Rede de lege agraria) und Candidatenfragen gegeben, Herzog I 1181. Die Entlassung der C. (dimittere c. Cic. ad Att. II 24, 3) erfolgte durch den leitenden Magistrat (discedite).

Die Veranlassungen zur Einberufung von C. waren naturgemäss ausserordentlich verschiedenfache. Einige wichtigere nur noch seien erwähnt. Gewöhnlich danken die Consuln beim Amtsantritte in C. dem Volke für die Wahl (Cic. de leg. agr. II 1), legen ebenda ihr Amt unter Eidesleistung nieder, Lange I 721; ferner fanden C. stets statt vor oder nach Triumphen, um den Bericht des siegreichen Feldherrn entgegenzunehmen (Liv. XLV 41. Vell. I 10, 4. Appian. Mac. 19. Dionys. VIII 70), besonders feierliche vor dem Census (Formel der Berufung bei Varro l. l. VI 86) vor der villa publica der Censoren (Liv. IV 22, 7. XLIII 14, 5), wobei dieselben die Gesichtspunkte darlegten, nach denen sie ihre Geschäfte vornehmen wollten (genauer Lange I 801. Herzog I 766); weiter, um dem Volke Edicte der Magistrate bekannt zu geben und überhaupt Mitteilungen zu machen, so im J. 568 = 186, um die nach Entdeckung der Bacchanalia entstandene Erregung der Bürger zu beschwichtigen (Cicero verzichtete in einer C. auf seine Provinz, ad fam. V 2, 3; vgl. die von Livius XLI 15 erzählten Vorgänge), besonders um die Massen [1153] über Vorgänge auf dem Kriegsschauplatze aufzuklären (Liv. X 45. XXII 7, 8. XLV 1. Polyb. III 85, 7. 8), weiter zur Empfehlung und Bekämpfung von Candidaten, von Gesetzentwürfen, deren Inhalt mitgeteilt wurde (die Erwähnungen solcher C. in ältester Zeit wie Liv. II 41. III 34, 1. Dionys. X 3 sind nicht gesichert), Cic. ad Att. I 11, 4. 14, 5; de leg. agr. III 1. 2. 16; zur Beratung über bevorstehende Gerichtsversammlungen – über diese drei C. Lange II 721 und im Art. Comitia. Karlowa I 381.

Mehr und mehr, besonders seit der gracchischen Zeit, wurden die C. von demagogischer Seite, von den domini contionum (Cic. pro Sest. 127), benützt, das Volk Sonderinteressen dienstbar zu machen, Cicero nennt sie turbulentae, temerariae, furiosissimae, ad Att. IV 3, 4, und spricht von den Teilnehmern als contionalis hirudo aerarii, misera ac ieiuna plebecula, ad Att I 16, 11. Lange II 723.

Die vom Feldherrn einberufene C. hatte zumeist den Zweck, Auszeichnungen öffentlich bekannt zu geben, Liv. II 59, 4. VII 26, 10. 36, 9. 37, 1. XXIV 47. XL 32, 8; nähere Nachweise giebt Madvig II 534.

Noch in der Kaiserzeit sind C. gehalten, gewiss nur nach Genehmigung des Herrschers, der selbst dem Volke Kundgebungen in dieser Form zuweilen zugehen liess, Tac. hist. I 90. Hist. Aug. Sev. Alex. 3, 4. 25, 11.

Litteratur. Lange Altert. I 398. 561. II 450. 480. 521. 715ff. Soltau Altröm. Volksvers. 37ff. Mommsen St.-R. I 191. 197ff. III 390. Herzog System I 634ff. 1057ff. 1181. 1183. 1187. II 911. Karlowa Rechtsgesch. I 48. 379. Humbert bei Daremberg-Saglio Dict. I 1485.