Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Att. Redner aus Rhamnus im 5. Jh. v. Chr.
Band I,2 (1894) S. 2527 (IA)–2529 (IA)
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14) Aus Rhamnus. a) Leben: A. war zur Zeit der Perserkriege geboren. Das Jahr seiner Geburt lässt sich nicht genau angeben. Nur so viel steht fest, dass er etwas jünger war als Gorgias. Sein Vater war der Sophist Sophilos, bei welchem er auch seine Vorbildung für die Beredsamkeit empfangen haben soll (Ps.-Plut. vit. X or. 832). Er war ein Mann, der an Tüchtigkeit keinem Zeitgenossen nachstand, von grosser Kraft des Geistes und bedeutender Rednergabe. An den politischen Bestrebungen seiner Zeit nahm er den lebhaftesten Anteil, doch so, dass er sich für seine Person zurückhielt, andere dagegen mit seinem Rate unterstützte (Thuk. VIII 68); daher sind die Nachrichten über ihn auf diesem Gebiete, namentlich die des Plutarch und Philostratos, wegen häufiger Namenverwechslungen mit der grössten Behutsamkeit aufzunehmen. Bestimmt tritt er Ol. 92, 2 (411 v. Chr.) als einer der eifrigsten Oligarchen hervor, ja er wird von Thukydides für den Urheber des ganzen Anschlages gegen die Demokratie angesehen (vgl. auch Arist. resp. Ath. 32). Als die Vierhundert kurz nach ihrer Einsetzung infolge des Widerstandes des samischen Heeres in zwei Parteien zerfielen, eine gemässigtere und eine strengere Richtung, stand er mit anderen an der Spitze der letzteren. Aus Abneigung gegen die Demokratie, deren Wiedereinführung er fürchtete, ging er so weit, dass er mit Phrynichos jene Gesandtschaft nach Sparta führte, welche um jeden Preis den Frieden vermitteln sollte, wenn nur die Oligarchie aufrecht erhalten würde; dafür aber des Verrates angeklagt, wurde er trotz einer ausgezeichneten Verteidigungsrede zum Tode verurteilt und hingerichtet (Thuk. VIII 68. 90. Anklagebeschluss und Urteil bei Ps.-Plut. 833; vgl. im allgemeinen Blass Att. Ber. I² 93. Hoppe Antiphonteorum spec. Hal. 1874).

b) Schriften: Das Altertum besass ausser einer τέχνη ῥητορικὴ in mindestens 3 Büchern, die freilich schon bei Poll. VIII 143 angezweifelt wird, προοίμια καὶ ἐπίλογοι und 60 Reden, aber schon Caecilius verwarf von diesen 25. Auf uns sind 15 Reden gekommen, alle zu den φονικοί gehörig, von denen 12 in drei Tetralogien zusammengefasst sind. Über die Echtheit derselben ist seit Jonsius (hist. phil. IV 244 Dorn), der sie alle für schülerhafte Declamationen ansah (ebenso Schlosser Univers. Übers. I 261) und Ruhnken (Reiske or. gr. VII 821), der sie alle für echt hielt, viel gestritten worden; jetzt gelten V und VI allgemein als echt, bezüglich der Reden I–IV schwankt das Urteil noch. I. Κατὰ τῆς μητρυιᾶς, Anklage wegen βούλευσις d. i. intellectueller Urheberschaft eines Giftmords, unbestimmbarer Zeit (wahrscheinlich jedoch älter als V und VI). Die Rede steht tiefer als die letztgenannten, die Erzählung ist zwar nicht ungeschickt, aber die anschliessende Behandlung ist arm an Gedanken und ergeht sich in häufigen Wiederholungen. Sie ist keine Übungsrede (Meier De bon. damn. 20. Maetzner 125, dagegen mit Recht Ottsen De rerum inventione et dispositione quae est in Lysia atque A., Flensb. 1847), und selbst die von Schmitt De or. in noverc. quae A. fertur, Fulda 1853, und Pahle Die Reden des A., Jever 1860, gegen die Echtheit vorgebrachten Gründe genügen nicht zu ihrer Verwerfung (vgl. Hoppe Antiphonteorum [2528] spec., Hal. 1874. Wiedenhöfer A. esse or. I, Wien 1884. v. Wilamowitz Herm. XXII 194ff. B. Keil Jahrb. f. Philol. CXXXV 89ff. Weise Die 1. Rede des A., Stettin 1890). II–IV. Die Tetralogien, behandeln erdichtete Fälle, und zwar, II einen nächtlichen Mord, bei dem ein Sklave den Thäter erkannt haben soll, III unvorsätzliche Tötung beim Speerwerfen, IV Körperverletzung mit tötlichem Erfolge anlässlich einer Schlägerei. Bei einer jeden gehören zwei Reden der Anklage und zwei dem Angeklagten. Sie verschmähen die Erzählung, legen vielmehr das Hauptgewicht auf spitzfindige Beweisführung, die in knapper Form und gesuchter Sprache gegeben wird, sie sind augenscheinlich als Musterbeispiele solcher Beweisführung abgefasst. So erklären sich die Verschiedenheiten von den wirklichen Reden, die zwar nicht unbedeutend sind, aber schwerlich ein verwerfendes Urteil rechtfertigen können (Both De A. Rhamnusii tetralogiis, Oldenb. 1876. Blass Att. Ber. I² 149. Kohm Beitrag zur Frage über die Echtheit der Tetralogien des Redners A. 1. Arnau 1885, 2. 1886. Brandenburger De A. Rhamnusii tetralogiis, Schneidemühl 1888. v. Wilamowitz Ind. Schol. Gott. 1889/90, dagegen Pahle a. a. O. Grünwaldt De A. quae feruntur tetralogiis, Dorpat 1873. Herwerden Mnem. N.S. IX 203. Brückner De tetral. A. Rhamnusio adscriptis, Bautzen 1887, welcher die sprachlichen Abweichungen am besten erörtert). V. Περὶ τοῦ Ἡρώδου φόνου, Verteidigung eines Mytilenaeers (Euxitheos nach Meuss De ἀπαγωγῆς actione, Bresl. 1884, 27) um 416. Sie ist ein schönes Beispiel attischer Beredsamkeit und wurde schon von den Alten besonders gepriesen. Die Verteidigung ist mit Schärfe und Umsicht geführt, die Darstellung einfach, der Stil zeigt überall einen klaren, etwas altertümelnden Ausdruck, der Periodenbau stellt uns ein Muster der in jener Zeit herrschenden λέξις ἀντικειμένη dar. Ähnlich verhält es sich mit der Rede VI περὶ τοῦ χορευτοῦ, in welcher ein Chorege verteidigt wird, in dessen Chor ein Knabe an den Folgen eines Trankes gestorben ist (412 nach Schoell Comm. in hon. Mommseni 455; vgl. Brinkmann De A. or. de choreuta, Jen. 1888). Sie wird neuerdings angezweifelt nur von A. Wagener Étude sur l’authenticité du discours d’A. π. τ. χ., Gand 1876. Vgl. im allgemeinen Blass Att. Ber. I² 149.

c) Rednerische Eigentümlichkeiten. A. hat bei den späteren Rhetoren wenig Beachtung gefunden, weil seine Reden nicht mehr als Muster verwandt werden konnten. Doch lesen wir ein anerkennendes Urteil bei Dionys. Hal. de Thuc. 53. Er muss durchaus vom historischen Standpunkt betrachtet werden, weil er noch stark unter dem Einfluss der Sophistik steht. Einfach in der Anordnung, in der Beweisführung scharfsinnig bis zur Spitzfindigkeit, liebt er eine würdige ernste Sprache, die um so häufiger auf dichterisches Sprachgut übergreift, je weniger entwickelt die Prosa noch war. Der Satzbau ist im ganzen einfach, nur stark beeinflusst durch das Bestreben, den Gedanken durch Anreihung ähnlich gebauter Gegensätze in klares Licht zu stellen. Im ganzen sind seine Reden unschätzbare Denkmäler für unsere Kenntnis der Entwicklung der Beredsamkeit. [2529] Vgl. O. Müller Gesch. d. gr. L. II² 329f. Blass a. a. O. I² 116.

d) Überlieferung und Litteratur.

  • 1. Handschriften. Erhalten sind des A. Reden in zwei selbständigen Hss., dem Crippsianus A des britischen Museums (s. oben S. 2128) und dem Oxoniensis N des 14. Jhdts., welcher ausserdem den Deinarchos und einen Teil des Lykurgos enthält. Beide sind Abschriften desselben Archetypos und etwa gleichwertig (vgl. über den alten Streit die Vorreden der Ausgaben von Blass und Jernstedt. Graffunder De Crippsiano et Oxoniensi etc., Berl. 1882. Thalheim De Dinarchi codicibus, 1886. Bienwald De Crippsiano et Oxoniensi etc., Görlitz 1889).
  • 2. Ausgaben von Aldus, Ven. 1513. H. Stephanus 1575. J. J. Reiske Or. graec. VII 603. J. Bekker Or. att. Ox. 1822 I 1. Dobson Greek or. Lond. 1829. Maetzner Berl. 1838. Baiter und Sauppe Or. att. Tur. 1839. Müller Or. att. Paris 1847. Blass Lips. 1871 und 1881. V. Jernstedt Petersb. 1880. Herwerden Utr. 1883.
  • 3. Erläuterungsschriften. Sauppe Ind. Schol. Gott. 1861 und 1886. Kayser Rh. Mus. XII 224. XVI 72. Spengel ebd. XVII 161. Hirschig Philol. IX 728. Briegleb Z. Kritik des A., Anklam 1861. Pahle A. or. critica ratione perlustravit, Jever 1874. Kohm Z. f. öst. Gymn. XXXV 81; Wien. Stud. VIII 37. Hartman Studia Ant., Lugd. 1882. Ottsen De A. verborum formarumque specie, Rendsb. 1855. Belling De periodorum A. symmetria, Bresl. 1868. Both De Ant. et Thuc. genere dicendi, Marb. 1875. H. Schaefer De nonnullarum particularum usu, Götting. 1877. Ignatius De A. Rhamnusii elocutione, Berl. 1882. Goelkel Beitr. zur Syntax des Verbs bei A., Passau 1883. Herwerden Mnem. IX 243. XI 225. Pollack De enunt. interrogat. apud A. et Andocidem, Hal. 1886. Kalinka De usu coniunctionum quarundam etc. in Diss. phil. Vindob. II 145. Cucuel Sur la langue et le style de l’or. A., Paris 1887. Schierlinger D. unterordnende Satzverbind. b. A., Schweinfurt 1889.

Nachträge und Berichtigungen

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Band S I (1903) S. 93 (EL)–94 (EL)
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S. 2528, 4 zum Art. Antiphon Nr. 14:

Gegen die Echtheit der Tetralogien hat Dittenberger Herm. XXXI 271. XXXII 1 die mangelnde Übereinstimmung der Rechtsanschauungen mit dem attischen Rechte (früher schon Hausen De Ant. tetralogiis, Berlin 1892, 14) und ionisch anklingende Spracherscheinungen geltend [94] gemacht; sie seien während des peloponnesischen Krieges in Athen von einem aus dem ionisch redenden Osten stammenden Manne verfasst; und Szanto Arch.-epigr. Mitt. XIX 76 meint, sie beabsichtigten eine Neuordnung der δίκαι φονικαί nach den Grundsätzen einer subtilen Rechtsphilosophie vorzuschlagen. Doch sind Widersprüche gegen das attische Recht nicht einleuchtend nachgewiesen und die sprachlichen Abweichungen nicht so erheblich, dass sie nicht durch Verschiedenheit in Zweck und Zeit der Abfassung erklärt würden. Vgl. Blass Att. Ber. III² 2, 363. Die Zeit der VI. Rede wird von B. Keil Herm. XXIX 32 auf 425 angesetzt. Diese Rede behandelt v. Wilamowitz S.-Ber. Akad. Berl. 1900, 398 als politische Broschüre. § 1–6 werden als ein zu Unrecht vorangestelltes Prooimion ausgeschieden. Index Antiphonteus von van Cleef Ithaca-New York 1895.

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S. 2527, 4 zum Art. Antiphon Nr. 14:

Aus der berühmten Verteidigungsrede A.s (Thuk. VIII 68) περὶ τῆς μεταστάσεως haben sich Bruchstücke (darunter ein erheblicheres) auf einem Papyrus des 2. oder 3. Jhdts. n. Chr. gefunden und sind von J. Nicole L’apologie d’Antiphon 1907 herausgegeben worden. Es hat den Anschein, als ob A. darin seine oligarchischen Bestrebungen gänzlich in Abrede stellte (v. Wilamowitz DLZ 1907, 2521). Aber das ist doch im Hinblick auf das Lob, das Thukydides dieser Rede zollt, nicht wohl möglich. Und die Worte lassen sich immerhin so deuten, daß der Redner nur jedes persönliche Interesse an der Oligarchie von der Hand weist, für die er demnach nur eingetreten sei, weil er in ihr das Heil der Stadt erblickt habe. Vgl. Crönert Lit. Zentr. 1907, 1503. Pohlenz Gött. gel. Anz. 1908, 183. Jander Orat. nova fragmenta 1913.

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14) Att. Redner im 5. Jh. v. Chr. (L) S I. (L) S III; vgl. A. Nr. 15 (I 2529. S IV 33).