Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Einsammler, ein im Lande umherziehender Bettler und Wahrsager
Band I,1 (1893) S. 915 (IA)–917 (IA)
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2) Ἀγυρτής (von ἀγείρειν Hesych. Suid.), der Einsammler, ein im Lande umherziehender Bettler, der für irgend einen angegebenen Zweck Gaben sammelt. Besondere Anwendung findet die Bezeichnung auf herumziehende Wahrsager und Bettelpriester, die den Abergläubischen ihr Schicksal weissagten, Reinigungen und Weihungen (τελεταί) mit ihnen vornahmen und sie auf diese Weise der Gunst der Gottheit zu versichern versprachen. Auch gaben sie vor, durch Verwünschungen und Zaubermittel den Feind ihres Wohlthäters schädigen oder vernichten zu können, und auf bequeme Weise durch Gebete und Sühnopfer, ja durch lustige Festlichkeiten ihnen für die eigenen und für die überkommenen Verschuldungen der Vorfahren Verzeihung von den Göttern zu erwirken. Plat. Rep. II 364 B, vgl. Leg. X 908. Ruhnken ad Tim. p. 10. Lobeck Agl. 253. An Spott und Widerwillen der Aufgeklärten fehlte es nicht (s. z. B. Hippokr. de morbo sacr. I p. 301 = p. 14 F. Diez), trotzdem scheinen sie nicht blos bei den Ungebildeten Gehör gefunden zu haben und wussten sich Zuspruch und Kundschaft zu erwerben, nicht weniger als die [916] Ablasskrämer zwei Jahrtausende später. Auf Prophezeiungen in Ekstase, wie wir sie bei den apollinischen Orakeln finden, Eingeweideschau und andere Zeichendeutung scheinen sie sich nicht eingelassen zu haben, aber sie führten angebliche Orakel mit sich, die entweder auf Zettel geschrieben in einer Urne lagen und dann von dem Fragenden selbst oder in seinem Auftrag von einem Knaben gleich einem Lose herausgegriffen wurden (Tibull. I 3, 11. Hor. Sat. I 9, 30), oder auch auf einer Tafel (ἀγυρτικὸς πίναξ, ἀγυρτικὴ σανίς) aufgezeichnet waren; durch Würfel oder ähnliche Hülfsmittel wurde dann der zutreffende Vers ermittelt. Aug. Conf. IV 3; vgl. auch Paus. VII 25, 6. Schol. Pind. Pyth. IV 337. Kaibel Epigr. gr. 1038ff. und Herm. X 193ff. XXIII 532ff. B. Keil ebenda XXV 313. Die erste Art war namentlich in Italien, die zweite in Asien üblich. Für das an Orakeln überreiche Griechenland kommt mehr die andere Seite ihrer Thätigkeit in Betracht: das Lustrieren und Weihen von Personen, die sich der Sühne bedürftig glaubten oder sich der Gnade der Gottheit besonders versichern wollten. Grossen Umfang kann ihr Treiben erst gewonnen haben, als ausländische Kulte immer zahlreicher in Griechenland eindrangen. Als eine Ausnahme wird es bezeichnet, dass Abaris im Dienste des Apollon seine Sammlungen – denn darauf lief es stets hinaus – angestellt habe. Iamblich. Vit. Pythag. 19. Suidas s. ἀγείρειν berichtet von Collecten für Isis, in Delos sammelten Frauen für Opis, Arge oder Hekaerge, indem sie dabei ein Bettellied sangen, das Olen gedichtet haben sollte, doch ward auch auf anderen Inseln und in Ionien unter Absingen desselben Liedes von Männern gesammelt. Herod. IV 35; vgl. Aesch. Ag. 1273. Soph. Oid. tyr. 588. Plut. de superstit. 3. 5. 12; Apophthegm. Lac. 54. Luk. de merc. cond. 27. Artemid. Oneir. III 4. II 37. Zosim. I 11. Agathias IV 8. Am berüchtigtsten waren die sogenannten Metragyrten oder Menagyrten, die im Dienste der grossen Göttermutter Kybele stehen wollten. Aristot. Rhet. III 2. Athen. VI 222 D. XII 541 E. Luk. Asin. 35. Apul. Met. VIII 24. Vgl. Meineke Menandr. p. 111. Lobeck Agl. 645. Foucart Des associations relig. Paris 1873, 158ff. 70ff. Bull. hell. VI 32 Z. 189. Das Treiben dieser Bettelpriester war dem der sogenannten Orpheotelesten nicht unähnlich, weshalb sie denn auch mit diesen zusammengeworfen wurden. Theophr. Char. 16; vgl. Demosth. XVIII 259. Diog. Laert. VI 4. Doch beschränkten sie sich nicht wie diese auf Weihungen und Reinigungen, sondern trieben allerlei Zauberei. Sie citierten Tote, behaupteten im stande zu sein, den Mond herabzuholen, die Sonne zu verfinstern und den Himmel aufzuheitern. Hippokr. a. a. O. Plut. de superst. 3. Philo Leg. spec. II p. 792. Durch phantastische Aufzüge suchten sie Aufsehen zu erregen. Unter den Klängen des Tympanon und des Aulos zogen sie in Gesellschaften mit dem Bilde ihres Gottes durch das Land, oft folgten ihnen gezähmte oder abgerichtete wilde Tiere, die mitunter auch das Götterbild trugen (Aug. civ. dei VII 24. Anth. Pal. VI 28. 217ff.), während sie unter dem Lärm der Musikinstrumente Tänze aufführten [917] (Plat. Euthyd. 227. Orig. c. Cels. I p. 8; vgl. Forchhammer Arch. Ztg. 1857, 9ff.), und sich in wirklicher oder erkünstelter Ekstase verwundeten oder jene scheusslichen Verstümmelungen vornahmen, die uns Manetho (VI 297) beschreibt. In Italien trat man ihren Ausschweifungen energischer entgegen. Sie durften nur an bestimmten Tagen sammeln, waren einer strengen Aufsicht unterworfen, und kein Römer beteiligte sich an ihren Aufzügen. Cic. de leg. II 16. Dion. Hal. II 19. Eine bildliche Darstellung tanzender Agyrten s. bei Daremberg et Saglio Dict. I 170. Vgl. O. Jahn Abh. der bayr. Akad. 1856, 264. Über die Agyrten überhaupt s. noch Schoemann Griech. Altert³ II 373ff.

Ἀγυρταί wurden auch die Sieger in öffentlichen Spielen genannt, die es nicht verschmähten, nach ihrem Siege bei den Zuschauern herumzugehen und Geschenke einzusammeln. Ruhnken ad Tim. p. 215ff.