Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am 3. Advent 1834

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Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am heiligen Weihnachtsfeste 1831 »
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Am 3. Advent.
(Nürnberg 1834.)


Matth. 11, 2–10. Da aber Johannes im Gefängnis die Werke Christi hörete, sandte er seiner Jünger zween, und ließ Ihm sagen: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten? JEsus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet hin, und saget Johanni wieder, was ihr sehet und höret; die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, und die Tauben hören, die Toten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium gepredigt. Und selig ist, der sich nicht an mir ärgert. Da die hingingen, fing JEsus an zu reden zu dem Volk von Johanne: Was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Wolltet ihr ein Rohr sehen, das der Wind hin und her wehet? Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Menschen in weichen Kleidern sehen? Siehe, die da weiche Kleider tragen, sind in der Könige Häusern. Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Propheten sehen? Ja, ich sage euch, der auch mehr ist, denn ein Prophet. Denn dieser ist’s, von dem geschrieben stehet: Siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll.
 Am dritten Sonntag des Advents predigen wir von JEsu Christo, als Licht der Welt, oder von der Welt Erleuchtung durch JEsum Christum. Um Ihn als Licht der Welt der Gemeinde vor Augen zu stellen, wählten die Väter den vorgelesenen Text, in welchem außer von Ihm, dem HErrn, besonders auch von dem Täufer Johannes die Rede ist. Gewiß eine gute Wahl! Wie nämlich Johannes in seinem Leben und mit seiner Wirksamkeit ein Vorläufer JEsu war – so kommen heute und über acht Tage zwei Texte aus der Geschichte des Täufers als Vorläufer des Weihnachtsfestes.| Mögen diese Texte auch Stimmen des Predigers in der Wüste, voll Kraft aus der Höhe sein und wie der Täufer bei seinen Lebenszeiten Seelen zu JEsu Christo führen! Amen.




 In unserm Texte kommt alles auf Beantwortung der Frage an:

Bist Du, der da kommen soll?
 1. Es fragt sich vor allem: wer sollte denn kommen? – Antwort: „Der, welcher kommen soll“ oder „Der, der da kommt“ sind in jener Zeit gewöhnlich vorkommende Namen des Messias gewesen, wie wir ja schon am ersten Advent gehört haben, daß das Volk Christus entgegensang: „Gelobt sei, der da kommt.“ Auf den Messias also wartete man, der sollte kommen. – Was freilich der Messias in der Welt ausrichten sollte, davon verstanden die Wenigsten in den Tagen JEsu etwas. Von Ihm, welcher lehrte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!“ – der selbst, da ER vor dem ungerechtesten aller Richter, vor Pilatus, stand, diesem eine von oben herab gegebene Gewalt zugestand, – der durch Seine Apostel lehrt: „Seid unterthan aller Obrigkeit, die Gewalt hat. Denn alle Obrigkeit, die Gewalt hat, ist von Gott verordnet“ – von Ihm erwarteten die Juden, daß ER einen Aufruhr anrichten, die Römer aus dem Lande treiben, einen großen jüdischen Staat, eine Weltmonarchie, anrichten, kurz, die Juden auf den Gipfel irdischen Glücks erheben sollte. – Aber darin irrten sie ganz. ER sollte freilich ein König sein, aber Sein Königreich sollte nicht von dieser Welt sein. Ein König der Wahrheit sollte ER sein, dem alle Völker zufielen wegen Seiner himmlischen Klarheit. Alle Könige und Königreiche der Erde sollten in ihren Würden bleiben – aber in allen ihren Würden Ihn verehren und anbeten. Eine Sonne sollte ER sein, der Aufgang aus der Höhe, das Licht der Welt, – unter Seinen Lichtstrahlen oder Flügeln sollte allen Völkern Heil und Leben aufgehen. Also eine Sonne der Gerechtigkeit für alle finstern, ungerechten Lande des Erdkreises – das sollte sein, der da kam, Licht und Erleuchtung, Leben und Lebengeber! Sein sollten sich auch die Albernen freuen, die| in der Welt nichts geachtet sind: ER sollte die Albernen weise machen.

 2. Das sollte sein, der da kommen sollte – und nun sandte Johannes von seinem Gefängnis zu JEsu und ließ Ihn fragen: „Bist Du’s? Bist Du, der da kommen soll, oder bist Du’s nicht?“

 Wie kommt nun der Täufer zu dieser Frage? Was ihm längst göttliche Gewißheit gewesen war, das bezweifelt er nun, darüber wirft er erst wieder Fragen auf – und im Kerker zu Machärus, wo man hätte denken sollen, sein einziger Trost sei der gewesen, daß JEsus sei der Christ und er der Vorläufer Christi? – Als Johannes noch im Mutterleibe war und seines Heilands Mutter zu seiner Mutter kam, ward er schon des heiligen Geistes voll und hüpfte im Leibe seiner Mutter. Als er größer war, begegnete ihm in der Wüste der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und offenbarte ihm die Zukunft des Messias: „Über welchen du wirst sehen den Geist herabfahren, wie eine Taube, der ist’s!“ Da er JEsum taufte im Jordan, that sich der Himmel auf über der Stätte, er sah den heiligen Geist auf JEsum herabfahren, wie eine Taube und auf Ihm bleiben, – er hörte den himmlischen Vater vom Himmel predigen: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Er wurde so voll Glaubens und heiligen Geistes, daß er JEsum nicht konnte gehen sehen, ohne auszurufen: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ – Und er, der Begnadigte Gottes, Johannes, der Ihn taufte, sendet wieder zu Ihm und läßt Ihn fragen: „Bist Du’s denn, oder bist Du’s nicht?“ – Wie kommt das? – Es ist so wunderlich, daß viele es von Johannes gar nicht glauben konnten und allerlei Erklärungen versuchten, um nicht zuzugestehen: Johannes zweifelte!

 Man sagt in der Regel: er habe bloß seine Jünger mit der Frage zu JEsu geschickt, um ihnen Gewißheit zu verschaffen. Aber diese Jünger trauten auf niemand mehr, als auf ihren Lehrer Johannes, er selbst hätte sie am besten unterrichten können. – Wer einfach liest und jedes Wort der heiligen Schrift gläubig aufnimmt, der wird nicht ausweichen| können, wird sagen können: Johannes zweifelte. Ja, er zweifelte. Wohl hat er große Dinge erfahren in seinem Prophetenamte, aber im Gefängnis zu Machärus war sein Prophetenamt zu Ende. Die Einsamkeit des Gefängnisses konnte für ihn, der in der Wüste frei umher zu gehen gewohnt war, für sein ohnehin melancholisches Gemüt eine große Versuchung werden. Ja, eben weil er ein großer Prophet war, mußte er starken Anfechtungen ausgesetzt sein, auf daß er erprobt würde. Der Satan wird auch keine Mühe gespart haben, eine solche Säule umzuwerfen; er konnte ihm eingeben: die Gesichte, welche du gesehen hast, waren Einbildungen – das Wunder am Jordan war ein Traum – du bist betrogen, Johannes! Du siehst ja, dieser JEsus will kein Licht der Welt, kein Gotteslamm, keine Sonne der Gerechtigkeit werden, – seine Wirksamkeit ist klein, er lehrt und heilt Kranke, das ist alles. Johannes hätte JEsum gerne schneller zum Ziele eilen sehen, er brannte vor Verlangen, das Reich Gottes im Sonnenschein seiner Herrlichkeit zu sehen – und für ihn war jeder Tag Verzug. Er geriet in Zweifelskämpfe, es hieß in ihm: Ist ER’s oder nicht? Dennoch ist und bleibt er eine große Seele: mitten in seinen Zweifeln blieb es ihm sonnenklar, daß JEsus ein unbetrüglicher und heiliger Mann war. Wie er sich einst vor den Pharisäern bekannt und nicht geleugnet, wie er gesagt hatte: „Ich bin nicht Christus,“ so traute er es auch JEsu zu, daß ER, was ER sei, bekennen würde, – er wollte seine Ruhe bei Ihm selbst holen; nicht zu Seinen Feinden sandte er, sondern zu Ihm und ließ fragen: „Bist Du’s?“ Ein gewisses Zeichen, daß er Lust hatte, zu glauben.
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 Brüder! Wer, der im Christentum lebt, kennt solche Stunden nicht, wo einem alle göttliche Gewißheit verschwinden will vor dem hereinbrechenden finstern Geiste? Mancher hat große Gnadenstunden gehabt, in denen er gern sein Haupt zum Pfand gegeben hätte, daß Gott lebe und um ihn sei; er sah gleichsam den Himmel offen und freute sich Gottes, seines Heilandes, er war neugeboren und frisch, wie ein Tautropfen im Morgenrot. Er konnte beten, und im Gebete war es,| als stände ihm Gott leibhaftig gegenüber und antworte ihm auf alle seine Fragen, wie ein Mann mit seinem Freunde redet. Nach solchen Gebeten steht der Mensch auf von seinen Knieen, wischt sich die Thränen aus den Augen, spricht: „Ich glaube, ich glaube. Ich habe ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen.“ – Aber ach! oft kam eine solche Stunde vorher, weil Gott Sein Kind stärken wollte auf eine Stunde der Angst, welche gleich nachfolgen sollte. Zwischen dem brünstigen Gebete und der Anfechtung, ja, zwischen der Freude der Erhörung und der höchsten Seelenangst ist oft nur ein Stündlein. Wenn dann die böse Stunde kommt, dann fallen dem Menschen die Arme am Leibe herab vor Erstaunen über den Gott, der Seine Heiligen wunderlich führt. Da kommen einem Zweifel, ob man auch wahrhaftig bekehrt sei, ob die Freudenstunden, die Gebetsstunden, die erste Liebe zum HErrn, ob nicht überhaupt das Christentum, die Versöhnung, der HErr, Gott selbst – Traum und Faum sei. Der Geist der Lästerung erfüllt das arme Herz – und da es vor einer Stunde ein Tempel Gottes schien, ist’s auf einmal eine Mörderhöhle des Satans geworden. Eine unnennbare Angst ergreift uns. Da heißt es: O daß ich Flügel hätte, wie die Tauben, daß ich entflöhe und etwa bliebe! Ja, Flügel der Morgenröte wünscht man sich, um solcher Angst zu entrinnen, – das Wasser geht bis an die Seele, man meint, der Glaube sei nun in uns bereits gestorben und begraben. – Was thut man dann in solchen Nöten Johannis des Täufers? Was ist da zu raten? Antwort: Man macht es, wie der Täufer: man geht eben zu dem, an welchem man zweifelt – man ruft Ihn an und spricht: „Dich meine ich, JEsu, Du entflohene Sonne meiner Gerechtigkeit, Du Licht der Albernen, König der Wahrheit: – ich seh’ Dich nicht, fühl’ Dich nicht; – aus der Tiefe rufe ich, HErr, zu Dir: antworte mir, daß es meine Seele in ihrem innersten Grunde verstehe; bist Du’s denn? bist Du denn mein JEsus, mein Licht, meine Sonne? Siehe, mein Glaube stirbt: bist denn Du mein Licht? Bist Du, der da kommen soll, ein Licht und Trost Deines Volkes Israel?“
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|  Teure Seelen! Wer so ehrlich ist und Ihn selbst betend auf diese Weise fragt, dem wird zur rechten Stunde Antwort werden: er wird heimlich gestärkt werden, sein Leid zu tragen, bis ihm die Stunde der Freuden kommt. – So ging’s Johannes. Auf die Frage: „Bist Du, der da kommen soll? Bist Du die Sonne der Gerechtigkeit?“ erhielt er die Antwort: „Ja. Die Zeit ist erfüllt. Ich bin da!“

 3. JEsus ist der, der da kommen soll. ER ist die Sonne, denn die Sterne sind untergegangen.

 So lange die Sterne am Himmel stehen, ist keine Sonne da. So prächtig der Sternenhimmel ist, so ist er doch ängstlich für den, welcher aufs Licht harrt. Ein solcher fragt: „Hüter, ist die Nacht schier hin?“ und die Sterne trösten nicht. Wenn aber die Sterne untergegangen sind, dann ist die Sonne am Himmel sein.

 Wißt ihr, was ich mit dem Gleichnis meine? Die Sterne sind die Propheten, die Sonne ist JEsus. Wenn kein Prophet mehr redet, dann soll Christus gekommen sein, gleichwie die Sonne da sein soll, wenn die Sterne untergegangen sind. Schon geraume Zeit vor Christo waren alle Propheten verstummt, alle Sterne verschwunden, und es war eine Stille am Himmel. Endlich kam der Morgenstern, welcher vor der Sonne hergeht, Johannes, der letzte unter den Propheten. So lange der Morgenstern noch leuchtet, ist die Sonne noch nicht da, wenn gleich alle andern Sterne schon erbleicht wären. Wenn aber auch der verloschen und untergegangen ist im Tageslichte, dann muß die Sonne da sein. Da nun Johannes zu JEsu schickte mit der Frage: bist Du die Sonne, oder soll sie erst kommen? so war die Antwort: ja, ich muß die Sonne sein, gekommen muß wenigstens die Sonne sein, weil du, o Morgenstern, o letzter Prophet, untergangen bist in Machärus. – Ja, Johannes war der letzte Prophet, der unmittelbar vor dem HErrn herging; nun sein Prophetenlauf zu Ende ist und ihn Gott für den ehrenvollen Märtyrertod bereiten will im Gefängnis – muß Christus da sein.

 Ferner muß Christus gekommen sein, weil Johannes in unserm Texte nicht allein als ein abgetretener Prophet erscheint,| sondern ihm der HErr schon gleichsam eine Leichenrede und einen Nachruhm giebt. Denn was ist’s anders, wenn der HErr nach dem Weggang der Jünger Johannis sich zum Volke wendet und Johannes lobt, als der Nachruhm und die Leichenrede eines Dahingegangenen? Er war nicht das Licht, wohl aber zeugete er vom Lichte treu. Lasset uns Johannis Leichenrede aus Jesu Munde näher betrachten, auf daß wir desto gewisser sagen: Johannes ist begraben, so muß Christus leben. Jener mußte abnehmen, dieser mußte zunehmen! Das Lob, welches ihm erteilt wird, ist ein vierfaches – nämlich in Rücksicht auf das Volk, dem er predigte – in Rücksicht auf ihn selbst – in Rücksicht auf Gott – in Rücksicht auf Christum.

 a) Als Johannes in der Wüste taufte und sein Gerücht erscholl ins Land, ging alles Volk zu ihm hinaus. Da sie hinausgingen, begehrten sie einen solchen Prediger, der gewaltig predigte, ohne ihnen selbst weh zu thun; die Vornehmen gönnten den Niedrigen, diese den Vornehmen, jeder dem andern ein ernstes Wort, er aber – meinte jeder – sei untadelig. Da sie aber hinauskamen, siehe, da fragte Johannes nicht nach den Vornehmen und Geringen und den Wünschen derselben, er sah in ihnen lauter Sünder; er war wie Ein Mann wider alle, ein gerechter Prediger der Buße, dazu er berufen war. Er begehrte, daß sich alle in seine Predigt schicken sollten, denn sie war göttlich, und wollte sich selbst mit seiner Predigt zwar nach den Sünden und Bedrängnissen jedes Standes, aber nicht nach den Wünschen der Leute richten. Er war eine eherne Predigt, ein Fels des Wortes – und wich von seinem Berufe nicht rechts noch links, seine Zuhörer mochten schelten oder loben. Diesen seinen Lebenslauf überschaute Christus – freute sich innig und fing an zu predigen: „Was seid ihr hinausgegangen etc. Eure Wünsche können wohl solche bewegen, die das Eure suchen für sich, aber Johannes sucht felsenfest euch selbst, Euer Heil! Er ist kein Rohr.“

 Das war Johannis Lob aus JEsu Munde rücksichtlich seines Benehmens gegen das Volk.

|  b) Aber wie nun war Johannes gegen sich selbst? War er vielleicht ein scharfer Bußprediger, welcher sich selbst nicht wehe that? ein vornehmer Höfling, welcher alle andern von sich stieß? ein hochmütiger Weichling, wie es viele giebt, – die da schelten und strafen jedermann, da sie doch selbst verwerflich sind? – das nicht. Seine Predigt und er selbst paßten zusammen. Er war sich nie leise gewesen, hatte allezeit sein Fleisch gekreuzigt. Er war ein Mann der alten Zeit: sein Rock war rauh, sein Gürtel ungegerbtes Leder, sein Haus die Wüste, Heuschrecken und wilder Honig für seinen Hunger ihm gut genug. Untadelig in seinen Sitten, daß ihn auch seine Feinde achten mußten. Sein Leben half ihm zur Predigt. – Das sah JEsus Christus an ihm von seinem Auftritt in der Wüste bis zu seinem Abtreten nach Machärus, freute sich sein und rief: „Was seid ihr hinausgegangen“ etc.

 Dies war Johannis schöner Nachruhm aus JEsu Munde rücksichtlich seiner selbst.

 c) Warum aber war er so? War es seine eigne Wahl, daß er so gerade predigte und lebte? Ist nicht JEsu Art und Sitte viel schöner, welcher milde war gegen Sünder, wie das Evangelium, und gegen sich selbst voll Selbstverleugnung; während Johannes gegen sich und andere streng war? – Nein. Es war kein selbsterwählter Gottesdienst von Seiten Johannes. Er war ein rechter Prophet der alten Zeit, – ein Zeichen und Wunder seiner Tage. Er war hingestellt von Gott, daß an ihm alle Welt erkennen sollte, wie sie Buße thun müßte und das Himmelreich mit ernster Selbstverleugnung an sich reißen. So mußte er sein, so hatte ihn der HErr bereitet: Gott leitete ihn an Seiner Hand. Er war ein treuer Prophet Gottes. Er wollte nicht mehr sein, als sein HErr ihm bestimmte und ging mit heiliger Scham in dem ihm vergönnten Glanze eines Propheten. Darum segnete ihn der HErr, daß er nicht allein den Ruhm eines Propheten hat, sondern auch den

 d) eines Engels, welcher vor Christo JEsu herging, ihm den Weg zu bereiten. Ein Engel – und doch in Machärus gefangen. Ein starker Bote Gottes – einem Engel gleich an| Kraft und Treue – der gleich den Engeln gesandt war zum Dienste derer, welche die Seligkeit ererben sollen. Er that seinen Dienst, – davon hat er seinen Ruhm. Der HErr freut sich Seines Vorläufers, – die Sonne preiset den Morgenstern, der da untergeht!

 Alle menschlichen Lehrer sind wie Johannes vergänglich. Schon bei ihrem Leben findet man bei ihnen nicht immer rechten Rat und Leitung; sie sind nicht allemal bereitet, den Seelen zu dienen und haben oft mit der eignen Seele Leiden so viel zu schaffen, daß sie für andre nichts thun können. Ja, wenn sie selbst voll Glaubens und heiligen Geistes sind, können sie doch nur wenig Trost gewähren, denn in den schwersten Nöten können sie doch weiter nichts thun, als sprechen: Siehe, das ist Gottes Lamm! von sich selbst weg auf JEsum Christum weisen! Sie sind nicht Licht, aber sie zeugen vom Lichte. Darum sind sie gut, sind schöne Sterne für weise Leute, welche nach Bethlehem wollen, – aber genug können sie nicht. Fromme Lehrer sind allezeit untergehende Sterne, ihr Grundsatz ist des Täufers Grundsatz: „Er muß zunehmen, ich muß abnehmen“ – daß sie ihren Gemeinden immer entbehrlicher, aber ihrem HErrn desto unentbehrlicher werden, ist ihr Gebet, ihr Streben. Darin wollen sie treu sein. Wenn die Sterne gerne untergehen, so wollen auch sie gern untergehen, damit es Tag werde! damit JEsus selbst herrsche und dominiere in den Seelen! – Ach! wie selig kann ein Lehrer gehen, ja sterben, wenn die Seinen, ihm abgestorben, JEsu leben! wenn nicht mehr er sie erleuchten muß, sondern sie ihn in ihrem Glanze tragen! –

 O laß uns Sterne untergehen, gehe auf, o Seelensonne, in den Herzen! Du bist es, der da kommen soll, – das empfindet man, wenn einem die Sterne untergehen, – wenn man nicht mehr auf Menschen vertraut, nicht mehr um der Menschen, der Lehrer willen glaubt, wenn man den Predigern des Worts die große Freude machen kann und zu ihnen sprechen, wie jene Samariter zu dem Weibe: „Wir glauben nun fort nicht um Deiner Rede willen; wir haben selbst erkannt, daß dieser ist Christus, der Welt Heiland!“ Ja, wenn| man zu Deinen Füßen sitzt, wie Maria, Lazari Schwester, und erwählt das beste Teil, Dein Wort zu hören; wenn Deines Auges Licht in unsre Seelen dringt und Dein Mund Lebensworte redet, da kann man alle Menschen schweigen sehen, da schaut man Dich an und spricht: „Wenn ich nur Dich habe!“

 4. Ein anderer Beweis, daß JEsus Christus unsre Sonne ist, die uns verheißen war, liegt in der Antwort JEsu, welche ER dem Johannes durch seine Jünger bringen ließ. Als sie Ihn fragten: „Bist Du’s?“ sagte ER zwar nicht geradezu: „Ja, ich bin’s!“ Aber er wies die Jünger an, dem Johannes zu hinterbringen, in welcher Arbeit sie ihn getroffen hätten. ER behauptete nicht, daß ER die Sonne sei; aber ER zeigte auf Seinen Schein hin. Da die Jünger Johannis kamen, da war JEsus Christus mitten unter Armen, Kranken etc. Dies war alles im Alten Testament von dem HErrn Messias geweissagt, daß ER’s thun sollte. Das ließ ER ihm wiedersagen, dem Täufer, der mit dem Alten Testament und seinen Weissagungen wohl bekannt war, der auch bei der Erinnerung daran gewiß bald seinen Glauben wiederfand. Dazu gab ihm JEsus die freundliche Weisung: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!“ Selig bist du, Johannes, wenn du dich dadurch nicht von deinem Glauben abbringen lässest, weil ich nicht nach deinem Sinn verfahre. Halte dich an das, was du siehst und Erfüllung der Verheißungen ist. – Deine Wünsche laß dich nicht irre machen.

 Wenn nun Johannes die Wirkungen JEsu sah, so konnte er nicht mehr zweifeln, daß JEsus der Christ sei. Wenn nun wir alle Seine Strahlen empfangen können, wenn wir erkennen, daß ER eine Sonne ist, die Licht und Leben spendet, so können wir ja auch nicht zweifeln, daß ER’s ist.

 Noch jetzt gönnt JEsus Christus allen Armen das Evangelium, will allen denen, die leiblich keinen Reichtum kennen, einen geistlichen Reichtum schenken, von dem getröstet man alles andere vermissen kann. – Noch jetzt giebt ER allen Trost, wenn gleich Seiner Tröstung immer etwas Demütigendes beigemischt ist. Da ER Johannes sagen ließ: „Selig ist,| der sich nicht an mir ärgert,“ waren diese Worte für Johannes gewiß Lebenswind. Aber doch liegt ein sanfter Vorwurf darin – nämlich der, daß Johannes gezweifelt hat. – Noch jetzt straft ER hart die hartnäckigen Seelen, denn alles Lob, welches ER dem Johannes gab, war nichts weiter, als bitterer Tadel für das Volk. So geht es jedem: des HErrn Gebote und JEsu herrliches Beispiel beschämen und bestrafen uns allezeit. – Die segnenden und strafenden Wirkungen unsrer Sonne sind vorhanden – wer sehen will, kann JEsum finden. – JEsus heilte alle leiblich Lahmen und nahm auf sich ihre Krankheit. Er gab nicht bloß Licht sondern auch Kraft. So giebt ER jetzt noch den armen, müden Seelen Kraft und Stärke: nicht bloß zeigt ER die Sünde, indem er offene Augen giebt, sondern ER erlöst auch von Sünde.

 O Brüder! Ob wir Ihn mit leiblichen Augen sehen oder nicht, darauf kommt nichts an. Unserm Geiste leuchtet das Evangelium immer noch wie eine Sonne. Diese Sonne können wir fassen, auch wenn uns die irdische Sonne die dunklen Augen nicht mehr zu erleuchten vermag. Das Evangelium ist ein schöner Weihnachtsglanz, schön, wie die Herrlichkeit des HErrn, die an Weihnacht leuchtete, – wie der Stern der Weisen, der sie so hoch erfreute, ja schöner, denn im Evangelium empfangen wir das Kind JEsus in der Krippe. - Dazu giebt ER dieses Evangeliums Kraft denen, welche in Sünden kraftlos liegen und erhebt sie vom tiefen Fall. ER rüstet sie durch dasselbe mit Kräften aus, welche nicht von dieser Welt sind, und welche sie tüchtig machen, in Gottes Geboten zu laufen.

 O lasset uns zu Christo eilen und Ihm in die Arme fallen! Lasset uns unsre finstern Herzen aufdecken, lasset uns zu Ihm sprechen: Siehe, HErr, wir sind finster, kalt und trübe! Erleuchte uns, weil Du die Sonne der Welt bist! Erbarme Dich! Amen.

 So habe vor allen ich zu sprechen. Ich bin sehr arm. Weiß nicht, welch eine Schwachheit zur Arbeit mich überfallen hat, obwohl meine Seele doch zu meinem Heiland steht! Amen. O hilf vor allen Dingen mir, treuer Jesu! Amen.




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