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Autor: Ernst Eckstein
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Titel: Pariser Straßentypen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 815–818
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
zweiteilig
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[815]
Pariser Straßentypen.[1]
Von Ernst Eckstein.

Paris ist unter allen Städten des Erdbodens die revolutionärste und gleichzeitig die conservativste – revolutionär im politischen, conservativ im gesellschaftlichen Sinne. Seit dem letzten Decennium des achtzehnen Jahrhunderts haben in Paris die Staatsformen in kaleidoskopischer Buntheit gewechselt. Heute Königthum und Willkürherrschaft der privilegirten Stände; morgen die gemäßigte Republik; übermorgen der rothe Schrecken und zum Schluß der Cäsarismus, der die bedrohte Gesellschaft rettet, - das hat sich mit verschiedenen Variationen und Episoden nun schon zwei Mal vor den Augen Europas abgespielt, um allerjüngstens die bisher noch nicht dagewesene wunderliche Mischgattung eines clerikalen Freistaates zuwege zu bringen. Aber merkwürdig: so rasch die politische Physiognomie unserer westlichen Nachbarn sich wandelt, so unberührt bleibt von all diesen Aenderungen der innere Organismus der Gesellschaft, ja, selbst die Maschinerie der Verwaltung und der Apparat der Regierung. Es ist, als ob nur [816] die äußersten Spitzen des staatlichen Aufbaues unter dem Banne der Veränderlichkeit stünden; die Häupter der Executivgewalt, die Minister und allenfalls ein paar Dutzend Präfecten wechseln: im Uebrigen geht die Verwaltung ganz den gleichen Gang, ob ein Kaiser im Tulerienpalaste oder ein Präsident im Elysée Hof hält; derselbe Geschäftsgang, derselbe bureaukratische Ernst, dieselben Vorzüge und Mängel. In noch höherem Grade gilt dies von der bürgerlichen Gesellschaft. Der beste Beweis hierfür ist die Zähigkeit, mit der sich gewisse Typen inmitten des ungeheueren Strudels der Weltstadt unverändert erhalten, Korkstücken vergleichbar, die im tollsten Schaumgewirbel immer wieder an die Oberfläche emportauchen. In Beziehung auf diese Typen entwickelt Paris eine Pietät, wie sie in keiner anderen europäische Hauptstadt zu finden ist. Selbst die umfassende Neugestaltung des Straßennetzes, wie sie der kühne Seinepräfect Haußmann in Scene gesetzt hat, übte hier keine Wirkung. Gewisse Erscheinungen zogen sich nur weiter nach den äußeren Stadttheilen zurück: im Uebrigen blieb so ziemlich Alles beim Alten.

Verschiedene Straßentypen der französischen Hauptstadt enthüllen sich in ihrer Eigenart erst nach längerer Beobachtung; andere drängen sich selbst dem Blicke des Flüchtigen schon während der ersten Tage seiner Pariser Wanderungen auf. Es sei uns gestattet, aus der Zahl der letzteren eine Handvoll herauszugreifen und für die Leser der „Gartenlaube“ in kurzen Umrissen zu skizziren. Der Stift des Zeichners wird uns bei dieser Aufgabe Schritt für Schritt unterstützen.

Einer der ersten Charakterköpfe, die uns im Weichbilde der französischen Hauptstadt entgegentreten, ist der Employé de bagages, der Gepäckträger, der aus dem Perron des Bahnhofes die wuchtigen Handkarren auf und ab rollt und den Koffer des Ankömmlings nach der Droschke schafft. Der Employé de bagages gehört in die Kategorie jener Weltweisen aus dem Volke, die der unsterbliche Künstler Gavarni so meisterhaft dargestellt hat. Höflich ohne Unterwürfigkeit, diensteifrig ohne Ueberstürzung, liebt der Employé de bagages stille Momente der Selbstbetrachtung, zumal solche, die durch einen kräftigen Schluck Rothwein gewürzt sind. Für die Erscheinungswelt, die er so Tag für Tag in immer wechselnden Bildern an sich vorbei rollen sieht, hegt er eine gewisse Geringschätzung, dagegen glaubt er an die Heiligkeit des Trinkgeldes und an die Vorzüge seiner kurzen schwarz angerauchten Thonpfeife. Der Employé de bagages ist zuweilen ein alter Troupier. In diesem Falle spricht er mit der Sicherheit eines Moltke die Ueberzeugung aus, daß, wenn er und seine Kriegscameraden von 1856 bei Sedan mitgekämpft hätten, die Preußen sammt und sonders, bis auf den letzten Mann, zermalmt worden wären. Vor der Ankunft des Schnellzuges erzählt er mit Vorliebe, wie er beim Sturm auf den Malakoff einem General der Cavallerie das Leben rettete. „Wo ist denn heutzutag’ Einer in der ganzen Armee,“ fragt er am Schlusse, die Hand in die Tasche steckend, „der sich getraute, das nachzumachen? Unmittelbar vor den Laufgräben … Pah, Zidore, die gute alte Zeit kommt nicht wieder! Va!“ Und damit schiebt er den Karren vorwärts und läßt den verblüfften Zidore auf der Kiste sitzen.

Aristokratischer und bedächtiger präsentirt sich uns der Garçon de recette, der Ausläufer der Bank, der die inhaltsschwere Mappe, an metallener Kette befestigt, unter dem Arme trägt. Eine hochwichtige Persönlichkeit, eine Vertrauensperson, wenn es jemals eine gegeben hat! Das Gefühl der Verantwortlichkeit und Würde drückt sich denn auch in der ganzen Haltung und Miene aus. Der Garçon de recette hat etwas Diplomatisches und nebenbei einen Hauch von der göttlichen Indifferenz der Finanzkönige. Die Hunderttausende, die er so in seiner Mappe herumträgt, sind ihm gar nichts; er ist das gewöhnt; für den Blick des Proletariers, der mit ehrfurchtsvollem Staunen an ihm hinaufschaut, hat er nur ein mitleidiges Lächeln[WS 1]. Der Garçon de recette ist die Incarnation jenes Fabelmännchens, von welchem uns Alphonse Daudet im vierte Buche seines vortrefflichen Romans „Fromont junior und Risler senior“ erzählt. „Wer’s nicht will,“ so heißt es dort zu Anfang des ersten Capitels, „der läßt’s bleiben; ich glaube fest an den kleinen blauen Mann. Nicht als ob ich je ihn gesehen hätte, aber unter meinen Freunden ist ein Poet, zu dem ich großes Vertrauen habe, und der erzählte mir oft, wie er sich eines Nachts dem seltsamen kleinen Spukgeist gegenüber befand und auch unter welchen Umständen. Mein Freund hatte in einer schwachen Stunde seinem Schneider einen Wechsel unterzeichnet. Wie alle Leute, die etwas Phantasie besitzen, hatte er geglaubt, jene Unterschrift habe ihn der Schuld ganz entledigt. So war denn der Wechsel aus seinem Gedächtniß entschwunden. Da wurde unser Poet eines Nachts durch ein eigenthümliches, vom Kamin herkommendes Geräusch plötzlich geweckt. Zuerst glaubte er, ein erfrorener Sperling suche die warme Asche auf, oder der Wind drehe sich und zermartere bei dieser Gelegenheit die Wetterfahne. Aber bald wurde das Geräusch deutlicher, und nun unterschied er ganz scharf das Klimpern eines Geldsackes und das Rasseln, ich weiß nicht, welcher Kette. Und zugleich rief eine feine Stimme, die so scharf wie der Pfiff einer Locomotive, so hell wie der Hahnschrei vom Dache erklangt: ‚Zahltag! Zahltag!…‘ ‚Guter Gott, mein Wechsel!‘ sagte der arme Junge, dem nun plötzlich wieder einfiel, in acht Tagen sei die Schuld bei seinem Schneider verfallen. Am anderen Tage und wieder am anderen wurde er zu derselben Stunde und auf dieselbe Weise geweckt. Und je näher der Zahltag rückte, um so greller und schneidiger wurde der Ton und drohte mit Richter und Auspfändung. Wem gehörte denn nur diese gespenstige Stimme? Der Poet wollte Klarheit haben. Eines Nachts also legte er sich nicht zu Bett, sondern löschte das Licht, öffnete das Fenster und wartete. Endlich gegen zwei oder drei Uhr Morgens lief ein leichter Schritt über Ziegel- und Schieferdächer, und eine feine, grelle Stimme schrie wiederum durch den Schornstein: ‚Zahltag! Zahltag!‘ Da bemerkte mein Poet, als er sich ein wenig vornüber neigte, den abscheulichen kleinen Kobold. Er sah, daß jenes seltsame Teufelchen gekleidet war wie ein Ausläufer der Pariser Bank, mit blauem Rock und albernen Knöpfen, Claquehut und galonnirten Aermeln. Unter dem Arme aber trug er eine lederne Tasche, die fast so groß wie er selbst war. Und an der Tasche hing ein Schlüssel und eine lange Kette, die bei jedem Schritte wahnsinnig klirrte.“

Wie viele Leute giebt’s in Paris, denen der Garçon de recette unter dem gleichen Gesichtswinkel erscheint! Leute, die, um nochmals mit Alphonse Daudet zu reden, eine Anweisung unterzeichnet oder quer über einen Wechsel das Wort „Angenommen“ geschrieben haben. Der Fremde, der den Garçon de recette so über die Asphaltplatten wandelt sieht, ahnt nicht, welche Dämonen in dieser ehrwürdig dreinschauenden Mappe lauern.

Minder pathetisch, aber für das Publicum zehnmal wichtiger, als dieser blaue Mann, ist der grüne, der Facteur, zu Deutsch: der Briefträger. Man begegnet ihm zu allen Tageszeiten auf Schritt und Tritt, dem stets geschäftigen, stets höflichen Vermittler jener ungeheuren Correspondenz, die aus allen Gegenden der Windrose nach der französischen Hauptstadt zusammenschwirrt. In schwarzen Kästen, die nach Art unserer Drehorgeln an Lederriemen getragen werden, birgt der Facteur seine stattliche Ladung und wandelt von einer Portierloge nach der andern. Dem Portier – französisch: – concierge – liegt es ob, die Briefe auf die einzelnen Stockwerke zu verteilen und an ihre Adressen zu befördern. Nur bei Werthsendungen ist der Facteur genöthigt, selber die Treppen zu klimmen. Sein Beruf ist also minder anstrengend, als der unserer deutschen Briefträger, die oft um einer einzigen Kreuzbandsendung willen bis unter das Dach steigen müssen. Freilich hat der französische Modus andere Uebelstände zur Folge: Unregelmäßigkeiten, Verspätungen und Veruntreuungen seitens des Concierge. Wie oft kommt es vor, zumal in einer concurrenzstrotzenden, lebensgierigen, eifersüchtigen Weltstadt, daß eine dritte Person das Gelüste verspürt, widerrechtliche Einblicke in fremde Correspondenzen zu werfen! Der Concierge ist gegen derartige Wünsche, wenn sie durch Zwanzig-Franken-Stücke unterstützt werden, nicht immer so unempfindlich, wie dies im Interesse der öffentlichen Moral zu wünschen wäre.

Der Facteur ist zuverlässig, ehrlich, gewissenhaft. Er giebt seine Briefe nur an den beglaubigte Portier oder dessen Vertreter, niemals aber an neugierige Insassen des Hauses, an naseweise Bedienten oder impertinente Zöfchen ab; es müßte denn sein, daß ein solcher Brief direct an das impertinente Zöfchen adressirt wäre. In diesem Falle spielt der Facteur mit Vorliebe den Galanten, Schalkhaften oder gar Neckischen. Er geizt sich eine Minute seiner kostbaren Zeit ab, um dem schönen Kinde das sehnlichst erwartete Billet-doux eine Weile vorenthalten oder [817]

Pariser Straßentypen. Originalskizzen von H. Vogel.

Ausläufer der Bank. Stiefelputzer.
Gepäckträger. Briefträger.

[818] sonst mit ihr schäkern zu können. In gewissen Fällen wagt er sogar ein kleines Lösegeld in Gestalt eines zärtlichen Blickes oder eines Kusses zu beanspruchen. Der Facteur ist eben, wie der Zipfelschneider in Schaumberger’s Musikantengeschichten, „ein Mann, der in die Welt paßt“.

Vornehmlich in den belebteren Stadttheilen, im Palais Royal, auf den Boulevards, in den Passagen begegnen wir der bescheidenen Gestalt des Pariser Schuhputzers (décrotteur), einer etwas gedrücktem Abart des italienische Wichsiers, der uns namentlich auf der Piazza di San Marco und auf der Riva degli Schiavoni so unabweislich mit seinen Anträgen überhäuft. Der fränzösische Décrotteur ist minder zudringlich, minder genügsam und lebensfroh, aber von größerer Virtuosität in der Handhabung seiner Bürste. Rasch, mit drei geschickten Griffen, wie die Klinge des Schiller’schen „Nadowessiers“ den Feind scalpirte, verwandelt er das staubigste Oberleder in spiegelnde Glätte. Seine Bewegungen sind heftig, energisch; er wichst in das Schuhwerk, das er bearbeitet, gleichsam den Drang noch einer höheren Lebensstellung hinein, den Wunsch, sich etabliren und ein Stiefelputzlocal im Großen eröffnen zu können, wo das Publicum von den Untergebenen des Wichschefs gleich colonnenweise bedient wird. Ach, so wenig Träume gehen unter dem trügerischen Himmel von Paris in Erfüllung! Und so findet denn auch der Pariser Stiefelputzer aus den Gründen des nebelgedrückten Thales nur selten den Ausgang.

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Autor: Ernst Eckstein
Titel: Pariser Straßentypen
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 52, S. 863–866
Teil 2

[863] Unbekannt mit den Stimmungen, die wir in Nr. 49 gezeichnet haben, ist der Porteur de farine der Mehlträger, der sein Mehl und die Glanzlosigkeit seines Daseins mit horazischer Gleichmüthigkeit trägt und keine Bedürfnisse kennt, als eine dampfende Kohlsuppe mit Speck und ab und zu einen Schluck vor der Zinkplatte des Weinverzapfers. Der Porteur de farine ist eine grobknochige, bäuerische, wenig intelligente Erscheinung. Dafür glänzt er durch einen unverkennbaren Ausdruck von Gutmüthigkeit und seelischer Harmonie. Eigenthümlich ist ihm der gigantische hellgraue Filzhut, der fast an die Kopfbedeckung spanischer Geistlicher anklingt. Beugt er den Kopf vor, so stellt dieser Filzhut gleichsam eine Verlängerung des Rückens dar. In der That schleppt der Porteur de farine seine wuchtigen Mehlsäcke mit Kopf und Schultern, ein Atlas im Dienste der großstädtischen Ernährung.

Der Mehlträger spricht in der Regel einen ziemlich unpariserisch klingenden Dialekt. Dabei ist er ein Meister des kraft- und stoffgewürzten Wetterns und Fluchens.

Wie artig und gentlemanlike führt sich dagegen der Garçon de café, der Kellner des Kaffeehauses, bei seinen Gästen ein! Jede Bewegung ist bon ton Discretion, Tact, seine Zurückhaltung. Er servirt uns die halbe Tasse, etwa wie ein junger Poet seiner Angebeteten ein Sonett überreicht. In der graziösen Stellung eines Finanzministers, der seinem Könige Vortrag hält, wartet er, bis wir die carte du jour studirt und die Gerichte für unser Diner gewählt haben. Sind wir Stammgäste, so macht er uns auf die Vorzüge von sole au gratin oder auf die Hechtpastete besonders aufmerksam. Für diese Liebenswürdigkeit erwartet er beim Schluß unserer Tafelgenüsse eine Verdoppelung des üblichen Trinkgeldes.

Wenn irgend Jemand im Stande wäre, eine authentische Chronik seines Jahrhunderts zu schreiben, so ist dies der Garçon de café. In der Maison dorée, bei Tortoni, bei Béfour, bei Brébant verkehrt so zu sagen die ganze Weltgeschichte. Gar manche große Dame von unberechenbarem Einfluß auf die Pariser Gesellschaft hat hier in verschwiegener Stille soupirt, mit dem Grafen X. oder dem Herzog von Z., der ein ganz vortrefflicher Mann, aber zum Leidwesen der Ethik nur nicht der ihrige war. Der Garçon de café sieht das Alles und weiß das Alles. Kein Schleier ist ihm zu dicht, kein Geheimniß zu unergründlich; aber er lächelt nur ganz flüchtig und verstohlen mit den diplomatisch geschnittenen Mundwinkeln, bringt die kalten getrüffelten Hühner, entkorkt die staubigen Pomardflaschen oder den für solche Soupers unvermeidlichen Schaumwein – und schweigt.

Auch mit dem Omnibusconducteur und seinem Vorgesetzten, dem Inspecteur macht der Fremde, der sich einigermaßen zu orientiren weiß, schon nach kurzer Frist nähere Bekanntschaft, zumal wenn die Droschkenkutscher die unerhörte Thorheit begehen, zur Zeit der allgemeinsten Nachfrage zu streiken. Der Omnibusconducteur trägt eine dunkelblaue Uniform, ein Käppi (képi), eine Geldtasche und verschiedene Bücher und Listen. Bei dem Inspector nähert sich diese Uniform etwas mehr dem üblichen Gesellschaftsanzug. Insbesondere ist die kurze Jacke des Conducteurs mit dem Rock vertauscht. Die meisten Omnibusconducteure von Paris haben eine gewisse Familienähnlichkeit; sie erinnern an die Soldatentypen des „Journal amusant“; nur daß der Pionpion – so heißt der Infanterist im französischen Volksmunde – etwas weniger Intelligenz beurkundet. Der Omnibusconducteur ist durch einen Paragraphen des Reglements ausdrücklich zur Galanterie angehalten. Damen und älteren Personen muß er beim Ein- und Aussteigen in discreter Weise behülflich sein. Die fortwährende Ausübung dieser schönen Pflicht verleiht seinem Wesen jenen Hauch wahrer Humanität, den man sonst auch bei Lootsen und Feuerwehrleuten bemerkt.

Im Dienste der Humanität stehen auch die Barmherzigen Schwestern (Soeurs de charité), schlichte Gestalten in großmächtigen Flügelhauben, deren schneeige Zipfel man gar häufig wie ungeheure Schmetterlinge durch das Gedränge der Großstadt einherflattern sieht. Diese Soeurs de charité bilden ihrer äußerlichen Physiognomie nach gewissermaßen ein Pendant zu den Mehlträgern. Eine staubgraue Biederkeit liegt über den keuschen Gewändern. Ist die Soeur de charité hübsch oder gar schön, so gewährt ihr Anblick etwas ungemein Rührendes, ist sie häßlich – und sie ist es nur allzu oft – so nimmt man doch den Eindruck des Ehrbaren und tugendhaften mit hinweg, und das will auf den großen Boulevards, wo so viele sociale Mißgestalten umher wandeln, immer etwas besagen.

Nicht ganz so streng nach den Geboten der Kirche, wie die Barmherzige Schwester, lebt der Pariser Student und seine übermüthige Gefährtin, Grisette geheißen. Die eigentliche Grisette – so betitelt nach dem gleichnamigen grauen Wollstoff, der ehedem bei den Pariser Arbeiterinnen sehr beliebt war – gehört zu den wenigen Typen der französischen Hauptstadt, die von Tag zu Tag seltener werden. Die Grisette von Ehedem war nicht schlimmer als Hunderte unserer deutschen Putzmacherinnen und sonstigen Kleinbürgermädchen, die in der Woche tüchtig und ehrlich arbeiten und des Sonntags einen „Schatz“ haben, mit dem sie in’s Grüne fahren oder zum Tanz gehen. Die Grisette, wie sie uns Henri Murger schildert, war das einfachste, schlichteste, harmloseste, uneigennützigste Geschöpf von der Welt. Ein Blumenstrauß oder, wenn’s hoch kam, eine Schleife für das reiche, nußbraune Haar machte sie überglücklich. Ja, es sind Fälle bekannt, in denen eine solche Grisette die großartigsten Züge von Selbstverleugnung und Aufopferungsfähigkeit an den Tag legte. Uebermuth und Leichtsinn waren ihre einzigen Fehler. Die strenge Moral, die zu dem Urtheil geneigt ist, diese beiden Fehler seien gerade genug, um ein Mädchen verächtlich zu machen, diese Moral wird, um gerecht zu sein, immerhin den großen Unterschied zwischen der Lebensauffassung des französischen Volkes und der des deutschen berücksichtigen müssen. Der Franzose denkt über gewisse Dinge freier und gleichmüthiger als wir, ganze Culturepochen haben ähnlich gedacht, wir sind also nicht befugt, an das Individuum einer fremden Nationalität den Maßstab unserer subjectiven Meinung zu legen. Unsere jungen Wittwen, die sich nach Ablauf des Trauerjahres höchst vergnüglich zum zweiten Male verheirathen, erscheinen dem Inder als der Ausbund sittenloser Entartung, und wer weiß, ob die wahre Ethik für diese Auffassung nicht mehr Anhaltspunkte darböte, als für Manches, was der gebildete Europäer moralwidrig findet. Kurz, die Grisette von Einst war just keine Heilige, aber doch nach französischen Begriffen ein ganz reputirliches Frauenzimmer. Leider gehören solche Exemplare neuerdings zu den Ausnahmen; aber sie sind keineswegs, wie die Boulevardsblätter behaupten, vollständig ausgestorben. Noch jetzt begegnet man der seltenen Species in der Rue de Buci und im Jardin du Luxembourg, wie sie lustig am Arm ihres flotten Ritters einherschreitet, frisch, blühend, einfach aber geschmackvoll gekleidet, und von unverwüstlicher Heiterkeit.

Gehört die Grisette zu den types qui s’en vont, wie der Franzose sagt, zu den Typen, die allmählich verschwinden, so erhalten sich zwei andere Erscheinungen des Pariser Straßenpflasters, der Marchand de coco und die Plaisir-Verkäuferin, mit unausrottbarer Zähigkeit.

Der Marchand de coco verkauft eine Art Süßholzwasser, das er in einem seltsam ausstaffirten Blechapparat auf dem Rücken trägt und aus einer Röhre zapft, die unter seinem Arm hervorgeht. An heißen Tagen hört man unaufhörlich sein monotones Geklingel, durch das er die Vorübergehenden zum Genuß des kühlenden, für unseren Geschmack aber höchst widerwärtigen Trankes einladet.

Die Plaisir-Verkäuferin bietet in einer großen Blechkapsel ein oblatenartiges Gebäck, „Plaisir“, feil. Wie der Cocohändler durch die Schelle, so macht sie sich durch eine hölzerne Klapper und durch ein ohrenzerreißendes Plärren bemerklich.„Voilà l’plaisir, Mesdames, ré-ga-lez-vous, Mesdames! Voilà le plaisiiiir!“ So tönt es unaufhörlich von den runzligen Lippen. Die Plaisir-Verkäuferin ist nämlich stets alt und häßlich. Die unschöne Kleidung und der schleppende Gang steigert den unerquicklichen Eindruck. Nur Eine kannte ich, die etwas Majestätisches [864]

Pariser Straßentypen. Originalskizzen von H. Vogel.

Mehlträger. Im Kaffeehause. Straßenjungen. Student und Grisette.
Omnibuspersonal. Barmherzige Schwestern. Coco-Zapfer und Plaisir-Verkäuferin. Lumpensammler.

[866] hatte, das Hünenweib vom Boulevard Saint-Michel; wenn diese unvergleichliche Dame klappernd und schreiend am Luxembourg-Garten vorüberwallte, so klirrte das Gitter.

Auch der Pariser Straßenjunge ist typisch. Unbekümmert um den Lärm und das Gedränge der Passanten betreibt er sein dolce far niente, wo immer sich eine Rampe oder ein Prellstein oder eine öffentliche Bank ihm darbietet. Läßt sich auf dem Trottoir der minder belebten Straßen der nöthige Raum erobern, so improvisirt er sein Lieblingsspiel: er wirft mit Soustücken nach einem gleichfalls durch Soustücke markirten Ziel, und bestrebt sich, den Mitspielern die Wurfgeschosse abzugewinnen. Neidisch und sehnsüchtig blickt der Laufbursche des Pâissiers, der mit seinen Kuchen- und Confecttrommeln vorüberkömmt, auf diesen köstlichen Zeitvertreib. Wehmüthig gönnt sich der Setzerjunge einen Augenblick Rast, um einen „Gang“ des interessanten Spiels zu beobachten. Beide können von Glück sagen, wenn sie zu all ihrer Wehmut nicht obendrein gehöhnt, geneckt oder gar mit Ohrfeigen regalirt werden. Aus dem Pariser Straßenjungen, diesem kecken, gescheiten, aber nur allzu oft nichtsnutzigen Bengel, entwickelt sich im Lauf der Jahre die „weiße Blouse“, die in politisch aufgeregten Zeiten haufenweise über die Boulevards schreitet und „A Berlin!“ brüllt. Auch der gerechte und vollkommene Petroleux war in der Regel ein ausgezeichneter Souwerfer.

Zum Schluß eine düstere Nachtgestalt. Wenn die Sonne längst hinter dem Arc de triomphe zur Ruhe gegangen, wenn das großstädtische Leben merklich zu ebben beginnt, dann kriecht aus seinen Winkeln in der Rue Saint Jacques und dem Quartier Mouffetard der Lumpensammler, chiffonnier auf dem Rücken den mächtigen Korb, in der Hand den Stock mit dem Haken, vermittelst dessen er aus den Kehrichthaufen, die man Abends aus allen Häusern auf den Straßendamm schüttet, die irgend verwendbaren Fetzen und Lappen mit wunderbarer Gewandtheit über die Achsel in den großen Behälter schleudert. Der Lumpensammler und die Lumpensammlerin – denn auch eine große Anzahl von Frauen liegt diesem Berufe ob – gewähren äußerlich ein unerfreuliches, mitleiderweckendes Bild, aber man täuscht sich, wenn man den Chiffonnier für einen besonders schwer überlasteten Dulder hält. Es giebt Chiffonniers, die während der drei oder vier Stunden ihrer Berufsthätigkeit vier bis fünf Franken verdienen, das heißt also genau ebenso viel, wie mancher fleißige Arbeiter während des Tages. Da der Chiffonnier überdies nicht zu repräsentiren braucht, sondern in Lumpen läuft, so kann er von dem Ertrag seiner Arbeit manchen klingenden Sou für den „Luxus“ verwenden. In der That giebt es unweit der Barriere eigene Bälle für Lumpensammler, wo es hoch hergehen soll bei Cognac und kräftigem Macon. Hier wie in der moralischen Welt besteht die alte Wahrheit zu Rechte: wer sich nicht scheut, seinen Unterhalt im Kehricht zu suchen, der kommt häufig besser fort als der „Vorurtheilsvolle“, der auf Ehre und Anstand hält. Jeder nach seinem Geschmack!

  1. Bei der nahen Berührung, in welche viele unserer Leser gelegentlich der jüngsten Weltausstellung mit der französischen Hauptstadt und ihren Bewohnern gekommen sind, dürfte der obige Artikel als eine Reminiscenz an die Tage der Ausstellung nicht unwillkommen sein.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Läches